Udo Leuschner / Geschichte der FDP (65)

17. Bundestag 2009 - 2013


Kernschmelze

Die FDP folgt der atompolitischen Wende ihres Koalitionspartners bedingungslos

"Der Ausstiegsbeschluß der rot-grünen Bundesregierung ist ein Irrweg, dessen Laufzeit die FDP 2006 beenden wird." So tönte die energiepolitische Sprecherin der FDP, Gudrun Kopp, im Mai 2005. Anlaß war die Stillegung des ältesten deutschen Kernkraftwerks bei Obrigheim am Neckar, das die ihm zugebilligte Restlaufzeit ausgeschöpft hatte. Das sei "staatlich verordnete Kapitalvernichtung", wütete die FDP-Sprecherin. Damit werde "in Deutschland erstmalig durch staatliche Willkür ein technisch wie betriebswirtschaftlich einwandfreies Kraftwerk zur Erzeugung von Energie vom Netz genommen".

Ähnliche Töne kamen aus den Unionsparteien, die sich darauf vorbereiteten, nach den im Herbst anstehenden Bundestagswahlen gemeinsam mit der FDP die Regierung zu übernehmen. Es reichte dann aber nicht zur Ablösung der rot-grünen Regierung durch eine schwarz-gelbe Koalition. Stattdessen mußte die Union die nächsten vier Jahre mit der SPD regieren. Damit blieb es auch vorläufig beim Ausstieg aus der Kernenergie, wie er im Juni 2000 mit den Energiekonzernen vereinbart wurde und im April 2002 gesetzlich in Kraft trat.

In der nun folgenden Zeit der Großen Koalition lehnte der Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) alle Anträge der KKW-Betreiber ab, durch Übertragung von Reststrommengen aus jüngeren Anlagen die nahezu erschöpften Reststrommengen der ältesten Reaktoren aufzustocken und so deren Laufzeiten zu verlängern. Das Atomgesetz erlaubte nämlich die Übertragung von Reststrommengen nur von älteren auf jüngere Anlagen. In der umgekehrten Richtung – von jüngeren auf ältere Anlagen – bedurfte sie einer Genehmigung durch das Bundesumweltministerium. Das hatte seinen guten Grund, weil sich im einen Fall das Sicherheitsrisiko verringerte, während es sich im anderen erhöhte.

FDP stellte Rechtslage bei Übertragung von Atomstrom-Mengen falsch dar

Für die oppositionelle FDP bot auch das Anlaß zu schäumender Empörung: Gabriel sei nicht willens und fähig, "ein rechtsstaatliches Verwaltungsverfahren zu organisieren", hieß es im Oktober 2006 in einer gemeinsamen Erklärung der energiepolitischen Sprecherin Gudrun Kopp und des hessischen Landeschefs Uwe Hahn. Wer als Minister über die Anträge der KKW-Betreiber entscheide, müsse "unparteiisch, unabhängig und deshalb offen sein". Gabriel habe aber schon vor der förmlichen Ablehnung des Antrags für Biblis A erkennen lassen, daß er die Genehmigung verweigern werde. Das sei rechtlich inakzeptabel. Er müsse deshalb seine Entscheidungskompetenz abgeben. Schließlich sei die Verlängerung der Laufzeit für Biblis A "von nationaler Bedeutung hinsichtlich der Reformfähigkeit der deutschen Wirtschaftspolitik".

Die FDP spielte sich damit als Hüterin rechtsstaatlicher Grundsätze auf, was einer liberalen Partei durchaus gut angestanden hätte. Indessen handelte es sich um eine Falschdarstellung der rechtlichen Situation: Bei den Laufzeiten-Verlängerungen ging es nicht um ein Verwaltungsverfahren, für das im Streitfall die Gerichte zuständig gewesen wären, sondern um eine rein politische Entscheidung. Gabriel handelte lediglich nach Recht und Gesetz, wenn er die Anträge der KKW-Betreiber ablehnte. Zugleich machte er von der politischen Entscheidungskompetenz Gebrauch, die ihm im Rahmen der Großen Koalition zustand. Die Union mußte seine Entscheidung akzeptieren, weil das Festhalten am Atomausstieg der wichtigste Eckpfeiler der Koalitionsvereinbarung war.

Union und FDP verlängern Laufzeiten aller Kernkraftwerke

Erst die Bundeswahlen im September 2009 verhalfen Union und FDP zu der sicheren Mehrheit, die sie benötigten, um das Atomgesetz zugunsten der vier KKW-Betreiber E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall zu ändern. In ihrer Koalitionsvereinbarung bezeichneten sie die Kernenergie euphemistisch als "Brückentechnologie", die solange notwendig bleibe, "bis sie durch erneuerbare Energien verläßlich ersetzt werden kann". Die bestehenden Atomkraftwerke seien weiterhin erforderlich, um die Klimaziele zu erreichen, die Energiepreise erträglich zu halten und die Abhängigkeit vom Ausland zu verringern. Die Koalition sei deshalb "bereit, die Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke unter Einhaltung der strengen deutschen und internationalen Sicherheitsstandards zu verlängern".

Es dauerte noch bis Ende 2010, ehe das geänderte Atomgesetz in Kraft tat. Es verlängerte die Restlaufzeiten der 17 deutschen Kernkraftwerke um durchschnittlich zwölf Jahre (um acht Jahre für die sieben ältesten, die bis 1980 gebaut wurden, und um 14 Jahre für die zehn neueren Reaktoren). Das war weniger, als die FDP gefordert hatte (Verlängerung um zehn bis zwanzig Jahre). Die Union wollte aber die Gefälligkeit gegenüber den Energiekonzernen nicht auf die Spitze treiben. Die kommunalen Versorger hatten sogar heftig gegen die Begünstigung der vier Platzhirsche protestiert, weil sie dadurch ihre bereits getätigten oder geplanten Investitionen in eigene Kraftwerke gefährdet sahen. Außerdem war die Mehrheit der Bevölkerung sowieso für die Beibehaltung der alten Ausstiegs-Regelung.

Katastrophe in Japan verändert energiepolitische Weichenstellungen in Deutschland

Die Laufzeiten-Verlängerung blieb indessen nur ein paar Monate in Kraft. Am 11. März 2011 zerstörten ein Erdbeben und die dadurch ausgelöste Flutwelle vier der sechs Reaktoren des japanischen Kernkraftwerks Fukushima. In den folgenden Tagen kam es zu Explosionen und zur Kernschmelze der Brennstäbe. Ähnlich wie bei der Katastrophe, die sich 1986 im russischen Kernkraftwerk Tschernobyl ereignete, begann damit ein jahrelanges Drama mit der Freisetzung großer Mengen an Radioaktvität.

Die Katastrophe in Japan hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Energiepolitik in Deutschland: Die schwarz-gelbe Bundesregierung, die eben erst die Laufzeiten der Kernkraftwerke großzügig verlängert hatte, vollzog plötzlich eine atompolitische Kehrtwende. Vorab beschloß sie am 14. März – also am dritten Tag nach Beginn der Katastrophe – die vorläufige Abschaltung bzw. Nichtwiederinbetriebnahme der sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke (zwei waren ohnehin nicht am Netz). Dieses "Moratorium" war auf drei Monate befristet und mit einer Sicherheitsüberprüfung aller 17 Kernkraftwerke verbunden. Der Beschluß wurde am folgenden Tag mit den CDU-Ministerpräsidenten der betroffenen Länder Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein abgestimmt und bis zum 18. März über entsprechende Anordnungen der atomrechtlichen Landesaufsichtsbehöden umgesetzt.

Binnen eines Vierteljahres kehrte die Bundesregierung dann nicht nur zur alten Ausstiegsregelung zurück, sondern verfügte die sofortige Stillegung der acht ältesten Kernkraftwerke und setzte feste Schlußtermine, bis zu denen die verbleibenden neun Kernkraftwerke die ihnen zugestandenen Strommengen erzeugen durften. Der entsprechenden Änderung des Atomgesetzes stimmten am 30. Juni 2011 im Bundestag außer Union und FDP auch SPD und Grüne zu.

Theaterdonner mit "Moratorium" für die ältesten Kernkraftwerke

Aber war dieser Gang der Dinge tatsächlich so beabsichtigt gewesen? War das Moratorium von Anfang an dazu gedacht, auf die Rücknahme der Laufzeiten-Verlängerung einzustimmen? Oder handelte es sich vielmehr um Theaterdonner, der kurzfristig die Wähler beeindrucken sollte? Bis Ende des Monats standen gleich drei Landtagswahlen an. Hätten die Dinge wirklich denselben Verlauf genommen, wenn es der schwarz-gelben Koalition gelungen wäre, diese Wahlen einigermaßen glimpflich zu überstehen?

Um Theaterdonner handelte es sich in jedem Fall. Es gab keinen vernünftigen Grund, in Deutschland die sieben ältesten Kernkraftwerke schlagartig vom Netz zu nehmen, weil ein Kernkraftwerk am Pazifischen Ozean einem Erdbeben und einer dadurch ausgelösten Flutwelle nicht standhalten konnte. Vielmehr bedeutete dies eine schwere Gefährdung der Versorgungssicherheit. Die leistungsstarken Kernkraftwerke waren nun mal so etwas wie die Ecksteine in der Architektur des deutschen Übertragungsnetzes. Man konnte sie nicht einfach aus dieser Architektur herausbrechen, ohne das ganze System zu destabilisieren. Es ging dabei keineswegs allein um die Stromerzeugung. Die plötzlich entfallende Wirkleistung von fünf Kernkraftwerken – zwei der sieben waren ohnehin abgeschaltet – ließ sich ja durch Stromimporte und das Hochfahren anderer Erzeugungskapazitäten noch kompensieren. Aber für die Blindleistung, die von diesen Kernkraftwerken an den Knotenpunkten des Netzes bereitgestellt wurde, gab es keinen entsprechenden Ersatz. Deshalb mußte zum Beispiel im abgeschalteten Kernkraftwerk Biblis A der Generator für sieben Millionen Euro so umgebaut werden, daß er weiterhin – nun aber im Motorbetrieb – am Netz bleiben und Blindleistung einspeisen konnte.

Das Moratorium war somit technisch unsinnig und sogar verantwortungslos, ganz unabhängig von den grundsätzlichen Risiken der Kernenergie, die es natürlich auch in Deutschland gab und die seit langem bekannt waren. Die schwarz-gelbe Regierung hatte diese realen Risiken bis dahin ignoriert oder doch wenigstens verharmlost. Noch viel unwahrscheinlicher als ein Erdbeben im unteren Bereich der Richter-Skala war aber in Deutschland, daß plötzlich ein Nordsee-Tsunami über das Kernkraftwerk Brunsbüttel hereinbrechen oder eine gewaltige Flutwelle das Oberrheintal hinabrauschen und das Kernkraftwerk Biblis unter Wasser setzen würde.

Die Kanzlerin gab das auch zu, als sie am 17. März 2011 den Moratoriums-Beschluß vor dem Bundestag verteidigte: "Ja, es bleibt wahr: Derart gewaltige Erdbeben und Flutwellen, wie sie Japan getroffen haben, treffen uns nach allen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erwartungen nicht." Aber dennoch könne die Bundesregierung "nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, und zwar aus einem alles überragenden Grund".

"Die Wahl!" ergänzte an dieser Stelle eine Stimme aus dem Plenum. Sie gehörte dem Linken-Abgeordneten Ilja Seifert.

Doch Merkel erklärte den alles überragenden Grund so: "Die unfaßbaren Ereignisse in Japan lehren uns, daß etwas, was nach allen wissenschaftlichen Maßstäben für unmöglich gehalten wurde, doch möglich werden konnte."

Das mochte nun glauben, wer wollte. Genausogut hätte Merkel aus dem "Hamlet" zitieren können, wo es heißt: "Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich träumen läßt." Ebenfalls von Shakespeare stammt allerdings auch die Redewendung, daß "Gründe so wohlfeil wie Brombeeren" sein können. Der Zwischenruf des Linken-Abgeordneten folgte eher dieser Einsicht. Und es spricht einiges dafür, daß er damit recht hatte.

Das Moratorium beläßt der Regierung alle Handlungsmöglichkeiten

Zum damaligen Zeitpunkt war nämlich noch keineswegs klar, wie die bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt (20. März) sowie in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz (27. März) ausgehen würden. Und das Moratorium war insofern eine Luftnummer, als es der Bundesregierung alle Handlungsmöglichkeiten offen ließ. Es wäre jedenfalls voreilig, darin eine Art Vorstufe und Ankündigung der später erfolgten Rücknahme der Laufzeiten-Verlängerung zu sehen. In Wirklichkeit verpflichtete das Moratorium die Bundesregierung zu gar nichts. Es war sichtlich darauf angelegt, der schwarz-gelben Regierung kurz vor den anstehenden drei Landtagswahlen den Rücken in Sachen Kernenergie freizuhalten. Der willkürliche und sachlich unbegründete, aber bombastische Theaterdonner einer sofortigen Abschaltung der ältesten Reaktoren verfolgte zunächst mal keinen anderen Zweck, als die Wahlergebnisse zugunsten von Union und FDP zu beeinflussen.

Die einzige Verpflichtung bestand darin, sämtliche deutschen Kernkraftwerke einer Überprüfung durch die Reaktorsicherheitskommission zu unterziehen. Aber auch das war eine Luftnummer, weil das Ergebnis so vorhersehbar war wie das Amen in der Kirche. Es war nicht damit zu rechnen, daß sich bei einem der 17 deutschen Kernkraftwerke – ob älteren oder neueren Datums – eine gravierende Beanstandung ergeben würde. Das bis 15. Juni befristete Moratorium enthielt deshalb ein doppeltes Verfallsdatum: Spätestens nach Vorliegen der Unbedenklichkeitsbescheinigungen hätten auch die ältesten Kernkraftwerke wieder ans Netz gehen und ihre verlängerten Laufzeiten voll ausschöpfen können.

Brüderle erklärt Wirtschaftsbossen das Moratorium mit dem Druck des Wahlkampfes

So sah das wohl auch der damalige FDP-Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, dem Merkels Moratorium besonders peinlich sein mußte, da sich seine Partei bis dahin als eine Art Prätorianergarde der Atomwirtschaft gebärdet hatte und von dieser mit erheblichen Spenden unterstützt worden war (siehe 43). Eigentlich sollte er am 14. März 2011 vor der Spitze des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) nur zum Thema Industriepolitik sprechen. Als jedoch der Moratoriums-Beschluß bekannt wurde, wollte der BDI-Präsident Hans-Peter Keitel aus erster Hand wissen, ob die Nachricht stimme und was es damit für eine Bewandtnis habe. Brüderle signalisierte daraufhin den anwesenden Wirtschaftsbossen – unter denen sich mit RWE-Chef Jürgen Großmann und E.ON-Chef Johannes Teyssen auch die beiden größten Reaktorbetreiber befanden – daß kein Grund zur Beunruhigung bestehe und sie diese Entscheidung vor dem Hintergrund der bevorstehenden Landtagswahlen verstehen müßten.

Wörtlich hieß es im Protokoll der BDI-Veranstaltung: "Der Minister bestätigte dies und wies erläuternd darauf hin, daß angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen Druck auf der Politik laste und die Entscheidungen daher nicht immer rational seien". Im übrigen sei er selber ein Befürworter der Kernenergie, schon mit Rücksicht auf die Branchen, die besonders viel Energie benötigen. "Es könne daher keinen Weg geben, der sie in ihrer Existenz gefährde."

Obwohl der Verteilerkreis des Protokolls sehr klein war, wurde Brüderles Äußerung der "Süddeutschen Zeitung" zugespielt, die darüber am 24. März berichtete. Noch am selben Tag wurde sie von den Oppositionsparteien im Bundestag aufgegriffen. Vor allem Gregor Gysi von der Linken stellte sie in den Mittelpunkt seiner Rede. Genüßlich zitierte er aus dem Protokoll, wie es in dem Zeitungsbericht wiedergegeben wurde, und empfahl dem Bundeswirtschaftsminister: "Herr Brüderle, ich rate Ihnen, das nicht zu bestreiten."

Brüderle vermied es in der Tat, den Wortlaut des Protokolls zu bestreiten. Daran gab es nichts zu deuteln. Der BDI war dem bedrängten Minister aber inzwischen zur Seite gesprungen. Angeblich hatte er nachträglich festgestellt, daß das Protokoll fehlerhaft gewesen sei. Darauf konnte sich Brüderle nun berufen, ohne den Vorwurf zu riskieren, das Parlament zu belügen: "Sie haben aus einem Protokoll zitiert, zu dem der BDI inzwischen erklärt hat, daß meine Ausführungen falsch wiedergegeben worden sind." Unter dem Gelächter der Opposition beteuerte er: "Es ist absurd, uns Wahlkampfmanöver vorzuwerfen."

BDI-Hauptgeschäftsführer Werner Schnappauf trat am folgenden Tag von seinem Amt zurück. Zur Begründung sagte er: "Ich übernehme die politische Verantwortung für die Folgen einer Indiskretion, an der ich persönlich nicht beteiligt war, um möglichen Schaden für das Verhältnis von Wirtschaft und Politik abzuwenden." Daß Schnappauf nun von einer "Indiskretion" sprach, klang wie ein Dementi seiner früheren Darstellung, wonach Brüderles Äußerungen nicht richtig wiedergegeben worden seien.

Erst das Wahlergebnis zwingt Union und FDP zur Rücknahme der Laufzeiten-Verlängernung

Die Opposition war sowieso der Meinung, daß Merkel nur ein wahltaktisches Manöver verfolgte. Aber auch innerhalb der schwarz-gelben Koalition dürfte die Sichtweise, die Brüderle "unter uns Pfarrerstöchtern" beim BDI zu Protokoll gab, zum großen Teil verbreitet gewesen sein. Das würde zugleich erklären, weshalb die Wende der Kanzlerin sogar von notorischen Lobbyisten der Atomwirtschaft ohne Protest und ohne vernehmbares Murren akzeptiert wurde.

Merkel hatte sich bis dahin wohlweislich gehütet, die Laufzeiten-Verlängerung in irgendeiner Weise in Frage zu stellen. In ihrer Erklärung vor dem Bundestag beschränkte sie sich auf radikal klingende, letztendlich aber unverbindliche Floskeln, die jeder nach seinem Geschmack auslegen konnte und ihr damit völlige Handlungsfreiheit nach allen Richtungen beließen. Das klang etwa so: "Die Lage nach dem Moratorium wird eine andere sein als die Lage vor dem Moratorium, denn alles kommt auf den Prüfstand. Sie wird darüber hinaus – das sage ich, damit auch da kein Mißverständnis entsteht – auch eine andere Lage sein als die Lage zur Zeit des rot-grünen Gesetzes."

Ende März war es mit dieser wortradikalen Unverbindlichkeit vorbei. Die Landtagswahlen zeigten, daß auch die Wählerschaft dem atompolitischen Kurswechsel der Kanzlerin nicht über den Weg traute. In Sachsen-Anhalt flog am 20. März die Atompartei FDP aus dem Landtag, und der Stimmenanteil der CDU sank von 36,2 auf 32,5 Prozent. Noch viel schlimmer kam es eine Woche später in Baden-Württemberg, wo die CDU seit fast sechzig Jahren ununterbrochen regiert hatte: Sie verlor massenhaft Wähler an die Grünen, die zur zweitstärksten Partei wurden und nun mit der SPD als Koalitionspartner zum ersten Mal in einem Bundesland den Ministerpräsidenten stellen konnten. Die FDP büßte in ihrem vermeintlichen "Stammland" 5,4 Prozent ein und kam nur noch knapp über die Fünf-Prozent-Hürde hinweg. Dieses Debakel war in erster Linie auf die Unglaubwürdigkeit der schwarz-gelben Atompolitik zurückzuführen. Eine Umfrage von Infratest Dimap ergab, daß 78 Prozent der Wähler an ein wahltaktisches Manöver glaubten.

Alte Ausstiegs-Regelung wird wiederhergestellt, aber mit zwei Zutaten aufgehübscht

Erst jetzt beschloß die schwarz-gelbe Regierung, ihr absolut unnötiges, die Versorgungssicherheit gefährdendes und nur auf Theaterdonner zielendes Moratorium vom Ruch eines wahltaktisch bedingten Manövers zu befreien. Diese Flucht nach vorn konnte natürlich nicht gelingen, wenn an der Laufzeiten-Verlängerung festgehalten wurde. Sie sollte aber keinesfalls wie eine einfache Rückkehr zur alten Ausstiegsregelung aussehen. Deshalb enthielt der Gesetzentwurf, den die Koalition jetzt ausarbeiten ließ, noch zwei Zutaten: Zum einen waren das feste Schlußtermine, bis zu denen die bestehenden Kernkraftwerke die ihnen aufgrund der wiederhergestellten alten Reststrommengen-Regelung zustehenden Gigawattstunden abgearbeitet haben müssen. Zum anderen durften die sieben Kernkraftwerke, die unter das Moratorium fielen, sowie das Kernkraftwerk Krümmel nicht mehr ans Netz gehen, sondern mußten abgeschaltet bleiben.

Beides klang wieder ziemlich radikal, gerade so, als ob sich nun die Union beim Ausstieg aus der Kernenergie an die Spitze gesetzt hätte. Die Zutaten änderten aber grundsätzlich nichts am Mengengerüst der alten Ausstiegsregelung. Die Schlußtermine waren so bemessen, daß sie den KKW-Betreibern die Abarbeitung der Reststrommengen erlaubten, die ihnen bereits aufgrund der alten Regelung zugestanden wurden. Die acht Reaktoren, die nicht mehr ans Netz gehen durften, hätten sowieso bald stillgelegt werden müssen. Soweit sie noch über Reststrommengen verfügten, durften diese auf andere Kernkraftwerke übertragen werden.

Als im Mai 2011 die Reaktorsicherheitskommission das Ergebnis der angeordneten Sicherheitsüberprüfung aller 17 deutschen Kernkraftwerke vorlegte und die zu erwartende Entwarnung gab, hatte sich die Koalition bereits auf die gesetzliche Neuregelung geeinigt. Der Persilschein war somit überflüssig geworden, soweit er ursprünglich dem Zweck dienen sollte, die Laufzeiten-Verlängerung zu rechtfertigen und die Wiederinbetriebnahme der ältesten Reaktoren zu legitimieren. Immerhin zeigte der Bericht, daß die Sicherheit der Anlagen keineswegs vom Baujahr und Reaktortyp abhing. Die Kanzlerin hatte dagegen vor dem Bundestag den Eindruck erweckt, als ob die zeitweilige Abschaltung der ältesten Kernkraftwerke als Sicherheits- und Schutzmaßnahme "für die Menschen in Deutschland" unbedingt erforderlich gewesen sei. Die nunmehrige Entwarnung änderte freilich nichts mehr am sofort vollstreckbaren Todesurteil für die ältesten Reaktoren, die sowieso bald vom Netz gegangen wären. Schließlich war das Verbot des Wiederanfahrens ein publikumswirksamer Effekt. Vor allem erweckte es den Eindruck, als ob das Moratorium tatsächlich notwendig gewesen sei und als ob sich die gesetzliche Neuregelung kontinuierlich daraus entwickelt habe.

Kanzlerin berief sich auf Rechtsgrundlage, die es gar nicht gab

Vorläufig verborgen blieb der breiten Öffentlichkeit der skandalöseste Aspekt des Moratoriums, der in der fehlenden Rechtsgrundlage bestand. Das Moratorium war eben nicht nur sicherheitstechnisch unsinnig und sogar riskant, sondern auch rechtswidrig. Das hätte von Anfang an sogar der juristische Laie erkennen können, indem er sich den § 19, Abs. 3 des Atomgesetzes näher anschaute, mit dem die Kanzlerin ihren Beschluß im Bundestag begründet hatte. Dieser Paragraph war mit Blick auf einen schweren Störfall konzipiert worden und ermächtige die Atomaufsichtsbehörden in allgemeiner Form zur Ergreifung irgendwelcher "Schutzmaßnahmen".

Keinesfalls deckte dieser Paragraph die Interpretation, welche die Kanzlerin ihm gab, als sie daraus ganz allgemein die Ermächtigung herauslas, "eine Anlage vorübergehend stillzulegen, bis sich die Behörden Klarheit über eine neue Lage verschafft haben". Völlig zu Recht stießen sich Zwischenrufer aus den Reihen der Opposition sofort an diesem schwammig-nebulösen Begriff der "neuen Lage", als Merkel damit am 17. März vor dem Bundestag ihre abstruse Auslegung des Atomgesetzes zu rechtfertigen versuchte.

Inzwischen weiß man, daß die Regierung von den eigenen juristischen Fachleuten gewarnt worden war, sich auf diese schlüpfrige Terrain zu begeben. Sie hatte diese Warnungen aber mißachtet, weil sie auf den Theaterdonner keinesfalls verzichten wollte und zumindest den Anschein einer Rechtsgrundlage brauchte. Stattdessen setzte sie voll auf die exekutive Gewalt zur Durchsetzung des Moratoriums und auf den Umstand, daß alle fünf Bundesländer, in denen sich die sieben ältesten Reaktoren befanden, von der Union regiert wurden. So kam es dann am 15. März 2011 zu einem Treffen der Bundeskanzlerin mit den fünf CDU-Ministerpräsidenten, bei dem man sich auf ein gemeinsames Vorgehen verständigte. Die beteiligten Länderumweltminister bekamen außerdem vom Bundesumweltministerium eine Art Formulierungshilfe, wie sie als Atomaufsicht die dreimonatige Zwangsabschaltung begründen sollten.

KKW-Betreiber verlangen Schadenersatz von 882 Millionen Euro

RWE war zunächst der einzige der vier KKW-Betreiber, der die Abschaltungsverfügung nicht hinnehmen wollte und deshalb beim Hesssischen Verwaltungsgerichtshof klagte. Nach dem Auslaufen des Moratoriums wurde daraus eine Klage auf Schadenersatz. Daß Land und Bund in dieser Auseinandersetzung über schlechte Karten verfügten, weil es eine rechtliche Fundierung des Moratoriums praktisch nicht gab, drang vorerst aber noch nicht durch. Das begann sich erst zu ändern, als der Verwaltungsgerichthof der Klage im Februar 2013 stattgab, weil die vom hessischen Umweltministerium am 18. März 2011erlassene Abschaltverfügung sowohl formell als auch materiell rechtswidrig gewesen sei. Ein Jahr später wies das Bundesverwaltungsgericht die vom Land Hessen dagegen erhobene Revisionsbeschwerde zurück. Das Urteil wurde damit rechtskräftig. RWE konnte nun zumindest Schadenersatz für die Zeit des erzwungenen Stillstands von Biblis A verlangen (Biblis B war wegen einer planmäßigen Revision ohnehin abgeschaltet gewesen).

Die nunmehr höchstrichterlich bestätigte Rechtswidrigkeit des Moratoriums für Biblis betraf aber keineswegs nur die Abschaltung der beiden RWE-Blöcke in Hessen, sondern auch die ähnlich gearteten Verfügungen, die von den Atomaufsichtsbehörden in Baden-Württemberg (Neckarwestheim 1 und Philippsburg 1), Bayern (Isar 1), Niedersachsen (Unterweser) und Schleswig-Holstein (Brunsbüttel) erlassen worden waren. Deshalb klagten nun auch E.ON wegen Isar 1 und Unterweser sowie die EnBW wegen Neckarwestheim 1 und Philippsburg 1. Daß nicht auch noch Vattenfall klagte, war lediglich darauf zurückzuführen, daß Brunsbüttel ohnehin seit langem stillstand.

Zumindest der RWE-Konzern ging noch einen Schritt weiter: Er verlangte nun sogar für die Zeitspanne zwischen dem Ablauf des Moratoriums Mitte Juni 2011 und dem Inkrafttreten des geänderten Atomgesetzes am 6. August 2011 eine Entschädigung, weil ihm das Wiederanfahren von Biblis B nach Abschluß der Revision verwehrt worden sei. Er berief sich dabei auf einen Brief des hessischen Ministerpräsidenten Bouffier (CDU), in dem Bouffier dem damaligen Konzernchef Großmann auf dessen Wunsch schriftlich bestätigt hatte, daß die hessische Atomaufsicht gegen ein Wiederanfahren von Biblis B "vorgehen" werde. Am Ende addierten sich so die bekanntgewordenen Schadenersatzforderungen der drei KKW-Betreiber zu 882 Millionen Euro.

Es ist ein Unterschied, ob eine Regierung ihre Beschlüsse "par orde du mufti"
oder auf gesetzlicher Grundlage umsetzt

Die FDP spielte bei allem eine klägliche Rolle. Die bisherigen Prätorianer der Atomwirtschaft hätten ja nicht gleich das Schwert gegen die Kanzlerin ziehen müssen. Aber von einer Partei, die sich traditionell auch als Hüterin rechtsstaatlicher Grundsätze versteht, hätte man erwarten dürfen, daß sie die fehlende Rechtsgrundlage für das "Moratorium" bemerkt und beanstandet. Gerade aus liberaler Sicht ist es ein großer Unterschied, ob eine Regierung ihre Beschlüsse einfach "par orde du mufti" oder auf gesetzlicher Grundlage umsetzt. Der amtierenden Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hätte man die nötige Sensibilität noch am ehesten zugetraut. Sie hatte aber keinerlei Bauchschmerzen, denn sie bezeichnete das Moratorium als zwingend notwendig. Vom amtierenden Wirtschaftsminister Brüderle hörte man ebenfalls keinerlei Einwände. Dabei hätte zumindest den Fachleuten im Wirtschaftsministerium klar sein müssen, daß es sich bei dem Moratorium um eine völlig unsinnige Maßnahme handelte, die real nur die Sicherheit der Stromversorgung gefährdete.

Brüderle und andere FDP-Politiker hielten das Moratorium zunächst für eine wahltaktische Luftnummer. Spätestens die Landtagswahlen vom 27. März 2011 machten allerdings klar, daß die Wähler die Partei mit Sicherheit abstrafen würden, falls diese weiterhin auch nur einen Hauch von Sympathie für die Atomwirtschaft erkennen lassen würden. Als größter Wendehals tat sich nun der FDP-Generalsekretär Christian Lindner hervor: Schon am 30. März erhob er die Forderung, die vom Moratorium betroffenen sieben Reaktoren sowie das Kernkraftwerk Krümmel dauerhaft abzuschalten. Er stahl damit der Union die Schau, die genau dies plante, aber noch nicht öffentlich verkündet hatte.

"Die FDP stellt sich an die Spitze der Bewegung 'Sofort raus aus der Atomkraft'", kommentierte die "Frankfurter Allgemeine" mit gelindem Entsetzen. "Doch ist Politik viel mehr als das prinzipienlose Anpassen an die jüngste Stimmungslage".

Merkel läßt an ihrem Ausstiegs-Konzept nicht mehr rütteln

Es dauerte indessen nicht lange, bis die FDP eine erneute Wendung vollzog: Anfang Juni 2011 distanzierte sich Generalsekretär Lindner vom Regierungsbeschluß zum endgültigen Atomausstieg, weil dieser eine stufenweise Abschaltung der noch in Betrieb befindlichen Reaktoren vorsah. Diese sukzessive Abschaltung – anstelle des Jahres 2022 als einheitlicher Schlußtermin – sei von den Unionspolitikern Merkel und Seehofer gegen den Willen der FDP durchgesetzt worden. Damit hätten die KKW-Betreiber nicht mehr genügend Gelegenheit, die ihnen verbleibenden Reststrommengen abzuarbeiten und könnten Schadenersatzansprüche anmelden. Die Verantwortung dafür liege allein bei der Union.

Die Besorgnis wegen eventueller Schadenersatzansprüche wäre beim "Moratorium" für die sieben ältesten Kernkraftwerke durchaus angebracht gewesen. Dazu hat man von der FDP allerdings nie etwas gehört. Jetzt, wo sie damit ankam, war die Sorge unbegründet und nur vorgeschoben. Die drei verbliebenen KKW-Betreiber E.ON, RWE und EnBW verfügten durchaus über die Möglichkeit, ihre Reststrommengen komplett zu verbrauchen, zumal diese auch von Reaktor zu Reaktor und von Konzern zu Konzern übertragen werden konnten. Aus Sicht der Energiekonzerne wäre es aber sicher vorteilhafter gewesen, die verbleibenden neun Kernkraftwerke nach Belieben einsetzen zu können, anstatt sie unter dem Druck von festgelegten Schlußterminen die Reststrommengen zügig abarbeiten zu lassen. Anscheinend wollte die FDP bei ihrer alten Atom-Klientel wieder punkten. Sie nahm dafür sogar die unkalkulierbaren Netzprobleme in Kauf, die sich aus einem einheitlichen Abschalttermin ergeben hätten. Vielleicht waren die Energieexperten der Partei auch nur so unbedarft, daß sie die technischen Konsequenzen ihres Vorstoßes gar nicht überblickten.

Jedenfalls erntete der neue Wirtschaftsminister und Vizekanzler Rösler eine glatte Abfuhr, als er in der Kabinettsitzung am 3. Juni 2011 gegen die Schlußtermine argumentierte. Außerdem soll er darauf gedrängt haben, den endgültigen Ausstieg aus der Kernenergie um ein Jahr bis 2023 hinausschieben. Die Kanzlerin dachte aber keinen Augenblick daran, ihr Konzept zum Ausstieg aus der Kernenergie nochmals aufzudröseln. "Am Datum wird nichts geändert", soll sie ihren Stellvertreter kühl und knapp beschieden haben. Anschließend sorgten Unionspolitiker dafür, daß auch nach außen drang, wie die Machtverteilung am Kabinettstisch aussah. "So ließ Merkel Rösler beim Atomausstieg abblitzen" lautete die Schlagzeile in "Bild am Sonntag".

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