Psychologie

Das Leib-Seele-Problem

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Geist und Materie

Von der kartesianischen Seele zum "psycho-physischen Parallelismus"

Die vorrangige Frage, die vor Beginn jeder Psychologie zu klären ist, gilt dem Verhältnis zwischen Materie und Geist, zwischen Körper und Seele, zwischen Sein und Bewußtsein. Existiert das Bewußtsein unabhängig von der Materie? Ist die Materie am Ende nur eine Qualität des Bewußtseins? - Oder ist das Bewußtsein nur eine Eigenschaft der Materie? In welcher Weise wirkt dann aber die Materie auf das Bewußtsein? Besteht überhaupt die Notwendigkeit, das Bewußtsein von der Materie zu unterscheiden, wenn beide materieller Natur sind?

Wäre das Psychische - wie einst die Verfechter des Vulgärmaterialismus behaupteten - nur eine Art Körpersekret wie die Galle oder der Urin, so würde es der Physiologie angehören. Zugleich verlöre die Unterscheidung von Materie und Bewußtsein, von Körperlichem und Seelischem, ihren Sinn. Aber auch die Wissenschaft, die solches fertigbrächte, würde sich in letzter Konsequenz selbst die Grundlage entziehen, da jede Erkenntnis mit der - ausdrücklichen oder stillschweigenden - Gegenüberstellung von Sein und Bewußtsein beginnt. Dies gilt auch für die Erforschung der äußeren Natur durch den Menschen. Allerdings liegt hier die Unterscheidung von Sein und Bewußtsein bereits im Verhältnis des Menschen zur Natur selbst beschlossen. Sie ist so "selbstverständlich", daß sie gar nicht mehr zu Bewußtsein kommt. Dies war aber nicht immer so: Den Primitiven gelten noch heute Menschen, Tiere, Pflanzen und anorganische Natur als gleichermaßen beseelt. Ähnliche Schwierigkeiten, wie diese in der rationalen Auseinandersetzung mit der äußeren Natur haben, dürfte heute der zivilisierte Mensch in der Auseinandersetzung mit seiner eigenen Natur in Gestalt des "Psychischen" haben.

Für Descartes folgten die Geister den Gesetzen des Denkens und die Körper den Gesetzen der Mechanik

Nachhaltigen Einfluß auf eine noch heute weitverbreitete Auffassung des Verhältnisses zwischen Seele und Körper bzw. Geist und Materie hatte die Lehre des französischen Philosophen Descartes (1596-1650). Ihr zufolge ist die Seele ein unräumliches Wesen, das in einem bestimmten Punkt des Gehirns mit dem Körper in Verbindung tritt. Es findet also eine Wechselwirkung zwischen Körper und Seele statt. Diese ist jedoch auf den Menschen beschränkt. Die übrige materielle Welt gehorcht rein mechanisch-physikalischen Gesetzen. Dazu gehören auch die Tiere, die Descartes als unbeseelte, automatenhafte Wesen betrachtet.

Schon Wilhelm Wundt hat darauf hingewiesen, "daß die philosophische Glaubensregel unserer sogenannten Gebildeten und beinahe auch schon der Ungebildeten nichts anderes ist als Cartesianismus. Daß die Substanzen dieser Welt in Geister und Körper zerfallen, daß die Geister unräumlich sind und die Körper ausgedehnt, daß die Geister den Gesetzen des Denkens folgen und die Körper den Gesetzen der Mechanik, daß die Geister frei sind und die Körper einer blinden Kausalität gehorchen, und daß gleichwohl diese verschiedenen Wesen sich gelegentlich miteinander verbinden und aufeinander wirken können." (1)

Noch heute, so wäre zu ergänzen, erscheint der Mehrheit der Menschen unseres Kulturkreises diese Theorie des Descartes als die ganz natürliche und selbstverständliche Ordnung der Welt: Mit der Austreibung des irrationalen Geistes aus der Natur - mit Ausnahme des Menschen - wurde die erkenntnistheoretische Grundlage für die Erforschung und Beherrschung der Naturkräfte mittels der Wissenschaft gelegt. Es triumphierte der rationale Geist, der die außermenschliche Natur unter die Gewalt mechanisch-physikalischer Gesetzmäßigkeit beugte. Dieser Siegeszug des rationalen Denkens wurde freilich mit der Verdrängung der nicht-rationalen Bestandteile des menschlichen Bewußtseins, mit der Ausklammerung des Seele-Problems, erkauft. Er mußte an jenem Punkt scheitern, wo er auf seine eigene Unzulänglichkeit stieß, nämlich an der Frage des Bewußtseins bzw. der "Seele" selbst.

Den französischen Aufklärern galt auch die Empfindung als Eigenschaft der Materie

Die Unzulänglichkeit des kartesianischen Materialismus wurde bereits von den französischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts erkannt und kritisiert. In der von 1751 bis 1765 veröffentlichten "Enzyklopädie" finden sich unter Stichworten wie "Seele", "Tier", "Cartesianismus" oder "Spinozist" verschiedentlich Ansätze zu einer materialistischen Theorie der Seele. Das "Vermögen zu denken, zu handeln und zu empfinden" wird als eine grundsätzliche Eigenschaft der Materie erkannt, die nicht auf den Menschen beschränkt ist. Zur Überwindung der kartesianischen Vorstellung trug vor allem die materialistische Deutung der Philosophie Spinozas bei. Der bedeutendste der französischen Materialisten, Diderot, definiert im 15. Band der "Enzyklopädie" die Empfindungsfähigkeit der Materie als allgemeines Prinzip des "heutigen" Spinozismus. Zur Verdeutlichung verweist er auf die Entwicklung des Eies als eines "leblosen Körpers, der unter der bloßen Einwirkung gelinder Wärme in den Zustand eines empfindenden und lebenden Wesens übergeht". Daraus folgerten die "heutigen" bzw. explizit materialistisch gesinnten Spinozisten, "daß es nur Materie gibt und daß sie genügt, um alles zu erklären". (2)

Schon vor der französischen Revolution ist somit den fortgeschrittensten Geistern Europas die Vorstellung geläufig, daß "Seele", "Denken", "Bewußtsein", "Geist" u. ä. nicht einer separaten, quasi-göttlichen Sphäre angehört, sondern in Wirklichkeit eine Eigenschaft der hochorganisierten Materie ist. Besonders Diderot scheint oft nur wenig von den revolutionären Denkern des 19. und 20. Jahrhunderts entfernt zu sein. Sein "Brief über die Blinden" ist ebenso eine erkenntnistheoretische Abhandlung wie eine psychologische Grundsatzbetrachtung, und In den "Philosophischen Grundsätzen über Materie und Bewegung" kommt er der Elektronentheorie und sogar der speziellen Relativitätstheorie verblüffend nahe. (3)

In der deutschen Philosophie war es der Geist, der die Materie regierte

Es blieb der deutschen Philosophie vorbehalten, vom anderen Teil des Kartesianismus auszugehen, nämlich jener unräumlich gedachten Seele, die schon im primär materialistischen Modell des Descartes mehr die Rolle eines metaphysischen Lückenbüßers ausfüllt. Während den französischen Materialisten diese Seele bald darauf als Eigenschaft der Materie galt, gingen die deutschen Idealisten den umgekehrten Weg. Für sie war es der Geist, der die Materie regierte und der ihnen am Ende als das einzig Wirkliche galt. In dieser Philosophie widerspiegelten sich sicherlich die rückständigen gesellschaftlichen Verhältnisse Deutschlands, wo das Bürgertum noch weit davon entfernt war, den feudalen Gewalten die politische Macht streitig zu machen. Aus realer Ohnmacht flüchtete man ins Reich des Ideellen. Dabei kann die Rolle des Protestantismus mit seiner Betonung des individuellen Gewissens (= Bewußtsein) kaum hoch genug veranschlagt werden. Alle großen deutschen Idealisten, von Leibniz bis Kant, von Schiller bis Goethe, wuchsen im protestantischen Geist auf. Hegel, Schelling und Hölderlin waren Zöglinge des Tübinger protestantischen Stiftes, als sie die Kunde von der Revolution in Frankreich vernahmen und vor Begeisterung um einen Freiheitsbaum tanzten . .

Der Vulgärmaterialismus ließ nur Stoffliches gelten

Erkenntnistheoretisch trat die Psychologie, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Philosophie emanzipierte, in die Nachfolge des beschriebenen Modells von Descartes, das entweder nach der materialistischen oder nach der idealistischen Seite hin modifiziert wurde. Dies gilt sogar für die extreme Richtung des Vulgärmaterialismus, wie ihn Büchner, Vogt und Moleschott vertraten, und derzufolge das Psychische eine Art Körpersekret wie die Galle oder der Urin wäre. Mit dieser totalen Negierung des Bewußtseins schloß der Vulgärmaterialismus ein quasi unsichtbares idealistisches, ja spiritualistisches und mystisches Komplement mit ein, das sich in der Psychoanalyse Freuds in bezeichnender und verhängnisvoller Weise auswirken sollte. Freud entwarf mit seiner Psychoanalyse ein spiritualistisches Modell der Seele, das in fast groteskem Gegensatz zu seinem sonstigen vulgärmaterialistischen Credo stand.

Der "psycho-physische Parallelismus" postulierte das Nebeneinander beider Sphären

Auch Wundt, dessen feinen Spott über die Verbreitung des kartesianischen Seelen-Modells wir bereits zitiert haben, huldigte im Grunde nur einer Variation dieser dualistischen Konzeption. Der "psychophysische Parallelismus", wie ihn mit Wundt die meisten Vertreter der herrschenden Psychologie vertraten, unterschied sich vom Modell des Descartes allerdings in dem wichtigen Punkt, daß eine Verbindung zwischen Seele und materieller Welt bestritten wurde. Dafür wurde unterstellt, daß Psychisches und Materielles in einem nicht weiter ausgeführten "Parallelismus" nebeneinander existieren und sich doch gegenseitig entsprechen. Wundt vertrat die Auffassung, "daß die Erscheinungen des geistigen Lebens unter sich in einer ebenso durchgängigen ursächlichen Verbindung stehen, wie diejenigen der körperlichen Natur". Eine Kausalbeziehung zwischen Materiellem und Psychischem wurde also bestritten. Dafür wurde unterstellt, daß die Kausalität der materiellen Welt sich in einer entsprechenden Kausalität der psychischen Welt wiederfindet. Für Wundt stand fest, daß der Naturforscher "immer nur einen Parallelismus der geistigen Vorgänge und der sie begleitenden physiologischen Funktionen statuieren" könne. Die Hervorbringung einer geistigen Wirkung durch körperliche Ursache erschien ihm als Unmöglichkeit und Verstoß gegen den "abgeschlossenen Kausalzusammenhang der Natur". (4)

In gewisser Weise läßt sich der Gedanke eines "psycho-physischen Parallelismus" bereits der Philosophie Spinozas entnehmen. Dieser vertritt in seiner "Ethik" die Auffassung, "daß die denkende Substanz und die ausgedehnte Substanz ein und dieselbe Substanz ist, welche bald unter diesem, bald unter jenem Attribut aufgefaßt wird". (5) Seele und Körper seien mithin nur Daseinsformen derselben Substanz, seien zwei Seiten derselben Wirklichkeit.

Eindeutig formulierte den Gedanken eines "psycho-physischen Parallelismus" bereits Leibniz in seiner 1714 erschienenen "Monadologie". Im Unterschied zu Descartes, demzufolge die Seele im Gehirn mit dem Körper verknüpft sein soll, gibt es für Leibniz zwischen Materie und Geist keine Wechselwirkung, sondern beide Sphären existieren ohne gegenseitige Beeinflussung in einer "prästabilisierten Harmonie" nebeneinander. Etwa so wie zwei Uhren, die zu Beginn der Schöpfung aufgezogen wurden und nun unabhängig voneinander immer die gleiche Zeit anzeigen.

Wundt hat sein Verständnis des "psycho-physischen Parallelismus" von beiden Auffassungen abzugrenzen versucht. (6) Den "psychologischen Substanzhypothesen" hielt er entgegen, daß es lediglich um zwei unterschiedliche Arten der Betrachtung gehe. Bestimmte Erfahrungsinhalte ließen nämlich eine doppelte Form wissenschaftlicher Betrachtungsweise zu: Die eine sei die mittelbare bzw. naturwissenschaftliche, die andere die unmittelbare bzw. psychologische. Obwohl Wundt den Begriff der Substanz ablehnt, entspräche sein Verständnis insoweit am ehesten den unterschiedlichen "Attributen" der Substanz bei Spinoza. Das Gros der Akademiker in der Nachfolge Wundts hat es sich allerdings einfacher gemacht. Für sie entsprach der psycho-physische Parallelismus im Grunde der "prästabilisierten Harmonie" bei Leibniz, in der Materie und Geist zwar synchron, aber unabhängig voneinander existieren.

Ostwalds "Energie"-Begriff umfaßte Stoffliches wie Geistiges

Vor dem Hintergrund der Krise der Physik, die sich um die Jahrhundertwende abzeichnete, entwickelte der Philosoph Wilhelm Ostwald ein "energetisches" Verständnis des Bewußtseins. Danach lassen sich Geist, Materie und alle Naturerscheinungen in den Begriff der Energie einordnen. Ostwald verabsolutierte den Begriff der Energie. Er setzte ihn als "letzte Realität" gegen die "unhaltbare Annahme, daß die Materie ein letzter Realitätsbegriff sei". Er subsumierte das Stofffliche der Bewegung und glaubte, daß dadurch der Streit zwischen Materialisten und Anhängern des "psycho-physischen Parallelismus" gegenstandslos würde: "Wenn im Menschen mit der >Materie< seines Gehirnes erfahrungsgemäß Geist verbunden ist, so ist nicht einzusehen, warum nicht mit aller anderen Materie Geist verbunden sein soll." (7)

Die marxistische Theorie der "Widerspiegelung"

Eine weiteren Versuch zur Lösung des psycho-physischen Problems unternahm der russische Revolutionär Lenin: Er entwickelte die Theorie der "Widerspiegelung" als einer universalen Eigenschaft der Materie, die von der anorganischen Natur über Pflanzen und Tiere bis zum menschlichen Bewußtsein als höchster Ausbildung dieser Eigenschaft reiche. In seinem 1908 verfaßten erkenntnistheoretischen Werk "Materialismus und Empiriokritizismus" insistiert Lenin darauf, "daß die ganze Materie eine Eigenschaft besitzt, die dem Wesen nach der Empfindung verwandt ist, die Eigenschaft der Widerspiegelung". (8) Oder anders gesagt: Alle psychischen Erscheinungen haben ihre Grundlage und Voraussetzung in der materiellen Welt. Derselbe Gedanke tauchte bereits bei dem deutschen Philosophen Friedrich Engels auf, auf den sich Lenin auch ausdrücklich berief. (9)

Die "Widerspiegelungs"-Theorie wurde später dogmatischer Bestandteil der "marxistisch-leninistischen" Ersatzreligion. Lenin sah dagegen immerhin noch die Notwendigkeit, "eingehend zu untersuchen, wie die angeblich überhaupt nicht empfindende Materie sich mit einer Materie verbindet, die aus den gleichen Atomen (oder Elektronen) zusammengesetzt ist, zugleich aber eine klar ausgeprägte Fähigkeit des Empfindens besitzt". (10) - Jene Gretchenfrage also, die der deutsche Physiologe Du Bois-Reymond schon 1872 aufgeworfen und mit "ignoramus et ignorabimus" beantwortet hatte.

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