Udo Leuschner / Geschichte der FDP (64)

17. Bundestag 2009 - 2013


"Ab heute wird die FDP liefern"

Der Neubeginn mit Rösler ändert nichts am Sinkflug bei den Landtagswahlen

Mit seinem Verzicht auf eine erneute Kandidatur für den Parteivorsitz gelang es Westerwelle, einem Scherbengericht zu entgehen, zu dem sich der 62. Bundesparteitag der FDP am 13. Mai 2011 sonst unvermeidlich entwickelt hätte. Die Parteispitze bekam so fünf Wochen Zeit, um sich über den Nachfolger und andere Neubesetzungen in den Führungsgremien zu verständigen. Als der Parteitag in Rostock schließlich über die Bühne ging, wurde er nicht von Kampfabstimmungen geprägt, sondern von betonter Geschlossenheit des Auftretens und einer fast acht Minuten dauernden Beifallskundgebung für den scheidenden Vorsitzenden.

Als Favoriten für die Nachfolge galten Gesundheitsminister Philipp Rösler (38) und Generalsekretär Christian Lindner (32). Sehr schnell fiel dann die Entscheidung zugunsten Röslers, dem die Parteiführer wohl am ehesten zutrauten, der FDP zu einem freundlicheren Gesicht zu verhelfen. "Der nette Herr Rösler", wie er in den Medien oft mit ironischem Unterton genannt wurde, hatte eine ganz andere Art des Auftretens. Im Vergleich mit Westerwelle erschien er manchen gar als "Bambi", das sich mit unschuldigen Augen durch die mitunter tödlichen Gefahren des politischen Unterholzes bewegt.

Ganz so harmlos war Rösler freilich nicht, und man darf vermuten, daß er bereits Ambitionen auf den Parteivorsitz hatte, als er im Herbst 2009 den Posten des niedersächsischen Wirtschaftsministers und stellvertretenden Ministerpräsidenten aufgab, um in der neuen schwarz-gelben Bundesregierung das Gesundheitsministerium zu übernehmen. Daß Westerwelle ihn dazu überredete, geschah wohl auch mit dem Hintergedanken, die Popularität eines innerparteilichen Rivalen in Grenzen zu halten. Das Gesundheitsministerium war nämlich das unerfreulichste Ressort unter den fünf Ministersitzen, welche die FDP zu vergeben hatte. Das bürokratisierte, von unzähligen Pfründen-Interessen geprägte und dadurch überteuerte Gesundheitswesen hatte bisher allen Reformversuchen widerstanden. Mit neoliberalen Patentrezepten wie der von der FDP befürworteten "Kopfpauschale" war es schon gar nicht zu kurieren.

Brüderle muß das Wirtschaftsministerium abgeben und wird dafür Fraktionsvorsitzender

Die sogenannte Gesundheitsreform, die mit Jahresbeginn 2011 in Kraft trat, war dann auch alles andere als ein Glanzstück. Sie konservierte mit Milliardenaufwand die alten Strukturen, und wo dies ausnahmsweise nicht der Fall war, geschah dies zu Lasten der Versicherten, die künftige Kostensteigerungen alleine tragen mußten, während der Beitragsanteil der Arbeitgeber eingefroren wurde. Auch sonst hatte sich Rösler in seinem Amt nicht mit Ruhm bekleckert. Zum Beispiel setzte er sich dem Verdacht der Klientelpolitik aus, als er einen führenden Funktionär des Verbands der privaten Krankenversicherung zum Leiter der Grundsatzabteilung seines Ministeriums machte. Ähnlich suspekt war, wie sein Ministerium eine Vorlage der Pharmaindustrie in den Entwurf für ein Arzneimittel-Spargesetz einarbeiten ließ.

Der designierte neue Parteivorsitzende mußte deshalb von der unpopulären Bürde des Gesundheitsministeriums befreit werden, sofern der Neustart nicht von Anfang ein Fehlstart werden sollte. Als Nachfolger stand Daniel Bahr bereit, der sich als Parlamentarischer Staatssekretär bereits in das Ressort eingearbeitet hatte und als Vorsitzender des wichtigen Landesverbands Nordrhein-Westfalen über eine noch beträchtlichere Hausmacht verfügte als Rösler in Niedersachsen.

Wesentlich schwieriger war die Suche nach einem repräsentativerem Ministeramt für Rösler, denn Westerwelle wollte weiterhin Außenminister bleiben. Diesen Wunsch galt es zu respektieren, um den einvernehmlichen Wechsel an der Parteispitze nicht zu gefährden. Von den fünf Ressorts, die der FDP zustanden, verfügte aber nur das Wirtschaftsministerium über ähnliche Strahlkraft. Rainer Brüderle, der nach der Wahlniederlage in Rheinland-Pfalz eben erst als Landesvorsitzender zurückgetreten war, mußte deshalb wohl oder übel nun auch dieses Amt abgeben. Ersatzweise durfte er jedoch neuer Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion werden. Die bisherige Fraktionsvorsitzende Birgit Homburger war schon vor der jüngsten Wahlniederlage ihrer Partei in Baden-Württemberg umstritten gewesen. Sie verzichtete freilich erst, nachdem ihr zugesichert worden war, sie könne stellvertretende Parteivorsitzende werden.

Auf dem Rostocker Parteitag wird Rösler mit 95 Prozent neuer Parteichef

Der Wechsel an der Fraktionsspitze wurde am 10. Mai vollzogen. Am 12. Mai folgte die Ernennung Röslers zum Bundeswirtschaftsminister. Die übrigen Absprachen bedurften der Bestätigung durch den Bundesparteitag, der einen Tag später in Rostock begann. Um auf Nummer sicher zu gehen, unterbreitete Rösler die Wahlvorschläge für die restlichen neun Mitglieder des Präsidiums persönlich, nachdem er mit 95 Prozent der Stimmen zum neuen Parteivorsitzenden gewählt worden war. Und so schaffte es denn auch die baden-württembergische Landesvorsitzende Birgit Homburger, mit 66 Prozent zur ersten Stellvertreterin gewählt zu werden. Deutlich bessere Ergebnisse erzielten die beiden anderen Stellvertreter: Die bayerische Vorsitzende Sabine Leutheusser-Schnarrenberger bekam 85 Prozent der Stimmen und der sächsische Landeschef Holger Zastrow 89 Prozent. Generalsekretär Christian Lindner wurde mit 87 Prozent im Amt bestätigt. Der Bundestagsabgeordnete Patrick Döring trat mit 91 Prozent die Nachfolge des bisherigen Schatzmeisters Hermann Otto Solms an, der nicht mehr kandidierte. Bei der Vergabe der drei Beisitzer-Posten folgten die Delegierten ebenfalls Röslers Vorschlägen. Der hessische Landesvorsitzende Jörg-Uwe Hahn, der öfter mit Kritik am Bundesvorstand hervorgetreten war, erzielte mit 52 Prozent allerdings nur ein sehr knappes Ergebnis. Der Entwicklungshilfe-Minister Dirk Niebel kam dagegen auf 73 Prozent und die Verteidigungsexpertin Elke Hoff sogar auf gut 90 Prozent.

Außerdem waren die 34 Mitglieder des Bundesvorstands zu wählen. An erster Stelle ging es dabei um die 16 "Kurfürsten", die exklusiv von den Landesverbänden vorgeschlagen wurden und deren Wahl damit eher eine Formsache war. Dennoch erlangten Cornelia Pieper (Sachsen-Anhalt) und Wolfgang Kubicki (Schleswig-Holstein) erst im zweiten Wahlgang die erforderliche Mehrheit. Während Pieper eher als unfähig galt, verübelte man Kubicki offensichtlich seine Dauerkritik am Bundesvorstand. Bei der Wahl der übrigen 18 Beisitzer überwanden nur Katja Suding (Hamburg) und Gisela Piltz (NRW) im ersten Anlauf die 50-Prozent-Hürde. Die restlichen Plätze wurden im zweiten Wahlgang vergeben, in dem es nur noch auf die Höhe des Ergebnisses ankam. Aber auch da reichte es den beiden Europa-Abgeordneten Holger Krahmer (Sachsen) und Michael Theurer (Baden-Württemberg) nicht zum Sprung in den Bundesvorstand. Bei Theurer hatte dies wohl damit zu tun, daß er eine Woche zuvor auf dem Landesparteitag in Stuttgart gegen Birgit Homburger angetreten und diese nur knapp dem Sturz entgangen war.

Betont harmonischer Abschied von Westerwelle

Generell war der Rostocker Parteitag auf Harmonie gestimmt. Der mittlerweile 50 Jahre alte Westerwelle zog nochmals alle rhetorischen Register, die ihm zur Verfügung standen. Er räumte auch grundsätzlich eigene Fehler ein, ließ aber keinen Zweifel daran, daß die FDP unter seiner Führung ungemein erfolgreich gewesen sei. Er versicherte, daß er seinen Nachfolger Rösler nach Kräften unterstützen und ihm "nicht ins Lenkrad greifen" werde.

Rösler rühmte seinerseits die Verdienste Westerwelles, dem es die Partei zu verdanken habe, wenn sie heute mehr als 150 Landtagsmandate besitze, in sechs Landesregierungen sitze und mit 93 Abgeordneten über die größte Bundestagsfraktion ihrer Geschichte verfüge. Allerdings dürfe diese "strukturelle Stärke" nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Umfragen-Ergebnisse "nach oben ausbaufähig sind". Viele Menschen würden der Partei nicht mehr im wünschenswerten Maß vertrauen. Ihre Enttäuschung sei darauf zurückzuführen, daß man – "auch aus Rücksicht auf unseren Koalitionspartner" – notwendige und dringende Projekte zurückgestellt habe. Außerdem habe man zuviel gestritten, anstatt die gemeinsam erzielten Erfolge hervorzuheben.

Das werde sich aber ändern, fuhr Rösner fort. Die FDP werde das verlorene Vertrauen durch Verläßlichkeit, Berechenbarkeit und Entschlossenheit in der Sache zurückgewinnen und überzeugende "liberale Ergebnisse" präsentieren: Emphatisch rief er: "Liebe Wählerinnen und Wähler: Ab heute wird die FDP liefern!"

Rösler will zeigen, daß er seinen Machiavell gelesen hat

Dem dröhnenden Freiheitspathos seines Vorgängers zollte Rösler ebenfalls Tribut, wobei er jedoch nicht gleich das Schreckgespenst des Sozialismus an die Wand malte. Er sah die Freiheit eher durch kleine Veränderungen bedroht, die manchmal noch viel gefährlicher seien als die großen. Als Beispiel führte er den fleischlosen "Veggieday" an, den die rot-grüne Koalition in Bremen durchgesetzt habe, um die Bürger bei ihren Eßgewohnheiten zu bevormunden. Überhaupt seien die Grünen nicht der Aufklärung verpflichtet, sondern wollten alle anderen beglücken und missionieren. Sie könnten deshalb niemals eine liberale Partei sein, während die FDP ihrerseits nie eine grüne Partei sein wolle.

Seine These vom schleichenden Untergang der Freiheit durch kleine Veränderungen illustrierte Rösler mit folgendem Vergleich: "Wenn Sie einen Frosch in heißes Wasser werfen, dann hüpft er sofort heraus. Wenn Sie einen Frosch in kaltes Wasser setzen und dann langsam die Temperatur erhöhen, wird er zuerst nichts merken und nichts machen. Und wenn er etwas merkt, dann ist es zu spät, für den Frosch. Soviel zum netten Herrn Rösler."

Durch den Zusatz "Soviel zum netten Herrn Rösler" wurde dieser Frosch-Vergleich sehr vieldeutig. Vor allem konnte und sollte man ihn auf das Verhältnis zum Koalitionspartner beziehen, dem die FDP bisher nur sehr wenig abgerungen hatte, was dann aber wohl mehr Taktik als Schwäche gewesen wäre. Jedenfalls wollte Rösler signalisieren, daß er seinen Machiavell gelesen hatte und eben doch nicht das "Bambi" war, über das sich ausgebuffte Beobachter des Politikbetriebs mokierten.

Bei den Landtagswahlen folgt ein Nackenschlag dem anderen

Obwohl Westerwelle Außenminister blieb, mußte er den Titel des Vizekanzlers abgeben. In den Kabinettsitzungen nahm fortan Rösler neben der Kanzlerin Platz. Sein vollmundiges Versprechen, endlich sichtbare Ergebnisse zu liefern, konnte der neue Vizekanzler aber nicht einlösen. Als erstes scheiterte er mit dem Versuch, die atompolitische Volte der Koalition nach der Katastrophe von Fukushima wenigstens ein bißchen zurückzudrehen (siehe 65).

Noch schlimmer als die Unterlegenheit am Kabinettstisch waren für den frischgebackenen Parteivorsitzenden die fortdauernden Nackenschläge bei den Landtagswahlen: Die erste Hiobsbotschaft kam aus Bremen, wo die FDP am 22. Mai 2011 von 6,0 auf 2,4 Prozent abstürzte und aus der der Bürgerschaft flog, in der sie zuvor eine sechsköpfige Fraktion gestellt hatte. Zuletzt waren es allerdings nur noch fünf Sitze gewesen, da Ende 2010 der frühere Landes- und Fraktionsvorsitzende Uwe Woltemath die Partei verlassen und eine konkurrierende "Bürger-Liste" gegründet hatte. Durch den Austritt des Dissidenten, dessen Liste bei der Wahl auf 0,4 Prozent kam, hatte sie mit dem Fraktionsstatus einen großen Teil ihrer parlamentarischen Einkünfte eingebüßt. Der Landesvorsitzende Oliver Möllenstedt war auf dem Rostocker Parteitag eben erst als einer der "Kurfürsten" in den Bundesvorstand gewählt worden. Nun trat er mit dem gesamten Bremer Vorstand zurück. Vier Wochen später wählte ein Sonderparteitag den 34-jährigen Hauke Hilz, einen Professor für Lebensmittelchemie, zum Nachfolger.

Das nächste Fiasko war am 4. September 2011 die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern, wo die FDP vor vier Jahren 9,6 Prozent der Stimmen errungen hatte und nach zwölfjähriger Pause erstmals wieder ins Landesparlament eingezogen war. Nun sank sie auf 2,7 Prozent und mußte alle sieben Sitze wieder abgeben. Auch hier war der Landesvorsitzende Christian Ahrendt einer der eben erst gewählten "Kurfürsten" im Bundesvorstand, und auch er erklärte sogleich seinen Rücktritt. Auf dem folgenden Landesparteitag im November ließ er sich aber erneut zum Vorsitzenden wählen. Ein Jahr später trat er dann endgültig zurück und gab zudem sein Bundestagsmandat ab. Der politisch gut vernetzte Jurist hatte es nämlich geschafft, zum Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofs gekürt zu werden. Neuer Vorsitzender des Landesverbandes wurde der Finanzbeamte René Domke.

"Die FDP hat derzeit als Marke generell verschissen"

Der schleswig-holsteinische Fraktionschef Wolfgang Kubicki zog aus der Wahlniederlage in Mecklenburg-Vorpommern den Schluß, die FDP habe derzeit als Marke "generell verschissen". Rösler wollte sich dieser Einschätzung "in der Form und in der Sache" nicht anschließen. Er sprach von einem "bitteren Ergebnis", das umso enttäuschender sei, als die Partei bereits dabei sei, über Sacharbeit neues Vertrauen zu gewinnen. Die Partei müsse sich nun ihren "Brot-und-Butter-Themen" zuwenden und beispielsweise für eine stabile Währung und solides Wachstum eintreten.

Diese Erkenntnis kam nicht von ungefähr, denn innerhalb der Partei sammelten soeben die "Euro-Rebellen" um den Abgeordneten Frank Schäffler die notwendigen Unterschriften zur Herbeiführung eines Mitgliederentscheids gegen den sogenannten ESM-Vertrag (siehe 67). Die Euro-Krise war offensichtlich ein Thema, das Mitglieder wie Wähler bewegte. Deshalb ließ die Partei nun zur bevorstehenden Landtagswahl in Berlin plakatieren: "Berlin-Wahl ist auch Euro-Abstimmung." Diese schwammige Losung konnte jeder nach Gusto auslegen und durchaus auch als Euro-Skeptizismus mißverstehen.

Aber auch das half nichts. Am 18. September 2011 verlor die FDP ihre 13 Mandate im Abgeordnetenhaus von Berlin. Ihr Stimmanteil schrumpfte von 7,6 auf 1,8 Prozent. Damit war sie zum fünften Mal binnen eines Jahres aus einem Landesparlament geflogen. "Es ist unbestritten vielleicht die schwierigste Situation für die FDP seit ihrem Bestehen", bekannte Rösler, nachdem Präsidium und Bundesvorstand das neuerliche Desaster erörtert hatten.

Westerwelle wird auch als Außenminister zur Belastung

Der abgehalfterte Parteivorsitzende Westerwelle reiste unterdessen weiterhin als Außenminister um den Globus. Er erweckte dabei aber eher den Anschein eines "Untoten", wie ein Kommentator ätzend bemerkte. Glanz für die Partei fiel dabei nicht ab. Westerwelle galt eher zunehmend als Belastung. Zum Beispiel beharrte der Außenminister darauf, daß der lybische Diktator Gaddafi mehr durch wirtschaftliche Sanktionen gestürzt worden sei als durch die militärische Intervention der NATO (die im UN-Sicherheitsrat bei Stimmenthaltung der Bundesrepublik beschlossen worden war). Erst auf Drängen Röslers lenkte Westerwelle ein und ließ bei einem Treffen der NATO-Außenminister Ende August 2011 anklingen, daß die seinerzeitige Stimmenthaltung der Bundesrepublik wohl ein Fehler gewesen sei: "Gerade, weil wir die Chancen und Risiken anders abgewogen haben, gilt nun der Respekt Frankreich und den Verbündeten bei der Durchsetzung der Sicherheitsrat-Resolution 1973."

Rösler beging daraufhin den Fehler, es seiner Intervention zuzuschreiben, daß Westerwelle eingelenkt hatte. Am 30. August ließ er verlauten: "In außenpolitischen Fragen habe ich klar nochmals in der letzten Wochen als Parteivorsitzender die Linie der FDP, der Liberalen, vorgegeben. Der Bundesaußenminister ist dieser Linie auch klar gefolgt." – Das war schon deshalb unklug, weil er mit der Autorität des Außenministers zugleich die der eigenen Partei demontierte. Noch schlimmer war aber der Fauxpas, den Außenminister als Befehlsempfänger des Parteivorstands der FDP darzustellen. Formal durfte es ein solches imperatives Mandat sowieso nicht geben. Aber auch faktisch konnte davon nicht die Rede sein, denn in der unionsgeführten Bundesregierung bestimmte letztendlich die Kanzlerin die Richtlinien der Politik.

"Schluß mit der Trauer, Schluß mit den Tränen"

Röslers Versprechen, die FDP werde endlich "liefern", wandte sich nun gegen ihn. Praktisch konnte er nur Fehlschläge und Stagnation vorweisen. Bei den Landtagswahlen ging es unaufhörlich abwärts. Meinungsumfragen zufolge hätte die Partei auch bei Bundestagswahlen keine fünf Prozent mehr erreicht. Es gab keine neuen Gesetze, die man sich wenigstens zum Teil ans Revers hätte heften können. Innerhalb der Partei opponierte eine starke Minderheit gegen den Kurs der Führung in der Euro-Krise. Aber auch im innersten Kreis war man nicht so einig, wie es den Anschein hatte. Gegenüber dem schwachen Parteivorsitzenden, dem er im Mai das Wirtschaftsministerium überlassen mußte, hatte sich Rainer Brüderle als Vorsitzender der Bundestagsfraktion neu profiliert. Er verfügte über annähernd soviel oder sogar mehr Einfluß wie Rösler. Daß Westerwelle weiterhin als Außenminister amtieren durfte, verdankte er zu einem guten Teil dieser Patt-Situation.

Der außerordentliche Bundesparteitag, der ein halbes Jahr nach dem Wechsel der Führungsspitze am 12. November 2011 in Frankfurt stattfand, war ganz von dieser Malaise gezeichnet, obwohl Rösler sich betont optimistisch gab und die 600 Delegierten davor warnte, sich in Selbstmitleid zu verlieren: "Schluß mit der Trauer. Schluß mit den Tränen: Es ist Zeit, die Taschentücher wegzustecken." Rösler gab zu, daß die vergangenen sechs Monate seit seiner Wahl auch für ihn hart gewesen seien. Man dürfe jedoch nicht liegen bleiben, wenn man zu Boden gehe, denn sonst werde man ausgezählt. Deshalb laute nun die Losung: "Wir bleiben niemals liegen, wir stehen auf – jetzt erst recht."

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