Udo Leuschner / Geschichte der FDP (30) |
12. Bundestag 1991 - 1994 |
Am Ende der 12. Legislaturperiode von 1991 bis 1994 mußte die FDP ernsthaft um den Wiedereinzug in den Bundestag bangen. Denn die elf Prozent, die sie 1990 erreicht hatte, halbierten sich zusehends. Auf dem Wahlparteitag am 4. September 1994 in Nürnberg kündigte der Parteivorsitzende Kinkel deshalb verstärktes Werben um die Zweitstimmen von Unionswählern an: Die Zweitstimme sei die "Kanzlerstimme".
Bis Ende 1992 konnte die FDP mit ihrem Abschneiden bei den Landtagswahlen noch einigermaßen zufrieden sein. Aber dann ging es immer steiler abwärts: Bei allen folgenden Wahlen scheiterte sie an der Fünf-Prozent-Hürde. Nacheinander flog sie aus den Landtagen von Hamburg, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Bayern. Vor allem die Wahlerfolge in den neuen Bundesländern erwiesen sich nun als Strohfeuer.
Eine der Ursachen für den Wählerschwund war, daß die Partei sich mit einer bisher nicht gekannten Offenherzigkeit - man könnte auch Schamlosigkeit sagen - als Klientelpartei zu erkennen gab. Die FDP sei die "Partei der Leistungsträger", erklärte etwa der Vorsitzende Kinkel auf dem Rostocker Parteitag. Das klang in den Ohren von weniger Leistungsfähigen wie eine sozialdarwinistische Kampfansage, zumal die Sparbeschlüsse der Koalition durchaus in diese Richtung wiesen. Der neue Generalsekretär Werner Hoyer formulierte es im Vorfeld der Bundestagswahlen noch griffiger, als er von der "Partei der Besserverdienenden" sprach. Solche Töne stießen selbst Besserverdienenden sauer auf. Im Volksmund galt die FDP als "Zahnärzte-Partei", die einer ohnehin gut betuchten Minderheit zu noch mehr Geld verhelfen wollte.
Bei den hessischen Landtagswahlen am 20. Januar 1991 erlitt die FDP mit 7,4 Prozent leichte Verluste. Auch die CDU büßte Stimmen ein. Die seit 1983 bestehenden knappen Mehrheitsverhältnisse im Landtag kippten damit wieder zugunsten von SPD und Grünen, die über zwei Stimmen mehr verfügten. Ende April wurde die bisherige Koalitionsregierung von CDU und FDP unter Walter Wallmann von einer rot-grünen Koalition unter Hans Eichel abgelöst.
Auch in Rheinland-Pfalz war die bisherige Regierungskoalition aus CDU und FDP nicht mehr tragfähig, nachdem bei den Landtagswahlen am 21. April 1991 die CDU mit 38,7 Prozent ihr bisher schlechtes Ergebnis erzielt hatte und die SPD mit 44,8 Prozent zur stärksten Partei geworden war. Hier jedoch bot sich der FDP, die trotz eines Rückgangs von 7,3 auf 6,9 Prozent ihre sieben Landtagsmandate halten konnte, die Chance eines Koalitionswechsels. Der SPD-Spitzenkandidat Rudolf Scharping machte keinen Hehl daraus, daß er die FDP den Grünen vorzog, die rechnerisch ebenso als Partner in Frage gekommen wären. Auch der Bundesvorstand der FDP meldete keine Bedenken an. - Immerhin waren bisher in sechs Bundesländern die CDU/FDP-Koalitionen nicht bestätigt worden, wie Hans-Dietrich Genscher anmerkte. Im Kabinett von Rudolf Scharping, das am 21. Mai vereidigt wurde, stellte die FDP zwei Minister: Ihr Landesvorsitzende Rainer Brüderle wurde stellvertretender Ministerpräsident und zuständig für Wirtschaft und Verkehr. Peter Caesar übernahm das Ressort Justiz.
Bei den Landtagswahlen am 2. Juni 1991 in Hamburg mußte die FDP ebenfalls Federn lassen. Mit 5,4 Prozent (gegenüber 6,5 Prozent 1987) schaffte sie immerhin erneut den Einzug in die Bürgerschaft. Da aber die SPD stark zugelegt hatte und im Parlament über eine Stimme mehr verfügte als CDU, Grüne und FDP zusammengenommen, wurde sie nun nicht mehr als Koalitionspartner benötigt.
In Bremen erhielt die FDP durch die Landtagswahlen vom 29. September 1991 erstmals wieder die Chance zu einer Koalition mit der SPD, die seit zwanzig Jahren allein regiert hatte. Sie verzeichnete einen leichten Rückgang von 10,0 auf 9,4 Prozent, behielt aber zehn Sitze. Allerdings war der Sturz der SPD von der Höhe der absoluten Mehrheit auf 38,8 Prozent so groß, daß die Stimmen der FDP zur Sicherung der Mehrheit nicht ausreichten. Deshalb kam es am 11. Dezember zu einer Koalition aus SPD, Grünen und FDP - die zweite rot-gelb-grüne "Ampelkoalition" nach Brandenburg, wo dieses Modell 1990 erstmals praktiziert worden war, und die erste in den alten Bundesländern. Von zehn Senatorenposten unter Bürgermeister Klaus Wedemeier (SPD) besetzte die FDP die Ressorts Wirtschaft (Claus Jaeger) und Inneres (Friedrich van Nispen).
In Baden-Württemberg erzielte die FDP bei den Landtagswahlen am 5. April 1992 mit 5,9 Prozent genau das gleiche Ergebnis wie vor vier Jahren. Hier endete nach zwanzig Jahren die Alleinherrschaft der CDU. Die von der FDP seit langem ersehnte Koalitionsmöglichkeit ergab sich daraus aber nicht, weil die enormen Verluste der CDU den "Republikanern" zugute kamen, die mit 10,9 Prozent als drittstärkste Fraktion in den Landtag einzogen. Vier Jahre zuvor hatten die "Republikaner" nur 1,0 Prozent der Stimmen erhalten. Die rechtsgerichtete Protest-Partei wurde von den anderen Parteien nicht als koalitionsfähig erachtet, mußte aber als Mehrheitsbeschaffer bei Abstimmungen ins parlamentarische Kalkül einbezogen werden. Angesichts der Mandatsverteilung im Landtag - CDU 64, SPD 46, Republikanern 15, Grüne 13 und FDP 8 - ergab sich eine Patt-Situation, die nur durch ein Bündnis der beiden größten Parteien aufzulösen war. So kam es am 11. Juni 1992 in Stuttgart unter Erwin Teufel (CDU) zur ersten Großen Koalition seit zwanzig Jahren.
Am selben Tag wie in Baden-Württemberg fanden in Schleswig-Holstein die Landtagswahlen statt. Mit 5,6 Prozent schaffte die FDP wieder den Einzug ins Parlament, aus dem sie 1988 wegen ihres ungeschickten Taktierens in der Barschel-Affäre verbannt worden war. Die Grünen blieben erneut unter der Fünf-Prozent-Hürde. Als Koalitionspartner wurde sie aber weiterhin nicht gebraucht, da die SPD trotz erheblicher Verluste ihre absolute Mehrheit im Landtag behaupten konnte. Wie in Stuttgart wurde auch in Kiel eine rechtsgerichtete Protestpartei drittstärkste Fraktion im Parlament: Die neonazistische "Deutsche Volks-Union" (DVU) hatte auf Anhieb 6,3 Prozent erringen.
In Hamburg kam es schon am 19. September 1993 erneut zu Landtagswahlen, weil der Verfassungsgerichtshof die Bürgerschaftswahl des Jahre 1991 für ungültig erklärt hatte. Wie schon bei den Wahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein konnten Protestparteien wie STATT Partei (5,6 Prozent), Republikaner (4,8 Prozent), DVU (2,8 Prozent) sowie die Grünen (13,5 Prozent) große Stimmenanteile auf sich vereinen, während die SPD von 48,0 auf 40,4 Prozent und die CDU von 35,1 auf 25,1 Prozent abstürzten. Die FDP gehörte ebenfalls zu den Leidtragenden dieser Protestwahl: Sie errang nur noch 4,2 Prozent und war damit nicht mehr in der Bürgerschaft vertreten.
Zur großen Enttäuschung wurden auch die Landtagswahlen am 13. März 1994 in Niedersachsen. Die hauchdünne Mehrheit der rot-grünen Regierungskoalition war dort seit 1990 noch weiter abgebröckelt, so daß rot-grün und schwarz-gelb im Landtag annähernd gleich stark waren. Die Wähler beendeten diese Patt-Situation aber nicht durch eine Stärkung, sondern durch die Schwächung von CDU und FDP. Die SPD konnte so trotz annähernd gleichbleibenden Stimmenanteils die absolute Mehrheit im Landtag erringen. Die FDP kam nur noch auf 4,4 Prozent und schied damit aus dem Parlament aus.
Im folgenden ging es nur noch abwärts bei Wahlen, so daß in der FDP-Spitze die Befürchtung aufkam, bei den nächsten Bundestagswahlen unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde zu bleiben - so wie bei den Europa-Wahlen am 12. Juni 1994, bei denen es ihr schon zum zweitenmal nicht gelungen war, Abgeordnete ins Straßburger Parlament zu entsenden.
Dem negativen Trend entsprachen Stimmenrückgänge auf breiter Front bei einer Reihe von Kommunalwahlen, die am 12. Juni 1994 gleichzeitig mit den Europa-Wahlen stattfanden: In Baden-Württemberg ging der Stimmenanteil der FDP von 5,3 auf 3,6 Prozent zurück, in Rheinland-Pfalz von 5,8 auf 4,3 Prozent, in Sachsen von 7,5 auf 6,3 Prozent, in Sachsen-Anhalt von 10,7 auf 7,9 Prozent und in Thüringen von 7,7 auf 6,2 Prozent.
Katastrophale Ausmaße nahm der Wählerschwund bei den Landtagswahlen am 26. Juni 1994 in Sachsen-Anhalt an, wo die FDP nur noch auf 3,58 Prozent kam, während sie vor vier Jahren noch stolze 13,5 Prozent eingefahren hatte. Auch die CDU mußte erhebliche Einbußen hinnehmen. SPD und PDS waren dagegen die Nutznießer der zunehmenden Enttäuschung, die sich in Ostdeutschland hinsichtlich von Union und FDP bemerkbar machte.
In Sachsen-Anhalt gab dieser Enttäuschung noch eine landeseigene Affäre Auftrieb, die am 28. November 1993 zum Rücktritt der CDU/FDP-Regierung führte: Laut "Spiegel" hatten sich der Ministerpräsident Werner Münch (CDU) sowie die Minister Hartmut Perschau (CDU),Werner Schreiber (CDU), Horst Rehberger (FDP) und Hans-Jürgen Kaesler (FDP) überhöhte Bezüge gesichert. Durch trickreiche Ausnutzung ihrer Vergangenheit als West-Politiker sollen sie die Landeskasse um rund 900.000 Mark geschädigt haben. Im Falle Kaeslers trafen die Vorwürfe allerdings nicht zu. Nach dem Rücktritt der Regierung hatte sich die Landes-FDP wegen der Frage von Neuwahlen tief zerstritten und auch mit der CDU angelegt, bevor sie die Koalition unter dem neuen Ministerpräsidenten Christoph Bergner (CDU) fortsetzte.
Daß der Absturz in Sachsen-Anhalt nur zum geringeren Teil mit der Gehälter-Affäre zu tun hatte, zeigte sich am 11. September 1994 bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg: In Sachsen schrumpfte die FDP von 5,3 auf 1,7 Prozent, in Brandenburg von 6,6 auf 2,2 Prozent. Sie war mithin in beiden Landtagen nicht mehr vertreten. Auch die Grünen bzw. das Bündnis 90 wurden aus beiden Parlamenten gekippt. Gewinner der Wahlen waren CDU und SPD, die in Sachsen bzw. Brandenburg jeweils die absolute Mehrheit errangen. Außerdem bekam die PDS starken Auftrieb.
Ein besonders böses Omen war - so kurz vor den bevorstehenden Bundestagswahlen am 16. Oktober - der Einbruch bei den Landtagswahlen am 25. September 1994 in Bayern: Mit 2,8 Prozent blieb die FDP dieses Mal weit unter der Fünf-Prozent-Hürde, die sie 1990 mit knapper Not gemeistert hatte. Die Durststrecke außerhalb des Parlaments, die 1982 nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition begonnen hatte, ging damit nach vierjähriger Unterbrechung weiter.