PresseBLICK-Rezensionen | Politik, Zeitgeschehen |
In der SPD besinnt man sich wieder auf die Kraft von Visionen. Die neue Tonart gab unlängst Oskar Lafontaine an, als er auf dem Mannheimer Parteitag an die angebliche Verheißung im Text der "Internationale" erinnerte: "Alle Menschen werden Brüder...". Für die Kenner sozialdemokratischen Liedguts hatte Lafontaine damit gleich zweifach einen Bock geschossen: Zum einen berief er sich auf ein Kampflied der Arbeiterbewegung, das die Sozialdemokraten nach dem Zerfall der zweiten Internationale weitgehend den Sangesbrüdern von der neuentstandenen kommunistischen Internationale überlassen hatten. Zum anderen schien er den Text des klassenkämpferischen Oldies gar nicht so genau zu kennen, denn das angebliche Zitat entstammte in Wirklichkeit Schillers Ode "An die Freude", die Beethoven im Schlußchor seiner neunten Sinfonie verarbeitet hat. Die Verwechslung tat der Begeisterung der Delegierten aber keinen Abbruch: Lafontaine erntete stürmischen Beifall und wurde völlig überraschend anstelle des farb- und glücklosen Rudolf Scharping zum neuen Parteivorsitzenden gewählt.
Ähnliche Aufbruch-Stimmung möchte auch das vorliegende Buch des SPD-Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer vermitteln. Sein Titel "Zurück zur Politik" ist so zu verstehen, daß die deutsche Politik im allgemeinen, vor allem aber die Sozialdemokratie, wieder zurückfinden müssen zum Primat der Politik, anstatt sich in kurzsichtigem Pragmatismus zu üben und vermeintlichen "Sachzwängen" zu folgen. Entsprechend ist die "archimedische Wende gegen den Zerfall der Demokratie", die der Untertitel beschwört, zugleich und vor allem als Rezept gegen die augenfällige Krise der Sozialdemokratie zu verstehen.
Scheer wird dem linken Flügel der SPD zugerechnet. In der Öffentlichkeit kennt man ihn vor allem als Präsidenten der Vereinigung "Eurosolar", der in regelmäßigen Abständen eine solare Energiewende fordert. Fachleute der Energiewirtschaft wundern sich genauso regelmäßig, wie er das beim gegenwärtigen Stand der Solartechnik zu bewerkstelligen gedenkt. Aber da gehen wohl beide von verschiedenen Sichtweisen aus: Scheer ist nun mal überzeugt davon, daß die solare Energiewende weniger eine Frage der Technik und Wirtschaftlichkeit als der grundsätzlichen politischen Weichenstellung sei. Das vorliegende Buch hilft denjenigen, die bisher bei Verlautbarungen des Eurosolar-Präsidenten nur ratlos den Kopf schütteln können, diesen primär politischen Ansatz besser zu verstehen. Es wirft zugleich ein Schlaglicht auf die Bemühungen innerhalb der Partei, die SPD wieder zu einer politisch gestaltenden Kraft zu machen.
Die parteiinterne Debatte über die Ursachen der Misere erschöpfte sich bisher im wesentlichen in Schuldzuweisungen der einzelnen Flügel, man habe diese oder jene Klientel verprellt oder bestimmte soziale Entwicklungen verschlafen (siehe PB 3/95). Die Grundlinie des vom einstigen Bundesgeschäftsführer Peter Glotz formulierten Selbstverständnisses, daß die SPD wie ein "Schwamm" alle Meinungen und Anregungen aus der Gesellschaft aufsaugen müsse, wurde aber kaum in Frage gestellt. Für Scheer liegt dagegen in diesem Konsensbedürfnis die Wurzel des Übels: "Die Menschen wählen lieber die Vertreter einer klaren politischen Richtung als die Moderatoren zwischen verschiedenen Richtungen" schreibt er. Das Konsensbedürfnis sei "Ausdruck der eigenen Identitäts- beziehungsweise Zieleschwäche." Weder das "New Deal"-Programm Roosevelts noch die Ostpolitik Brandts hätten bei einer solchen Haltung reüssieren können.
Den SPD-Linken Scheer treibt sichtlich die Frage um, weshalb die SPD ausgerechnet in einer Zeit anhaltender Massenarbeitslosigkeit, sinkender Realeinkommen und sozialen Abbaues so wenig Anklang findet. Wenn man bedenkt, daß in der ersten größeren Rezession der Nachkriegszeit schon 800 000 Arbeitslose genügten, um große Teile der jungen Generation den Aufstand gegen das "Establishment" proben zu lassen und der sozialliberalen Koalition in Bonn zum Durchbruch zu verhelfen, ist diese Frage nur berechtigt. Schließlich gibt es heute in Deutschland annähernd vier Millionen registrierte Arbeitslose, ohne daß die Oppositionsparteien davon bislang in nennenswerter Weise profitieren können. Hinzu kommt, daß sich die Regierungskoalition auch nicht gerade in einer prächtigen Verfassung befindet. Es liegt also wohl eher am maroden Zustand der Opposition, wenn die gewohnten Mechanismen des politischen Machtwechsels nicht mehr zu funktionieren scheinen.
Zusätzlich muß die Sozialdemokraten deprimieren, daß in den ehemals kommunistischen Staaten ausgerechnet die Nachfolgeparteien des alten Systems die größten Wahlerfolge erzielen. So hat die Erwartung getäuscht, daß der Zusammenbruch des SED-Regimes östlich der Elbe eine Vielzahl prädestinierter SPD-Wähler freisetzen werde. Statt dessen hat die Mehrheit der Ostdeutschen ziemlich eindeutig für Helmut Kohl und die Bonner Koalition votiert. Dies konnte vielleicht noch mit der anfänglichen Vereinigungs-Euphorie erklärt werden. Daß aber der aufkeimende Frust der "Ossis" dann vor allem der PDS zugutekam und dieser in freien Wahlen zu einer Legitimation verhalf, von der die alte SED nur träumen konnte, hat nicht nur die SPD schockiert.
Scheer folgert daraus, daß die SPD einen programmatischen Schwenk vollführen muß, um von den Wählern wieder verstärkt als Alternative wahrgenommen zu werden. Diese Alternative liegt für ihn nicht im alten Rezept des Keynesianismus, mit dem Karl Schiller ("Die Pferde müssen wieder saufen") einst Konjunktur und Beschäftigung wieder hochbrachte. Sie liegt für ihn noch weniger darin, dem neoliberalen Zeitgeist zu huldigen, indem sich die SPD quasi als bessere CDU darstellt. Er sieht die Alternative vielmehr in einer grundsätzlichen Kurskorrektur, die neben der Sicherung von Umwelt und Ressourcen wieder stärker die Sozialbindung des Eigentums betont und das international vagabundierende Kapital mehr in die nationale Verantwortung zu nehmen verspricht.
Scheer hält nichts von der verbreiteten Ansicht, daß der politische Gegensatz zwischen rechts und links so gut wie hinfällig geworden sei. Es sei lediglich notwendig, diesen Gegensatz neu zu definieren, "damit wir politische Grundkonflikte wieder besser verstehen und Perspektiven wieder klarer sehen können". Zur Rechten gehören für ihn die "Skinheads in Nadelstreifen", die in kurzsichtigem Profitinteresse die natürlichen Lebensgrundlagen zerstörten. Zur Linken dürfen sich alle rechnen, die Kants kategorischen Imperativ unterschreiben: "Handle so, daß die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte."
Die neue Linke, wie sie Scheer versteht, berührt sich in Wirklichkeit allerdings weniger mit Kant als mit einer recht aktuellen geistigen Strömung: dem amerikanischen "Kommunitarismus" (siehe PB 9/94). Zustimmend zitiert Scheer den Kommunitaristen-Vordenker Robert N. Bellah mit der Prophezeiung, daß die westliche Gesellschaft ohne eine Erneuerung von Bindungen und Gemeinschaftssinn in der Selbstzerstörung enden werde. Der Kommunitarismus verdankt sich seinerseits nicht zuletzt dem Schock, den der Hollywood-Schauspieler Reagan in seiner Rolle als Präsident bei Teilen der US-Elite hinterlassen hat. Er ist eine Reaktion auf das Vordringen des Neoliberalismus, der an die alleinseligmachenden Kräfte des Marktes glaubt und den Staat als Sachwalter des Gemeinwohls so weit wie nur möglich zurückdrängen möchte.
Um den Blick wieder über den Tellerrand der Egoismen hinaus richten zu können, muß auch für Scheer vor allem der Neoliberalismus überwunden werden. Die Ideologie einer sozial ungebremsten Marktwirtschaft habe nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme eine verhängnisvolle Akzeptanz gefunden, obwohl ihre verheerenden Folgen sowohl in Südamerika ("Austerity"-Kurs) als auch in den USA ("Reaganomics") und in Großbritannien ("Thatcherismus") längst unübersehbar seien. Der Neoliberalismus gebärde sich als siegreicher Kontrahent des östlichen Systems, während er in Wirklichkeit dabei sei, die westlichen Gesellschaften in ähnlicher Weise zu zerrütten und zugrunde zu richten. Er beschwöre vordergründig die freie Marktwirtschaft, während er tatsächlich auf die Entstehung von umfassend organisierten internationalen Wirtschaftskartellen hinauslaufe und damit die freie Marktwirtschaft untergrabe. Er mißbrauche die Hoffnung von Millionen Menschen, wenigstens das Erreichte bewahren zu können, indem sie sich auf eine wirtschaftspolitische Roßkur à la Reagan oder Thatcher einlassen. Tatsächlich führe die neoliberale Doktrin aber langfristig in den Ruin, und ihr Versprechen einer neuen Stabilität nach Überwindung einer notwendigen Durststrecke sei verlogen. Last but not least erzeuge sie ein gefährliches "Radikalisierungspotential", weil ihre Widersprüche und desaströsen Folgen von den Betroffenen nicht rechtzeitig und klar genug durchschaut würden.
Der Neoliberalismus sei nicht nur wirtschaftlich ein verhängnisvolles Rezept, sondern führe auch kulturell und moralisch in den Abgrund. Er begünstige von seiner ganzen Denkweise her eine neue Barbarei: Etwa Exzesse wie in Brasilien, wo staatlich ausgehaltene "Todesschwadronen" streunende Kinder vor Luxushotels ermorden oder Gewerkschafter zu Tode foltern. Die Keimlinge der neuen Barbarei seien längst auch in den "westlichen Festungen" wirksam - erkennbar etwa an der Zunahme der organisierten Kriminalität oder am Umsichgreifen von Sekten und ähnlichen "pervertierten Gemeinschaftsformen".
Die Rückkehr zur Politik schließt für Scheer die Abkehr vom Leitbild globalen Freihandels mit ein. Es dürfe nicht weiter hingenommen werden, daß z.B. deutsche Unternehmen Arbeitsplätze in Billiglohnländer verlagern, um dort ihre Produkte unter frühkapitalistischen Bedingungen herstellen zu lassen. Zumindest müßten die so erzielten Kostenvorteile durch entsprechende Zölle kompensiert werden, falls diese Produkte in Deutschland auf den Markt gebracht werden. Ein solcher "neuer Protektionismus" sei notwendig, um den hierzulande erreichten Stand in punkto Lohnhöhe, Arbeitsbedingungen, Umweltschutz und sonstiger Lebensqualität zu sichern. Die Staaten der Europäischen Union seien gemeinsam stark genug, um das derzeit gültige Welthandelsabkommen unverzüglich zu sprengen.
Im Bereich der Energiepolitik möchte Scheer vor allem eine Energiesteuer einführen, deren Einnahmen für die Senkung der Krankenversicherungsbeiträge verwendet werden und so den Verbrauchern als "ökologische Klima- und Gesundheitsschutzversicherung" zugute kommen. Erneuerbare Energien sollen gegenüber Kernkraft und fossilen Energieträgern bevorzugt werden. Die Strom- und Gasversorgung will er entflechten in solche Unternehmen, die nur die Netze betreiben, und in solche, die Strom und Gas liefern. Die Netze sollen in öffentliches Eigentum überführt werden.
So sieht also in groben Zügen die "archimedische Wende" aus, die Scheer anstrebt. Unabhängig vom Inhalt ist der Begriff eine fragwürdige Konstruktion: Scheer begründet ihn mit dem archimedischen Prinzip, wonach ein Körper durch die Verdrängung von Flüssigkeit einen entsprechenden Auftrieb erfährt. Da, wo dieser Auftrieb ansetze, sprächen die Physiker vom "archimedischen Punkt". Solche archimedischen Auftriebs-Punkte ließen sich auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausfindig machen. Ihre erfolgreiche Anwendung bewirke dann die erwähnte "archimedische Wende". - Das klingt alles ziemlich umständlich, und man wird den Verdacht nicht los, daß Scheer mit seiner eigenwilligen Wortschöpfung in Wirklichkeit auf die Bekanntheit von zwei anderen Begriffen spekuliert: Der erste ist der sprichwörtliche "archimedische Punkt" der Legende, wonach sich Archimedes anheischig gemacht haben soll, die Welt durch Anwendung des Hebelgesetzes aus den Angeln zu heben, sofern man ihm außerhalb der Erde einen festen Punkt nennen könne. Der zweite ist die "kopernikanische Wende" unseres Weltbilds, welche die Erde vom Mittelpunkt der Schöpfung zu einem Planeten der Sonne machte. Beide Begriffe strotzen vor bedeutungsschweren Assoziationen, lassen sich aber logisch schlecht verbinden, zumal die "archimedische Wende" dann ohnehin nur zu einer Fiktion geriete. Wie man sieht, findet Scheer aber doch den festen Punkt, um alle logischen Hindernisse auszuhebeln...
Das meiste von dem, was Scheer anführt, läßt sich woanders ausführlicher und besser nachlesen, von der grundsätzlichen Kritik am Neoliberalismus (vgl. PB 9/94) bis zu den Vorstellungen über eine Neuordnung der Energiewirtschaft (vgl. PB 7/95). Allerdings ist es nicht Aufgabe eines Politikers, tiefschürfende Gesellschaftskritik zu leisten. Sein Job besteht vielmehr darin, solche Kritik und ihre Azeptanz beim Publikum in politische Handlungsmöglichkeiten umzusetzen. Er muß sozusagen im gesellschaftlichen Umfeld nach "archimedischen Punkten" suchen, die ihm und seiner Partei Auftrieb verleihen. Und da kann Scheer mit seinem Buch zufrieden sein: Den Intellektuellen wird es imponieren, weil es trotz aller Schwächen noch immer das überragt, was deutsche Politiker üblicherweise in Buchform von sich geben bzw. von dienstbaren Geistern schreiben lassen (vgl. PB 5/94). Es trifft aber auch eine wachsende Grundstimmung im Lande, derzufolge die neoliberalen Rezepte allenfalls kurzfristig den Unternehmergewinnen aufhelfen, während Arbeitsplätze, Umwelt und soziale Sicherheit kurz- wie langfristig auf der Strecke bleiben. Die Propagierung eines sozialökologischen "New Deal" könnte sich unter diesen Umständen für die Oppositionsparteien - und nicht nur für diese - zu einer zugkräftigen Versprechung entwickeln.
(PB 12/95/*leu)