Udo Leuschner / Geschichte der FDP (58)

16. Bundestag 2005 - 2009


Rückenwind

Die FDP profitiert vom propagandistischen Schulterschluß zwischen Unternehmerverbänden und Medien

Die Serie von FDP-Erfolgen bei den Landtagswahlen, die seit 2007 nicht mehr abriß, stellte politische Beobachter vor ein Rätsel: Wie konnte es geschehen, daß ausgerechnet die Fahnenträgerin des Neoliberalismus von Sieg zu Sieg eilte, während der Neoliberalismus als Begriff bzw. reine Worthülse immer mehr in Mißkredit geriet und nachgerade zu einem Schimpfwort wurde? Woran lag es, daß die deutschen Wähler jene Partei, die sich jahrelang als neoliberaler Pitbull auf der politischen Bühne aufgeführt hatte, nun straflos davonkommen ließen und sogar noch mit üppigen Stimmenzuwächsen belohnten?

Der innenpolitische Kommentator Heribert Prantl von der "Süddeutschen Zeitung" (16.10.2008) war nur einer von vielen, die sich verwundert die Augen rieben:

"Die Bürger sind bisher erstaunlich ruhig geblieben. Ihre innere Unruhe bricht sich nicht Bahn in Tollheit und Irrwitz, wie in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. (...) Es gibt aber keinerlei Rache der Wähler an der FDP, sie stellen die Verbindung vom Scheitern des Neoliberalismus zur FDP nicht her – im Gegenteil: Die FDP steht so gut da wie schon lange nicht. Das mag zu tun haben mit einer allgemeinen, nicht ganz so berechtigten Enttäuschung über die große Merkel/Steinmeier-Koalition. Vielleicht auch damit, daß der Wähler das Bankwesen als einen Spezialsektor der Wirtschaft, einen besonders dubiosen freilich, wahrnimmt, und die Lehrsätze der FDP daher nur in Bausch, aber nicht in Bogen verdammt. Sicherlich mag die Hausse der FDP auch ein wenig daran hängen, daß Westerwelle & Co. tunlichst nicht an ihre Sprüche von gestern erinnern."

Was war wirklich geschehen? Verdankte die FDP ihren enormen Auftrieb tatsächlich dem Verdruß an der Großen Koalition oder dem mangelnden Durchblick der Wähler? Fraß sie nun wirklich Kreide, damit ihre Stimme nicht mehr an die neoliberalen Tiraden von gestern erinnerte?

Offensichtlich war es verfrüht gewesen, der FDP nur solche Wahlergebnisse zuzutrauen, die sie bisher erzielt hatte. Aus jahrzehntelanger Erfahrung hätte man tatsächlich annehmen können, daß ihr in Bayern schon die Überwindung der Fünf-Prozent-Hürde schwer fallen und sie in Hessen allenfalls zehn Prozent erlangen würde. Dem war aber nicht so, wie der weite Sprung von 2,6 auf acht Prozent in Bayern und das Rekordergebnis von gut 16 Prozent in Hessen zeigten.

Ein später Triumph der Möllemann-Rezeptur schied als Ursache schon deshalb aus, weil sich die Partei vom Konzept des "Spaßwahlkampfes" und ähnlichem Allotria längst verabschiedet hatte. Guido Westerwelle gab sich inzwischen alle Mühe, in seinem Auftreten ernsthaft und sogar staatsmännisch zu wirken. Soweit die Ära Möllemann überhaupt noch eine Wirkung entfaltete, war sie negativ. Dies zeigte sich deutlich bei den letzten Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, die zwei Jahre nach dem Selbstmord Möllemanns im Mai 2005 stattfanden: Anstelle der 9,8 Prozent, die Möllemann zuletzt geholt hatte, fuhren seine Erben an der Spitze des Landesverbandes lediglich 6,2 Prozent ein. Von da an ging es aber sowohl bei der Bundestagswahl im Herbst 2005 wie auch bei fast allen folgenden Landtagswahlen nur noch steil aufwärts.

Rein rechnerisch war der Aufstieg der FDP hauptsächlich mit Verlusten von CDU und CSU erklären. In Kreisen der Unionsparteien war schon lange bekannt und sorgte für Ärger, daß die Erfolge der FDP zu ihren Lasten gingen. Auch der Normalbürger brauchte sich nur die Wahlergebnisse anzusehen, um zu wissen, woher der Wind der FDP die Stimmen zuwehte. Natürlich durfte man nicht einfach die Gewinne der FDP mit den Verlusten der Union gleichsetzen. Die Wählerwanderung verlief im Detail etwas komplizierter. Wegen des Wahlgeheimnisses konnte sie auch niemand exakt belegen. Für die Bundestagswahl 2005 wies Infratest-Dimap aufgrund von Wählerbefragungen aber doch einigermaßen glaubwürdig nach, daß die Union insgesamt mehr als eine Million Wähler an die FDP verloren hatte. Die Zugewinne der FDP zu Lasten anderer Parteien blieben dagegen relativ unbedeutend.

Das erklärte aber noch immer nicht, weshalb soviele ehemalige Unionswähler nun zur FDP überliefen. Sollte es sich um die altbekannten "Leihstimmen" handeln, die aus taktischen Gründen abgegeben werden, um einer schwarz-gelben Koalition über die Hürden zu helfen? – Dagegen sprach schon, daß der Wiedereinzug der FDP in den Bundestag zu keiner Zeit gefährdet war. Die FDP benötigte keine Hilfe, um die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. Wenn traditionelle Unionswähler dennoch der FDP ihre Stimme gaben, schwächten sie damit den Einfluß der eigenen Partei in einer künftigen Koalitionsregierung. Sie vergaben dann auch keine Leihstimmen, sondern echte Stimmen für die FDP.

Oder waren es etwa die Profiteure des Marktradikalismus innerhalb der Anhängerschaft der Union, die nun die FDP als ihre wahre Heimat entdeckten und ihr in Massen zuströmten? – Aber das wären keine Massen, sondern nur eine winzige Minderheit gewesen. Zahlenmäßig schlugen die Profiteure des neoliberalen Wirtschaftspolitik bei Wahlen nicht zu Buche. Der "Wirtschaftsrat der CDU" etwa, der sich großsprecherisch als "Wirtschaftsrat Deutschland" bezeichnet, dürfte gerade mal die Wirtschaftsinteressen von einigen Tausend CDU-Anhängern artikulieren. Hinter dieser neoliberalen Lobby steckte zwar viel Geld, aber keine nennenswerte Anzahl an Wählerstimmen. Gerade deshalb gab es ja solche Propagandaktionen wie die "Initiative neue soziale Marktwirtschaft" oder den "Konvent für Deutschland".

Sogar acht Prozent der Arbeitslosen wählten FDP

Das Stichwort "Initiative neue soziale Marktwirtschaft" weist in die richtige Richtung zur Lösung des Rätsels. Man wird sich von der Vorstellung lösen müssen, daß die Stimmabgabe für die FDP ein rationales Votum gewesen sei, das im großen und ganzen die realen Interessen der betreffenden Wähler widergespiegelt habe. Es verhielt sich gerade umgekehrt: Der Großteil der FDP-Wähler stammte aus Bevölkerungsschichten, die allen Grund gehabt hätten, die FDP nicht zu wählen und ihr sogar das Absinken unter die Fünf-Prozent-Hürde zu wünschen.

Zum Beispiel wählten, wenn man den Wahlforschern Glauben schenken will, von den Selbständigen rund 19 Prozent die FDP und von den Angestellten 11 Prozent. Beide Gruppen waren damit überdurchschnittlich am Bundestagswahlergebnis von 9,8 Prozent beteiligt. Das nimmt nicht weiter wunder, da man den typischen FDP-Wähler noch am ehesten bei gut verdienenden Mittelständlern vermuten würde, deren größte Sorge ist, wie sie ihre Steuerlast mindern. Etwas seltsam ist es allerdings schon, daß auch die Gruppe der Angestellten, die in ihrer Mehrheit nicht auf Rosen gebettet ist, überdurchschnittlich der FDP zuneigt. Sollte der normale Angestellte tatsächlich etwa ein Interesse an der Verschlechterung seiner Absicherung für Alter, Krankheit oder Arbeitslosigkeit haben? Will er etwa wirklich die weitgehende Privatisierung von Kranken- und Rentenversicherung? Ist es ihm tatsächlich ein Bedürfnis, die "Lohnnebenkosten" und damit sein eigenes Einkommen zu senken? Oder ist er etwa so dumm, daß er gar nicht erkennt, worauf die neoliberalen Tiraden eines Guido Westerwelle hinauslaufen?

Es kommt aber noch seltsamer: Sogar acht Prozent der Arbeiter und – man höre und staune – acht Prozent der Arbeitslosen haben bei der Bundestagswahl 2005 die FDP gewählt. Das liegt zwar etwas unter dem Durchschnitt, aber bei weitem nicht so abgrundtief, wie man aufgrund der objektiven Interessenlage dieser Gruppen erwarten dürfte. Ein typischer Arbeitsloser, der FDP wählt, ist eigentlich eine Witzfigur. Vor allem dann, wenn er auf Arbeitslosengeld II ("Hartz IV") angewiesen ist. Er verhält sich dann ungefähr wie ein Huhn, das dem Fuchs die Tür zum Hühnerstall öffnet, weil dieser ihm weisgemacht hat, daß da mal frischer Wind durchblasen müsse.

Es gibt somit nur eine überzeugende Erklärung: Der Aufbruch in neue Wählerschichten, die sowohl materiell als auch vom politischen Durchblick her eher minderbemittelt sind, war der FDP zumindest vorübergehend gelungen. Man wird dieses neu erschlossene Wählerpotential ungefähr dort vermuten dürfen, wo der FDP-Generalsekretär Dirk Niebel zwei Jahre früher seine Kolumnen für die Zeitschrift "praline" schrieb und gemeinsam mit dem Schmuddelblättchen eine "Job-Offensive" startete.

Aber das erklärt noch immer nicht, weshalb bei der Bundestagwahl 2005 mindestens eine Million Wähler und weitere Hunderttausende bei den folgenden Landtagswahlen objektiv gegen ihre eigenen Interessen gehandelt haben, indem sie für die FDP stimmten. Sollten sie so beschränkt gewesen sein?

Beschränkt war zunächst mal der Blickwinkel, der in traditioneller Weise eine Kausalbeziehung zwischen Wahlergebnis und parteilicher Programmatik vermutete. Die politischen Beobachter waren sozusagen betriebsblind, wenn sie nach einer solchen Beziehung suchten und sie im Falle der FDP nicht finden konnten. Genauso hätten sie sich darüber wundern können, daß bestimmte Produkte der Pharmaindustrie riesige Umsätze und Gewinne erzielen, obwohl sie erwiesenermaßen nutzlos oder gar schädlich sind.

Die Wahlerfolge der FDP waren ebenfalls hauptsächlich auf geschicktes Marketing und PR-Arbeit zurückzuführen. Normalerweise ist das ein Aspekt, den jeder einigermaßen kritische Beobachter des politischen Geschehens wie selbstverständlich berücksichtigt. Man denke etwa an die Aufmerksamkeit, die Westerwelles "Spaßwahlkampf" des Jahres 2002 gefunden hat, mitsamt dem PR-Desaster, das seinen "Tandempartner" Möllemann in den Tod trieb.

Gesamtmetall betreibt Propaganda für neoliberale Politik

Der Stimmengewinn bei den Bundestagswahlen 2005 und die anschließenden Erfolge bei den Landtagswahlen waren aber nicht allein mit einer geschickten Wahlkampfführung, den zur Verfügung stehenden Geldern und ähnlichen Momenten zu erklären, die sich ausschließlich auf die FDP bezogen. Daß das Parteischiff plötzlich so flott in Fahrt geriet, lag hauptsächlich daran, daß ihm ein mächtiger Rückenwind die Segel füllte. Dieser Rückenwind kam von einer großangelegten Propagandaaktion, die von den Unternehmerverbänden zusammen mit den tonangebenden Medien gestartet worden war, um neoliberale Programmatik populär zu machen, ohne den Neoliberalismus beim Namen zu nennen. Es handelt sich um eine Kampagne, die nach allen Regeln der Kunst von PR-Fachleuten und mit viel Geld durchgeführt wurde. Sie war nicht in erster Linie darauf angelegt, die Wahlergebnisse der FDP zu verbessern, sondern diente allgemein der Sympathie- und Schleichwerbung für den Neoliberalismus. Der Auftrieb für die FDP war aber sicher ein willkommener Nebeneffekt und übertraf von der PR-Wirkung her alles, was die Partei aus eigener Kraft hätte leisten können.

Als die "Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie" (Gesamtmetall) am 12. Oktober 2000 die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM) gründeten, war dies als Flankenschutz für die damals amtierende rot-grüne Bundesregierung gedacht, die unter Gerhard Schröder unverhohlen die Unternehmer begünstigte, nachdem Oskar Lafontaine im März 1999 entnervt das Handtuch geworfen hatte und von allen Ämtern zurückgetreten war. Vor allem sollte die INSM den Großangriff auf das bisherige Verständnis von "sozialer Marktwirtschaft" absichern, den die Schröder-Regierung ab 2003 mit den sogenannten Hartz-Gesetzen startete. Sie sollte die Bevölkerung davon überzeugen, daß es notwendig sei, Sozialabbau zu betreiben, die Löhne zu senken, das Rentenalter zu erhöhen oder sich auf private Altersvorsorge zu verlassen. Als Transportmittel der Botschaft dienten Anzeigen, Plakate und Fernsehspots, aber auch interessengeleitete Studien und Umfragen, die über geeignete Kanäle plaziert wurden.

"Medienpartner" als Verstärker

Ein besonderer Trick der Kampagne bestand darin, die Unternehmerverbände als Urheber und Finanzierer zwar nicht zu verleugnen – die Enthüllung der Hintermänner wäre vorhersehbar gewesen –, aber doch für den Normalbürger unsichtbar werden zu lassen. Die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" gerierte sich nach außen als eine überparteiliche Vereinigung von mehr oder weniger prominenten Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik, die über den "Reformstau" in Deutschland zutiefst besorgt waren und aus staatsbürgerlicher Verantwortung wie auch aus der ihnen qua Amt zustehenden Fachkompetenz nun ihre Stimme erhoben.

Ein weiterer, darauf aufbauender Trick war, die Botschaft nicht nur durch bezahlte Anzeigen zu verkünden, sondern durch allerlei "Medienpartner" publizieren zu lassen. Beispielsweise wurden sendefertige Beiträge für Fernseh- und Hörfunksender produziert und kostenlos zur Verfügung gestellt. Für den Unterricht an Schulen entwickelte man neoliberal inspirierte Lehrmittel zu Themen wie "schlanker Staat". Bildagenturen erhielten passende Bildmotive. Und wenn jemand einen Interviewpartner brauchte, stellten sich die Mitstreiter der Initiative gern als angebliche Experten zur Verfügung. Zu diesen "Kuratoren und Botschaftern" der INSM gehörte etwa der Volkswirtschafts-Professor Karl-Heinz Paqué, der von 2002 bis 2006 für die FDP das Finanzministerium von Sachsen-Anhalt leitete und eine sehr unrühmliche Rolle im Skandal um die landeseigene Immobiliengesellschaft Limsa spielte.

Für Medien, die zumindest den Anschein von Unabhängigkeit wahren wollten, verbot es sich von selbst, zu den "Medienpartnern" der INSM zu gehören. So tauchten die "Frankfurter Allgemeine", die "Süddeutsche Zeitung" oder "Die Welt" nicht in diesem Zusammenhang auf, obwohl sie in ihrem redaktionellen Teil durchaus ähnliche Positionen wie die INSM propagierten (siehe hierzu das folgende Kapitel). Keine solchen Hemmungen hatten dagegen unter anderen die "Wirtschaftswoche", die "Financial Times Deutschland" und "Focus Money". Auch das FAZ-Schwesterblatt „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ machte an vorderster Stelle mit, indem es gemeinsam mit der INSM den „Reformer des Jahres“ kürte. Eine widersprüchliche Haltung zeigten die „Frankfurter Rundschau“ und die Wochenzeitung „Die Zeit“, die im Laufe der Jahre teils kritisch über die INSM berichteten, teils aber auch mit ihr kooperierten.

"Mehr netto vom brutto" als Seifenoper

Im Unterschied zu privaten Fernseh- und Hörfunksendern kamen die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten nicht als offizielle Medienpartner der Unternehmerkampagne in Frage. Die INSM fand aber auch hier Mittel und Wege, um neoliberale Propaganda zu treiben. So gab sie im Jahr 2002 insgesamt 58.670 Euro an Bestechungsgeldern aus, damit eine private Produktionsfirma, die für die ARD die Seifenoper "Marienhof" drehte, in sieben Folgen der Serie geeignete Passagen zur Verbreitung neoliberaler Ideologie einbaute.

Zum Beispiel wurde die Parole "Mehr netto vom brutto", mit der FDP ihre Wahlkämpfe bestritt, in der "Marienhof"-Sendung vom 26. Juli 2002 popularisiert. Laut Drehbuch findet hier die sympathische, aber in wirtschaftlichen Fragen unbewanderte Toni einen gut bezahlten Job als Verkäuferin im Unternehmen des Herrn Fechner. Sie freut sich zunächst über das viele Geld, das sie jeden Monat für den Job bekommt. Doch bei Auszahlung eines Vorschusses erlebt sie eine böse Überraschung:

Fechner (rechnet ihr vor): „Sie verdienen brutto genau 1.227 Euro das macht nach Abzug aller Steuern und Sozialabgaben genau 901 Euro netto!"

Toni: „Ja und wo geht das ganze andere Geld hin?"

Fechner: „Haben sie denn noch nie einen Lohnzettel gesehen? 1.227 Euro brutto minus 74 Euro Steuern, minus 252 Euro Sozialabgaben macht genau 901 Euro netto"

Toni (rechnet): „Das reicht ja noch lange nicht für die Kaution! Das ist ja Wucher!"

Fechner: „Damit müssen sie sich an den Finanzminister wenden! Und jetzt darf ich sie wieder bitten! Bei soviel Vorschuß erwarte ich entsprechendes Engagement!"

Solche diskrete Seelenmassage, die ein unbedarftes Publikum unterschwellig erreichte, war für den Wahlerfolg der FDP viel wichtiger und entscheidender als die eigene Wahlkampfwerbung. Wenn sie nun "mehr netto vom brutto" plakatierte, konnte sie die Früchte der Saat, die von der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" ausgestreut worden war, direkt in ihre Scheuer einfahren.

Die Kampagne der Unternehmerverbände war äußerst langfristig angelegt: Zehn Jahre lang sollten jährlich bis zu zehn Millionen Euro ausgegeben werden, um neoliberale Konzepte zu propagieren, ohne den Neoliberalismus beim Namen zu nennen. Spätestens nach der Halbzeit dieses Programms zeigte sich, daß Gesamtmetall keine Fehlinvestition getätigt hatte.

Bertelsmann dirigiert die Kampagne "Du bist Deutschland"

Kurzfristiger und verschwommener, im Prinzip aber ähnlich angelegt war die Kampagne "Du bist Deutschland", die Ende 2005 unter Federführung der Bertelsmann AG von 25 Medienunternehmen gestartet wurde. Es handelte sich hier vordergründig um ein reines Wohlfühl-Programm im Sinne des "positiven Denkens". Nur Außenseiter wie die "tageszeitung" (26.9.05) erkannten dahinter die "neoliberale Wundertüte". Der Rest der Medien war sowieso direkt beteiligt: Alle Medienkonzerne machten mit, alle Leitmedien von FAZ bis "Spiegel", und auch die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten scheuten sich in diesem Fall nicht, mit der privaten Schmuddelkonkurrenz an einem Strang zu ziehen.

Mit der Kampagne "Du bist Deutschland" sollte wohl endlich mal ein positiver Akzent gesetzt werden, nachdem sich die neoliberale Propaganda bisher vor allem in Schwarzmalerei ergangen hatte, um die Bevölkerung von der Notwendigkeit der sogenannten "Reformen" zu überzeugen. Es ging darum, die Zumutungen der neoliberalen Politik freudig und unverdrossen zu schlucken. Die Kampagne startete just vor den Bundestagswahlen 2005, als die bis dahin regierende rot-grüne Koalition abgewirtschaftet hatte und ihre Wahlniederlage feststand. Die Initiatoren verrechneten sich aber insofern ein bißchen, als sie eigentlich mit der Ablösung durch eine schwarz-gelbe Koalition gerechnet hatten. Stattdessen lieferten sie nun die positive Begleitmusik zum Amtsantritt der Großen Koalition aus Union und SPD.

Weiter