März 1999

990301

ENERGIE-CHRONIK


Stromversorger protestieren gegen Milliarden-Belastung durch Steuerreform

Ungeachtet der scharfen Kritik von Wirtschaftsverbänden und Opposition verabschiedete der Bundestag am 4.3. mit den Stimmen von SPD und Grünen das sogenannte Steuerentlastungsgesetz für die Jahre von 1999 bis 2002. Es enthält unter anderem massive Verschlechterungen der bisherigen Rückstellungsregelungen für die Entsorgung von Kernkraftwerken und die Rekultivierung von Braunkohletagebauen. So gilt nunmehr ein "Abzinsungsgebot" für die Rückstellungen zur Entsorgung radioaktiver Abfälle. Die Ansammlungsfrist der Rückstellungen für die Stillegung von Kernkraftwerken wird von 19 auf 25 Jahre ausgedehnt. Für die Herstellung von Mischoxid-Brennelementen zur Entsorgung von Plutonium aus der Wiederaufarbeitung dürfen keine Rückstellungen mehr gebildet werden. Für die Kernkraftwerksbetreiber bedeutet dies, daß sie innerhalb der nächsten zehn Jahre rund siebzig Prozent der bisher getätigten Rückstellungen auflösen müssen. Ihren Berechnungen zufolge müßten sie ca. 50 Mrd. DM als Gewinn versteuern bzw. eine zusätzliche Steuerlast von ca. 25 Mrd. DM tragen.

Schon die vorherige Bundesregierung aus Unionsparteien und FDP wollte die Rückstellungen teilweise antasten, um die voraussichtlichen Mehreinnahmen von über zehn Milliarden Mark zur Schließung von Haushaltslücken zu verwenden (siehe 970613). Diese Absicht wurde dann aber nicht weiter verfolgt. - Anscheinend war Bundeskanzler Kohl zu der Überzeugung gelangt, daß es den meisten SPD-regierten Ländern beim diesbezüglichen gemeinsamen Vorstoß der Länderfinanzminister (970401) nicht um Mehreinnahmen gehe, sondern hauptsächlich darum, die Nuklearenergie mit dem Hebel des Steuerrechts unrentabel zu machen.

Einen Tag vor dem "Steuerentlastungsgesetz" hatte der Bundestag die sogenannte Öko-Steuerreform verabschiedet, die den Verbrauch von Strom, Mineralöl und Gas zum Teil erheblich verteuert (990201). Beide Steuer-Gesetze wurden am 19.3. auch vom Bundesrat gebilligt, in dem die Bonner Koalitionsparteien bis Anfang April noch über die Mehrheit verfügen.

Widersprüchliche Angaben zur Mehrbelastung

In entsprechend gereizter Atmosphäre verlief ein Sondierungsgespräch, zu dem Bundeskanzler Schröder am 9.3. die Chefs der Energiekonzerne RWE, Veba, Viag und EnBW eingeladen hatte, um den geplanten Ausstieg aus der Kernenergie zu erörtern (990203). Zeitgleich mit den Gesprächen demonstrierten rund 30 000 Gewerkschafter gegen den drohenden Verlust von Arbeitsplätzen in der Energiewirtschaft. Die Stromversorger nutzten die Gelegenheit, um erneut scharfe Kritik an den Belastungen durch die neue Rückstellungsregelung vorzutragen. Der Bundeskanzler berief sich demgegenüber auf die Angaben von Finanzminister Oskar Lafontaine, wonach die Belastungen der Kernkraftwerksbetreiber nur etwa zehn Milliarden Mark betragen würden. Wenig später mußte das Finanzministerium allerdings eingestehen, daß diese Summe sich nur auf einen Zeitraum von vier Jahren bezog. Bei Verteilung der Steuerlast auf zehn Jahre erhöhe sie sich auf etwa 21,3 Milliarden Mark. Laut Spiegel (29.3.) haben die Finanzbeamten inzwischen nochmals nachgerechnet und schätzen die steuerliche Mehrbelastung nunmehr auf höchstens 15,65 Mrd. DM. Sowohl Bundeswirtschaftsminister Müller als auch Bundesfinanzminister Lafontaine stellten Nachbesserungen in Aussicht, um die Belastung in geringeren Grenzen zu halten (SZ, 10.3.; FAZ, 11.3.).

Standpauke Schröders im Kabinett: "Ich lasse mir keine Politik gegen die Wirtschaft machen"

Am folgenden Tag machte Bundeskanzler Schröder vor versammelter Regierungsmannschaft seinem Unmut über den enttäuschenden Verlauf des Gesprächs und der ganzen bisherigen Regierungsarbeit Luft. Einzelheiten der "Standpauke" Schröders gelangten durch Indiskretion in Blätter des Springer-Konzerns. Laut Bild (11.3.) gipfelte Schröders Kritik in den Worten: "Ich lasse mir keine Politik gegen die Wirtschaft machen. ... Es wird einen Punkt geben, wo ich die Verantwortung für eine solche Politik nicht mehr übernehmen werde." Laut Berliner Morgenpost (11.3.) legte sich Schröder erstmals auch direkt mit Finanzminister Oskar Lafontaine an, indem er ihm vorwarf, mit der massiven Verschlechterung der Rückstellungsregelung einen "strategischen Fehler" begangen zu haben. Bild erschien mit der Schlagzeile: "Schröder droht mit Rücktritt!"