Udo Leuschner / Medien-Theorie
Inhaltsübersicht

 

Das Jahrhundert der Presse

Die technisch-ökonomische Entwicklung bis zum "General-Anzeiger"





Rechts: Karl Marx als Held der bürgerlichen Pressefreiheit. Die anonyme Lithographie aus dem Jahr 1843 ist eine Allegorie auf die Unterdrückung der "Rheinischen Zeitung", die von Marx redigiert wurde. Der Redakteur wird als Prometheus dargestellt. Der Adler der griechischen Mythologie, der ihm die Leber aushackt, ist als preußischer Wappenvogel zu erkennen. Die altertümliche Handpresse, an die Karl Marx gefesselt ist, symbolisiert die vergleichsweise geringen technischen Voraussetzungen, unter denen damals der Gedanke zum gedruckten Wort werden konnte. 

Im 19. Jahrhundert wird das Medium der Presse endgültig zum vorherrschenden Mittel der geistigen Beeinflussung. "Die Presse organisiert den Markt geistiger Werte", wie Walter Benjamin bemerkte. Sie gewinnt eine monopolähnliche Stellung, die sich erst im 20. Jahrhundert mit dem Aufkommen der audio-visuellen Medien wieder zu verlieren beginnt. Innerhalb des neuen Mediums selbst gewinnen die Tagespresse und andere Periodika eine immer größere Bedeutung.

Obwohl sich die Zeitungen zunächst noch an einen relativ kleinen Kreis wenden, wird ihre Wirksamkeit von den Herrschenden hoch veranschlagt. So versuchen die alten feudalen Gewalten eine Unbotmäßigkeit der Presse durch Zensur und Privilegierungszwang zu verhindern. Die Verbreitung von Flugblättern und anderen nichtzugelassenen Schriften wird verfolgt und bestraft. Eine ähnliche Haltung nimmt Napoleon ein, als er 1810 die Presse der verbündeten Rheinbundstaaten mit Ausnahme der unpolitischen Intelligenzblätter (Anzeigenblätter) und jeweils eines regierungsamtlichen Organs verbieten läßt.

In der anschließenden Phase Metternichs unternehmen die restaurativen Gewalten verschiedentlich den Versuch, mit Hilfe eigener oder ausgehaltener Zeitungen die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Neben der Unterdrückung nicht genehmer Meinungen und Nachrichten gibt es also auch eine aktive Pressepolitik, die an Bedeutung noch zunimmt, nachdem die Zensur und andere spezifische Beschränkungen der Gewerbefreiheit im Bereich der Presse entfallen sind.

Die Pressefreiheit begünstigt das Bürgertum

Formal steht das Instrument der Presse sowohl den alten feudalen Gewalten wie dem liberalen Bürgertum zur Verfügung. Es wird auch von beiden Seiten benutzt. Dem Bürgertum kommt jedoch zustatten, daß es neben anderen wesentlichen Produktionsmitteln auch über die ökonomisch- technischen Voraussetzungen zur Meinungsbildung verfügt. Die Forderung nach "Pressefreiheit" ist deshalb eine ausgesprochen bürgerliche Kampflosung. Sie ist weit entfernt davon, beide Seiten gleichermaßen zu begünstigen. Sie enthält unausgesprochen einen neuen Privilegierungszwang, nämlich die kapitalmäßigen Voraussetzungen, um von dieser Freiheit den angemessenen Gebrauch zu machen.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sind diese kapitalmäßigen Voraussetzungen allerdings noch so gering und so breit gestreut, daß die Pressefreiheit im sozialen Rahmen des Bürgertums als demokratische Forderung gelten kann. Noch die Presse des Vormärz und der Märzrevolution basiert auf ökonomisch-technischen Voraussetzungen, die sich seit Gutenbergs Erfindung der Buchdruckkunst nicht wesentlich verändert haben. Oft sind Druckereibesitzer, Herausgeber, Verleger und Redakteur ein und dieselbe Person.

Auch tonangebende, über-lokal verbreitete Zeitungen sind nach personeller und technischer Ausstattung Handwerksbetriebe. Es verwundert daher nicht, daß in solchen Zeitungen unter günstigen politischen Rahmenbedingungen, wie sie etwa in Baden herrschen, die radikalliberale Bewegung des Kleinbürgertums ihren ungeschmälerten Ausdruck findet.


Mit der Schnellpresse (links) begann die Industralisierung des Pressewesens, das bis dahin handwerklich vefaßt war. Weitere technische Errungenschaften wie die Rotationsmaschine (Mitte) und die Setzmaschine (rechts) ließen die Pressefreiheit bis Ende des 19. Jahrhunderts zum Privileg kapitalstarker Verleger werden.

Die Industrialisierung des Pressewesens

Das Druckgewerbe ist jedoch bereits im Begriff, seinen kleinbürgerlich-handwerklichen Kinderschuhen zu entwachsen und zu einem Privileg des Großbürgertums zu werden. Mit der Handpresse können bis dahin stündlich maximal etwa 300 Zeitungsbogen hergestellt werden, die, wenn sie gefaltet sind, normalerweise ein Zeitungsexemplar mit vier Seiten Umfang ergeben. Damit ist die Auflage einer Zeitung von vornherein begrenzt. Sie zählt eher nach Hunderten als nach Tausenden.

Einen ersten Schritt zur Industrialisierung der Presse stellt die Erfindung der Schnellpresse dar, die sich bei größeren Zeitungen ab den vierziger Jahren durchsetzt. Die Schnellpresse ermöglicht die drei- bis vierfache Auflage in derselben Zeit. Vom selben Druckstock können binnen weniger Stunden einige tausend Abzüge hergestellt werden. Das ist in der Ära der Postkutsche sehr viel. Man darf nicht vergessen, daß andere wesentliche Elemente des modernen Pressewesens wie das Transportwesen und die Nachrichtenübermittlung ihrerseits noch in den Anfängen stecken.

Wesentlich stärker sind die ökonomisch-technischen Veränderungen des Pressewesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Rotations-Schnellpresse setzt der Auflage wie dem Umfang von Zeitungen kaum noch Grenzen. Die Setzmaschine bringt eine revolutionierende Beschleunigung und Verbilligung der Satzherstellung. Neue Illustrationstechniken ermöglichen den Druck von Fotografien. Telegraf und Telefon revolutionieren die Nachrichtenübermittlung. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes erweitert die Vertriebsmöglichkeiten usw. - Es versteht sich, daß damit die kleinbürgerlich-handwerkliche Verfassung des Pressewesens gesprengt wird. Zwar läßt sich auch mit der älteren Technik noch Zeitungspapier beschwärzen. Im Gesamtbild werden die so erzeugten Produkte aber immer bedeutungsloser. (Ähnliches gilt für das späteren Zurücktreten der Presse insgesamt hinter die neuen Medien Film, Radio und Fernsehen.)
Unter den neuen ökonomischen Voraussetzungen reüssierten vor allem die sogenannten "General-Anzeiger" (die nicht unbedingt so heißen mußten). Es waren primär am Geschäftszweck orientierte Blätter. Ihre politische Richtung gaben sie  in der Regel mit "liberal" an, da jede starre Festlegung dem Anzeigengeschäft und der Breite des Leserkreises abträglich gewesen wäre. 

Im großen Stil setzt sich die Industrialisierung der Presse gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch. Es entstehen die ersten Konzerne wie der von August Huck, der es vom Besitzer einer Schriftgießerei zum Herrscher über ein reichsweites Zeitungsimperium bringt. Ihr typisches Produkt ist der "General-Anzeiger", bei dem sich Geschäftszweck und Meinungsmache zwanglos miteinander verbinden. Die politische Haltung des Blattes wird dabei vor allem unter dem Aspekt gesehen, ob sie dem geschäftlichen Erfolg dienlich oder abträglich ist. Der redaktionelle Teil der Zeitung gerät immer mehr zur Verpackung jenes Teils, der das eigentliche Geld bringt, nämlich der Anzeigenseiten. Der "General-Anzeiger" ist aus Prinzip "liberal", da jede starre Festlegung dem Geschäftszweck abträglich wäre. Gerade durch den Primat des Geschäftszwecks erfüllt er aber in der zuverlässigsten und flexibelsten Weise die Bedürfnisse der herrschenden gesellschaftlichen Kräfte. Er funktioniert als eine Art Regelkreis, der unter dem kategorischen Imperativ des kommerziellen Erfolgs die Ansprüche von Lesern, Anzeigenkunden und politischen Gewalten in optimaler Weise aufeinander abstimmt.