Udo Leuschner / Geschichte der FDP (59) |
16. Bundestag 2005 - 2009 |
Am 11. Juni 2007 erschien in der "Frankfurter Allgemeinen" ein seitenfüllender Gast-Beitrag von Kurt Beck, in dem der SPD-Vorsitzende der Union vorwarf, ihr Neoliberalismus sei eine "Ideologie ohne Erdung". Genau genommen übte Beck damit keine Kritik am Neoliberalismus, den seine eigene Partei unter Gerhard Schröder schließlich selber und exzessiv praktiziert hatte, als sie an der Regierung war. Er vermißte lediglich die "Erdung" dieses Konzepts beim Koalitionspartner und politischen Konkurrenten CDU, was nun eben doch wieder als eine milde Form der Kritik an der ganzen Richtung verstanden werden konnte und sollte. In Analogie zur Elektrotechnik bedeutete der Vorwurf mangelnder Erdung, daß bei einer an sich nützlichen Vorrichtung wie der Steckdose der Schutzkontakt fehlt, um einen unter Umständen tödlichen Stromschlag zu verhindern. Der schwammige Vorwurf ließ aber auch allerlei spirituell-esoterische Auslegungen zu.
"Die liberale Bewegung ist eine wichtige Kraft des Fortschritts", schrieb der Parteivorsitzende, der als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz seit vielen Jahren zusammen mit der FDP regierte. "Aber das Wegducken vor den sozialen Herausforderungen unserer Zeit ist leider symptomatisch für eine Schwundform des Liberalismus, die politische Freiheit mit Privatisierung verwechselt und den solidarischen Bürger zum egoistischen Bourgeois zurückentwickeln will."
Für die Schröder-deformierte SPD waren das neue Töne. Der zeitweilige SPD-Vorsitzende Beck unternahm damit den zaghaften Versuch, sich von der eigenen politischen Vergangenheit zu distanzieren. Denn ausgerechnet die rot-grüne Bundesregierung hatte unter dem Deckmantel von "Reformen" die neoliberale Ideologie in Politik umgesetzt. Natürlich vermied es Beck, dies offen zuzugeben. Indirekt belastete er aber auch die eigene Partei, wenn er feststellte:
"Seit eineinhalb Jahrzehnten erleben wir, wie sich elementare Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft mehr und mehr auflösen. Geregelte Verhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern werden durch die einseitig ausgeübte Vormachtstellung der Kapitalgeber ersetzt. An die Stelle des geduldigen Geldes tritt die Hektik des kurzfristigen Profits. Wo früher der Gewinn zwischen Kapitel und Arbeit mehr oder weniger fair aufgeteilt wurde, erwarten die internationalen Finanzmärkte nun eine Maximalrendite auf eingesetztes Kapital und nehmen auf prekäre Löhne oder Arbeitsbedingungen kaum Rücksicht. Die aktuell diskutierten Hedge-Fonds sind nur die Spitze des Eisbergs. Denkt man diese Entwicklung logisch fort, steht am Ende eine Gesellschaft, die selbst nach dem Prinzip der Börse funktioniert: Nicht Leistung entscheidet, sondern der schnelle Gelegenheitsgewinn."
Wie schon gesagt: Es war vor allem die rot-grüne Bundesregierung gewesen, die genau diese Entwicklung vorangetrieben hatte, die Beck jetzt kritisierte. Aber nicht Selbstbezichtigung war seine Absicht. Er wollte lediglich verhindern, daß die SPD in der Wählergunst noch weiter absackte und sogar von der Union links überholt wurde. Er wollte seiner eigenen Partei den neoliberalen Pelz etwas waschen, ohne sie dabei naß zu machen. Und weil das nicht so einfach war, nahm er sich ersatzweise den neoliberalen Pelz der Union vor.
Die Union war aber auch gerade dabei, viel Kreide zu schlucken, um nicht mehr an der rauhen Stimme des Neoliberalismus erkannt zu werden und damit die Wähler zu verschrecken. Zunächst waren es nur Außenseiter und politische Ruheständler gewesen, die eine Rückkehr zur "sozialen Martwirtschaft" alten Stils verlangten. "Was im Frühkapitalismus schon falsch war, das wird auch im Spätkapitalismus nicht richtig", zürnte etwa der ehemalige Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm im September 2005. Und: "Die großen liberalen Ideen sind zu einem Wirtschaftsrezept verkümmert." Der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler wurde 2007 sogar Mitglied im globalisierungskritischen Netzwerk Attac, das sich dem weltweiten Kampf gegen den Neoliberalismus verschrieben hat.
Parallel zu solchen CDU-Politikern, die es mit der "sozialen Marktwirtschaft" ernst meinten, regten sich in beiden Unionsparteien bald auch starke Kräfte, die eine erklärtermaßen neoliberale Ausrichtung der Partei schon aus taktischen Gründen ablehnten. So bangte die CSU in Bayern um den Verlust ihrer Stellung als Volks- und Staatspartei. "Wenn Herr Westerwelle glaubt, es wird nach der Wahl ein neoliberales Streichkonzert geben, lernt er den Widerstandsgeist der CSU kennen", tönte der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer im Bundestagswahlkampf des Jahres 2009. In Nordrhein-Westfalen verweigerte der CDU-Ministerpräsident Rüttgers schon 2005 dem Koalitionspartner FDP das Wirtschaftsministerium, weil er seine Wirtschaftspolitik nicht durch neoliberale Ultras repräsentieren lassen wollte.
Unter diesen Umständen konnte Becks Versuch, den Schwarzen Peter an die Union weitergeben, nicht so recht gelingen. Noch weniger als die SPD waren CDU und CSU bereit, sich das Etikett "neoliberal" anhängen lassen. Das zeigte sich bei einer kleinen Umfrage unter Spitzenpolitikern der Union, deren Ergebnis die "Frankfurter Allgemeine" zwei Tage nach Becks Artikel veröffentlichte: Keiner der Befragten wollte als "neoliberal" gelten, auch wenn sie zugaben, daß ihnen der Schuh eigentlich hervorragend passen würde: Der Begriff neoliberal sei "ja inzwischen zum Schimpfwort mutiert", bedauerte etwa der hessische Ministerpräsident Roland Koch. Und der Haushaltsexperte Steffen Kampeter meinte: "Den Kampf um das Wort brauchen wir nicht mehr zu führen. Den haben wir verloren."
Im Unterschied zu SPD und Union konnte es sich die FDP nicht so einfach machen, den verlorenen Kampf um eine positive Besetzung des Wortes "neoliberal" einfach zu akzeptieren oder diesen diskreditierten Begriff gar als Vorwurf in der Auseinandersetzung mit politischen Konkurrenten zu verwenden. Zwar verzichtete auch sie darauf, sich selbst in plakativer Weise als neoliberal zu bezeichnen. Den Parteistrategen war schon lange klar, daß sie damit keinen Blumentopf gewinnen, aber sehr viel verlieren konnten. Schon 1997 ereiferte sich der FDP-Ehrenvorsitzende Otto Graf Lambsdorff über die "mißbräuchliche Benutzung des Wortes neoliberal, das inzwischen ja geradezu als Schimpfwort herhalten muß". Aber so wie damals für Lambsdorff bestand für sie das Ärgernis lediglich darin, das der Begriff inzwischen nur noch negative Assoziationen auslöste. Und so wie Lambsdorff argumentierten sie damit, daß es sich hier um ein Mißverständnis oder gar um eine mißbräuchliche Umdeutung handeln müsse, weil der "Neoliberalismus" viel älter und nichts anderes als jenes allseits hoch geschätzte Konzept der "sozialen Marktwirtschaft" sei, das schon Ludwig Erhard vertreten habe.
Für die FDP ging es dabei um mehr als um eine ideengeschichtliche Exegese. Die negative Konnotierung des Begriffs "Neoliberalismus" rührte für sie ans Eingemachte, weil ihr angeblicher Liberalismus im wesentlichen aus nichts anderem als Neoliberalismus bestand und weil es schon immer eine Irreführung bedeutete, beides gleichsetzen zu wollen. Der FDP war diese Irreführung bisher weitgehend gelungen.
Noch nie war die Partei – dem eigenen Anspruch und dem verbalen Anschein nach – so "liberal" gewesen wie seit dem Bruch der sozialliberalen Koalition und ihrer erneuten Hinwendung nach rechts. Sie legte sich nun sogar offiziell den Namenszusatz "Die Liberalen" zu. Damit gelang ihr ein PR-Kunststück ersten Ranges: Die Medien übernahmen diese Selbstbezeichnung quasi als Synonym für die FDP. Unentwegt war nun in den Nachrichten und bei anderen Gelegenheiten von "den Liberalen" die Rede, wenn die FDP gemeint war. Für Unwissende wurde Liberalismus so identisch mit FDP-Politik.
Hätte sich die FDP den Zusatz "Die Neoliberalen" verliehen, wäre sie wohl schnell in die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde gekommen. "Die Liberalen" weckte dagegen beim Großteil der Wähler noch immer positive Assoziationen. Aus dem fatalen Fehler, sich selber als die "Partei der Besserverdienenden" zu bezeichnen, hatten die Parteistrategen gelernt. Den bitteren neoliberalen Kern umhüllten sie seitdem mit liberaler Schokolade, indem sie sich nun wieder mehr als Verfechter bürgerlicher Freiheiten gerierten und wenigstens verbal mehr Rücksicht auf die "sozial Schwachen" nahmen. Als 2009 der ehemalige FDP-Justizminister Werner Maihofer starb, widmete Westerwelle ihm einen Nachruf, als ob dieser Linksliberale sein geistiger Ziehvater gewesen wäre. Zusätzlich überzuckerte die Partei ihren Marktradikalismus mit einem schrillen Freiheitspathos, als habe sie neben "Liberalismus" auch den Begriff "Freiheit" in Erbpacht genommen. Beispielsweise trug die parteieigene Stiftung nun nicht mehr bloß den Namen Friedrich Naumanns, sondern nannte sich "Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit".
Der wachsende Unmut über den Neoliberalismus als weltweite Politik des sozialen Kahlschlags und Bereicherung der ohnehin schon Reichen traf so die FDP nicht direkt, sondern ging haarscharf an "den Liberalen" vorbei. Aber auch nur haarscharf: So wie die Sache auf den Begriff "neoliberal" durchgeschlagen und ihn diskreditiert hatte, so gefährdet war der liberale Tarnanstrich der FDP. Allenthalben lugte darunter der reine Neoliberallsmus hervor. Die Partei hatte deshalb ein lebhaftes Interesse daran, den in Verruf geratenen Begriff wieder aufzuwerten und die Lambsdorffsche These von der "mißbräuchlichen Benutzung des Wortes neoliberal" plausibel zu machen.
Eine Propagandakampagne nach Art der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" hätte diese Aufgabe nicht zu bewältigen vermocht. Es ging vielmehr gerade darum, auf einer intellektuellen Ebene zu unterfüttern, was diese Kampagne lediglich suggerierte: Die angebliche Identität von Neoliberalismus und "sozialer Marktwirtschaft". Die Friedrich-Naumann-Stiftung wäre dazu schon eher berufen gewesen. Dieser vermeintliche "think tank" bestand aber im wesentlichen aus strammen Parteisoldaten, die intellektuell den Charme einer Drücker-Kolonne verbreiteten. Beispielsweise unternahm die Parteistiftung im Juni 2009 erhebliche Anstrengungen, um die gewaltsame Absetzung des Präsidenten von Honduras, Manuel Zelaya, zu rechtfertigen. Sogar das Faktum des Militärputsches wurde in Publikationen der Stiftung als "Legende" bezeichnet. Den Hintergrund bildete, daß die FDP Zelaya zunächst unterstützt hatte. Als der liberale Politiker dann aber Sympathien für die sozialpolitischen Vorstellungen des venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez entwickelte, fiel er sowohl bei den Militärs im eigenen Lande wie bei der "Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit" sofort in Ungnade.
Die FDP war so in jeder Hinsicht überfordert damit, den diskreditierten Begriff "neoliberal" mit positivem Inhalt zu füllen. Hinzu war sie auch kein glaubwürdiger Absender, denn keine andere Partei stieß in intellektuellen Kreisen inzwischen auf soviel Mißtrauen und geradezu Verachtung.
Zu Hilfe kam ihr indessen der Umstand, daß es in dieser Frage nicht nur um das Wohl und Wehe einer Partei ging, sondern – viel wichtiger – um die neoliberale Ideologie und deren Überzeugungskraft schlechthin. Wie bei der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" übernahmen die Hauptpropaganda deshalb andere. In den scheinbar schon verlorenen Kampf um eine positive Besetzung des Wortes "neoliberal" stürzten sich nun unverdrossen jene Anhänger der neoliberalen Glaubenslehre, die als Journalisten an den Schalthebeln von parteiunabhängigen Leitmedien saßen.
Zu diesen Leitmedien für anspruchsvollere Kreise gehörte die "Frankfurter Allgemeine", die sich als "Blatt für die Gebildeten und Nachdenklichen aller Stände" (so die frühere Eigenwerbung) schon immer der Volksaufklärung über den harten Kern ihrer Klientel hinaus verpflichtet fühlte. Beispielsweise nervte das Blatt seine Leser seit Jahr und Tag mit einer Kolumne unter dem Motto "Zur Ordnung!", die vom früheren Chef des wirtschaftspolitischen Ressorts, Hans D. Barbier, verfaßt wurde. Der FAZ-Redakteur war nach seiner Pensionierung zum Vorsitzenden der "Ludwig-Erhard-Stiftung" ernannt worden. Nun durfte er als Chef dieses neoliberalen Propagandavereins in einem Leitmedium der deutschen Publizistik regelmäßig den Leitton angeben und sich als Ordo-Liberaler aufspielen. Er war sich aber auch nicht zu schade, als regelmäßiger Kolumnist der "Bild-Zeitung" für ein schlichteres Publikum zu schreiben. Beispielsweise erfuhren die "Bild"-Leser am 8. Oktober 2008 dank Barbier, daß Ludwig Erhard die Bankenkrise als "Verstoß gegen die Moral des Marktes" kritisiert hätte...
Die Friedrich-Naumann-Stiftung – damals noch ohne den Zusatz "für die Freiheit" – hatte den Hayek-Jünger Barbier schon 1985, als er noch Redakteur bei der "Süddeutschen Zeitung" war, mit dem "Karl-Hermann-Flach-Preis" ausgezeichnet. Ab dem Jahr 2001 verzichtete die Stiftung dann auf die weitere Verleihung dieses Preises; offenbar fand sie es selber unpassend, neoliberale Propaganda ausgerechnet im Namen eines sozialliberalen Vordenkers auszuzeichnen.
Die "Frankfurter Allgemeine" ließ auch sonst nichts unversucht, den Neoliberalismus, der inzwischen so arg in Mißkredit geraten war, als legitimen Erben des Liberalismus im allgemeinen und des Ordo-Liberalismus im besonderen darzustellen. "Der mißverstandene Neoliberalismus", lautete etwa die Überschrift eines Artikels, der fünf Tage nach Becks Distanzierungsversuchen im selben Blatt erschien. Der Verfasser Philip Plickert war ein Nachwuchsredakteur des Blattes, der die sozialliberale Phase der FDP und erst recht den Ordo-Liberalismus nur vom Hörensagen kennen konnte. Im Wege einer "historischen Spurensuche" half er nun, genau diese Spuren zu verwischen. Die völlig unterschiedlichen Persönlichkeiten, die 1947 der Einladung Hayeks zu einem Treffen am Mont Pelerin gefolgt waren, präsentierte er als Mitglieder einer einheitlichen, von Hayek dominierten Denkrichtung. Die Unterzeile des Artikels lautete entsprechend: "Vor siebzig Jahren entstand eine Denkrichtung, die wieder mal in der Kritik steht."
In der Tat war es vor siebzig Jahren ein relativer Fortschritt, wenn Rechtsliberale ihre Auffassung korrigierten, der Staat müsse sich aus dem wirtschaftlichen Geschehen heraushalten, weil das freie Spiel der Marktkräfte nicht gestört werden dürfe. Die Linksliberalen waren noch nie der Meinung gewesen, daß man die "soziale Frage" und andere gesellschaftliche Probleme einfach dem Markt überlassen könne. Deshalb kam es auch Mitte des 19. Jahrhunderts zum großen Bruch innerhalb des deutschen Liberalismus und zur Entstehung der Sozialdemokratie. Bei den Rechtsliberalen bedurfte es dagegen zweier Weltkriege und des Nationalsozialismus, ehe ihnen dämmerte, wohin ein ungezügelter Kapitalismus führen kann.
So gesehen waren jene Volkswirte, die sich 1947 im einzigen unversehrten Land Europas am Genfer See zusammenfanden, auf dem Weg der Läuterung. Großartige Denker waren sie alle nicht, eher Epigonen und Eklektiker. Außerdem waren sie weit entfernt davon, ein einheitliches Konzept zu vertreten. Beispielsweise trennten einen Alexander Rüstow und einen Friedrich A. Hayek Welten, wenn es um die Frage der Sozialbindung des Privateigentums ging. Aber sie begriffen immerhin, daß die Idee des "Nachtwächter-Staats" nicht länger aufrechtzuerhalten war, daß jede Art des Wirtschaftens eines staatlichen Ordnungsrahmens bedurfte, der auch vor Interventionen nicht zurückscheut, wenn das freie Spiel der Marktkräfte zur Selbstzerstörung führt.
"Was Neoliberalismus wirklich ist", lautete ein anderer Artikel vom 12. Juni 2007, mit dem sich der FAZ-Redakteur Gerald Braunberger zur Aufnahme in die Tafelrunde der Ritter vom Mont Pelerin empfahl. "Es existiert keine Alternative zu den neoliberalen Rezepten", befand er kurz und bündig. "Und Beck irrt sich in seinem Feindbild."
Auch hier wurde Zutreffendes und Falsches vermischt. Zutreffend war beispielsweise der Hinweis, daß der Ordoliberalismus nicht erst 1947 beim Treffen am Mont Pelerin geboren wurde, sondern entsprechende Denkansätze schon 1938 auf einer Konferenz in Paris diskutiert wurden. Zutreffend war ferner die Unterstellung, Beck wolle mit seiner Attacke auf den Neoliberalismus der Union lediglich von der Misere der eigenen Partei ablenken. Falsch war aber auch hier die versuchte Gleichsetzung des aggressiven Neoliberalismus nach Art Hayeks und Friedmans mit dem Ordo-Liberalismus eines Walter Eucken oder Alexander Rüstow. Falsch war natürlich erst recht die Behauptung, es gebe "keine Alternative zu den neoliberalen Rezepten". Die apodiktische Form, in der diese Behauptung vorgetragen wurde, machte die Sache nicht besser. Sie unterstrich nur wieder einmal den geradezu religiösen Fanatismus, mit dem die Mont-Pelerin-Gemeinde ihre Glaubenslehre propagiert und als weltweit gültiges Credo durchsetzen möchte.
Die Anhänger der neoliberalen Glaubenslehre schienen inzwischen fast alle Schlüsselpositionen in den Medien erobert zu haben. Vor allem in den Wirtschaftsredaktionen herrschte die geistige Bandbreite eines Kirchenblattes. Vom "Handelsblatt", der "Wirtschaftswoche" oder der "Financial Times Deutschland" war das nicht anders zu erwarten, da sie nun mal sehr direkt von jenen Kreisen abhingen, die von der neoliberalen Politik profitierten und wenigstens zu profitieren glaubten. Sie richteten auch keinen allzu großen Schaden an, wenn sie die Katholiken noch katholischer machten. Verhängnisvoller war die neoliberale Uniformität der allgemeinen Leitmedien und der Publikumspresse. Auch der "Spiegel" hatte sich zu einem neoliberalen Hofblatt gemausert und nutzte den Rest seiner in früheren Jahren erworbenen Reputation als kritisches Blatt, um den angeblichen "Reformstau" zu beklagen. Besonders tat sich dabei der Berliner Büroleiter Gabor Steingart hervor, der 2004 zusammen mit "Spiegel"-Chefredakteur Stefan Aust und dem ZDF-Journalisten Claus Richter das neoliberale Pamphlet "Deutschland: Der Abstieg eines Superstars" veröffentlichte. Die "Süddeutsche Zeitung", der es einst gelungen war, die "Frankfurter Allgemeine" auf der linksliberalen Spur zu überholen, war zumindest in ihrem Wirtschaftsteil nun genauso neoliberal wie die Frankfurter Hauspostille des deutschen Besitzbürgertums. So problemlos die Redakteure von der einen Zeitung zur anderen wechselten, so wenig war es ein Unterschied, ob man die Ergüsse eines Hans D. Barbier in der einen oder die eines Nikolaus Piper in der anderen las. Natürlich gab es rühmliche Ausnahmen. Bei der "Süddeutschen" wäre hier vor allem der Innenpolitiker Heribert Prantl zu nennen. Sie bestätigten aber nur die Regel.
Als Kostprobe aus der "Süddeutschen" sei hier aus dem Kommentar zitiert, mit dem Marc Beise am 12. Juni 2007 Kurt Becks schwammige Kritik am "Neoliberalismus ohne Erdung" aufgriff und zurückwies:
"Immer noch haben viele Bürger nicht begriffen, daß 'neoliberal' ja schon vom Wortsinne her und auch in der Sache die gezähmte Ausführung des zügellosen Liberalismus ist, wie ihn nach dem Zweiten Weltkrieg der deutsche Wirtschaftswunderminister Ludwig Erhard und seine intellektuellen Vordenker propagierten. Eben nicht ein kaltherziger Kapitalismus des 'Jeder gegen jeden', sondern ein regelgeleiteter Wettbewerb, der sich um die Schwachen sorgt und sie auffängt."
Das klang so warmherzig und fürsorglich, als würde die FDP in ihrem Parteiprogramm um die Stimmen von "Hartz IV"-Empfängern werben. Natürlich konnte man es auch so umschreiben, daß der neoliberale Staat vorläufig darauf verzichtete, die "Schwachen" einfach verhungern und erfrieren zu lassen. Er wird in dieser Optik zum Wohltäter, der sich "um die Schwachen sorgt und sie auffängt". Es handelt sich dann auch nicht mehr um einen "zügellosen" Liberalismus, sondern um einen "gezähmten", denn schließlich werden die Armen nicht einfach dem Verderben oder privater Mildtätigkeit überlassen, wie das im Frühkapitalismus noch der Fall war.
"Schröder hatte recht", überschrieb derselbe Verfasser in der "Süddeutschen" vom 14. März 2008 einen Artikel, in dem er zu belegen versuchte, "warum die Agenda 2010 große Politik war und dringend fortgesetzt werden müßte". Schröder habe endlich Schluß gemacht mit der "alten Leier vom Staat, der niemanden zurücklassen darf". Diese Rücksichtnahme könne man sich heute einfach nicht mehr leisten, um im weltweiten Wettbewerb bestehen zu können: "Früher kam ein großes und mächtiges Land wie Deutschland mit dieser naiven Wirtschaftspolitik über die Runden. Heute, wo überall junge und hungrige Wettbewerber lauern, funktioniert das nicht mehr."
Nach dieser sozialdarwinistischen Metapher beendete der Verfasser sein Lob Schröders, der im Gegensatz zu seinen Nachfolgern die Notwendigkeiten erkannt und gehandelt habe, in geradezu hymnischer Weise: "Und je länger sie wenig tun, desto heller wird das Licht des Gerhard Schröder strahlen. Eines Tages."