Psychologie

Das Leib-Seele-Problem

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Die Säkularisierung der Seele

Der Zerfall des religiösen Weltbilds war die Voraussetzung jeder Psychologie

Die meisten Illusionen über die Psychologie als Wissenschaft beginnen schon mit dem Begriff der "Seele" bzw. "Psyche". Daß Psychologie die Wissenschaft von der Seele sei, ist zwar begrifflich korrekt, aber dennoch mißverständlich. In der landläufigen Bedeutung des Begriffs "Seele" schwingt nämlich weitaus mehr mit, als eine wissenschaftliche Definition zu decken vermag. In ihm vermengen sich eine Vielzahl philosophischer, religiöser, mystischer Vorstellungen. Diese Befrachtung des Begriffs führt zu überspannten Erwartungen gegenüber der Psychologie. Sie soll dem wissenschaftsgläubigen Zeitgenossen im Grunde alle jene Hoffnungen erfüllen, die ihre Vorläufer - Philosophie, Theologie oder Magie - schuldig geblieben sind. Sie soll Grundfragen der menschlichen Existenz beantworten, die sie einfach nicht beantworten kann, wenn sie nicht in den Schoß der Philosophie zurückkehren möchte, dem sie vor nicht viel mehr als hundert Jahren entsprungen ist.

Überspannte Erwartungen gegenüber der Psychologie

Selbst für viele, wenn nicht die meisten Studenten der Psychologie besteht die größte Enttäuschung im Verlaufe ihres Studiums in der Einsicht, daß ihnen ihr Studienfach nicht oder nur sehr wenig bei der Bewältigung persönlicher psychischer Schwierigkeiten behilflich ist. Professoren und Dozenten haben für solche Erwartungen ohnhin nur ein mildes Lächeln. Sie verweisen die Studienanfänger darauf, daß Psychologie eine auf Experiment und Mathematik gegründete Wissenschaft sei, die mit "innerer Nabelschau" oder dem vermuteten "Röntgenblick des Psychologen" überhaupt nichts gemein habe. Sie behandeln den Studienanfänger wie einen Erstkläßler, dem die Zuckertüte abgenommen wird, auf daß der Ernst des Lehrbetriebs beginnen möge.

Der Grund für diese überspannten Erwartungen gegenüber der Psychologie liegt in der Befrachtung des "Seele"-Begriffs mit impliziten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die unreflektiert bleiben: "Seele" steht diesem Verständnis nach für das angebliche Vorhandensein einer Substanz, die von der vermeintlich unbeseelten Dingwelt der Materie unabhängig, ja ihr sogar entgegengesetzt ist. Dieses Verständnis wurzelt, aller Aufklärung und Wissenschaft zum Trotz, sozusagen naturwüchsig im religiösen Weltbild des Mittelalters, das seinerseits auf noch älteren philosophischen und religiösen Vorstellungen fußt. Vor allem die Philosophie Platons (427-347 v. Chr.) und seines Schülers Aristoteles (384-322 v. Chr.) haben über die mittelalterliche Scholastik zur Vorstellung einer von der Materie unabhängigen oder diese sogar formenden geistigen Kraft geführt.

Für den mittelalterlichen Menschen konnten göttliche Macht oder teuflische Magie jederzeit in den Alltag eingreifen. Damit war die Welt der Materie gleichermaßen spirituell durchhaucht wie die spirituellen Kräfte in materieller Gestalt gedacht wurden. Der Gegensatz von Leib und Seele war für den mittelalterlichen Menschen vor allem der Gegensatz zwischen Fleisch und Geist, zwischen der Macht des Teufels und den Geboten Gottes, wobei beide Mächte als genauso leibhaftig begriffen wurden wie die real existierende Welt.

In einer solchen Welt, in der Wahn und Wirklichkeit für den darin lebenden Menschen fast eins waren, konnte es keine Psychologie als Wissenschaft geben. Der unerschütterte religiöse Glaube sorgte dafür, daß alle Reize der Außenwelt eine hinreichende Entsprechung im Bewußtsein der Gläubigen fanden. Jene Spannung zwischen Verstand und Gemüt, die das Bewußtsein der neuzeitlichen Menschen durchzieht, bestand nur andeutungsweise. Die Wissenschaft war noch identisch mit der Theologie oder mystischen Kulten wie der Alchemie und Astrologie.

Mit einem gewissen Recht hat Freud diese Art der Einbettung des individuellen Bewußtseins in ein übergreifendes gesamtgesellschaftliches Bewußtsein als "kollektive Zwangsneurose" denunziert. Freilich war seine Betrachtungsweise insofern ahistorisch, als auf einer gewissen Entwicklungsstufe der Menschheit die Religion eine genauso phantasmagorische wie unvermeidliche Art des Bewußtseins darstellt. Von einer "kollektiven Zwangsneurose" läßt sich erst sprechen, wenn das religiöse Weltbild als eine für alle Schichten der Gesellschaft verbindliche Norm bereits ins Wanken geraten ist und zerfällt.

Solche Risse im christlichen Weltbild, die den Veränderungen der feudalen Gesellschaft entsprachen, zeigten sich relativ früh. Man wird bezweifeln dürfen, ob die christliche Religion jemals so in sich geschlossen gewesen ist, wie es dem verklärenden Rückblick erscheint. Eine genauere Betrachtung dürfte zeigen, daß sie zunächst über Jahrhunderte damit beschäftigt war, alte heidnische Kulte zu assimilieren, ihre inneren Widersprüche auszutarieren und religiöse Häresien zu bekämpfen, ehe Humanismus und Protestantismus das Zeitalter der Aufklärung eröffneten. Die Scheidelinie verläuft somit eher zwischen dem religiösen Weltbild schlechthin und der ihm entgegengesetzten verstandesmäßigen Einstellung zur Welt. Man wird diese Scheidelinie spätestens an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert ziehen müssen, als Amerika entdeckt und das Weltbild durch die astronomischen Entdeckungen von Kopernikus, Kepler und Galilei revolutioniert wurde. Spätestens da begann die ursprüngliche Einheit des Bewußtseins von Gott und der Welt zu zerfallen und lösten sich die Wissenschaften aus dem Schoß der Theologie.

Der Protestantismus machte das Seelenheil zur Sache des Einzelnen

Zur nüchternen Scheidung der materiellen von der geistigen Welt - ein Dualismus, der erst später überwunden werden sollte - trug vor allem der Protestantismus bei, der als ideologischer Ausdruck der aufdämmernden bürgerlichen Gesellschaft begriffen werden muß. Mit der absoluten Unsterblichkeit der Seele war es nun genauso vorbei wie mit der bild- und leibhaften Vorstellung von der übersinnlichen Welt. Die Erlangung des Seelenheils war kein institutioneller Akt mehr, den man gegen entsprechendes Entgelt dem unerschöpflichen Gnadenfonds der Kirche überlassen konnte, sondern mußte in persönlicher Anstrengung, unter Prüfung und Anspannung des individuellen Bewußtsein, errungen werden. Indem Luther die Priesterschaft des einzelnen Gläubigen postulierte, erlangte das individuelle Bewußtsein eine Schlüsselstellung. Der Mensch war nun in letzter Instanz nur noch seinem eigenen Glauben und Gewissen verantwortlich. In der Struktur dieses protestantischen Bewußtseins lag nicht nur die Verwerfung einzelner kirchlicher Autoritäten und Lehrsätze, sondern auch bereits die Überwindung aller religiösen Anschauung begründet. Anders als in Frankreich, wo das aufstrebende Bürgertum die religiöse Ideologie des Feudalstaats mittels materialistischer Ideen bekämpfte, vermittelte in Deutschland der Protestantismus zu Geistesfreiheit und Aufklärung. Dies erklärt auch zum großen Teil den besonderen Verlauf der deutschen Geistesentwicklung, in der das Bewußtsein in Form des "Geistes" oder der "Idee" als das Ursprüngliche oder doch als etwas Selbständiges gegenüber dem Körper und der Materie galt.

Zum frei tätigen Individuum der neuen bürgerlichen Gesellschaft gesellte sich ein neues Bewußtsein, das der rationalen Erkenntnis der Welt einen höheren Stellenwert einräumte als der Religion. Je mehr aber die Religion in die Defensive geriet und je weniger sie ihrer ursprünglichen Aufgabe gerecht werden konnte, überzeugende Antworten auf die "letzten Fragen" zu geben, um so mehr mußten diese Fragestellungen der Wissenschaft bzw. zunächst den Philosophen zufallen. Die Zerrissenheit des Bewußtseins widerspiegelte sich dabei in der Fragestellung, nämlich in der Frage nach dem Verhältnis der Seele zum Körper, des Geistes zur Materie, wobei "Seele" und "Geist" christlicher Tradition gemäß noch immer als unabhängige, den Körper und die Materie gar regierende Kräfte gedacht wurden.

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