November 2024

241110

ENERGIE-CHRONIK


Kontroverse um die "deutsche Krise" in der FAZ

Der mutmaßliche Erfinder des Schmähworts "Zappelstrom" für elektrische Energie aus Windkraft und Photovoltaik, Hans-Werner Sinn (091217, 210802), durfte am 21. November im Wirtschaftsteil der "Frankfurter Allgemeinen" (FAZ) eine volle Breitseite mit neoliberalen Rezepten zur Bewältigung der "deutschen Krise" abfeuern. Es handelte sich um die Rede, die der frühere Präsident des Ifo-Instituts am 5. November in München hielt, als die einschlägigen Unternehmerverbände ihm und dem Bundesrechnungshof-Präsidenten Kay Scheller (240301) gemeinsam ihren diesjährigen "Deutschen Mittelstandspreis" verliehen.

"Giftliste" vom Heizungsgesetz über Verbrenner-Aus bis zur KKW- Abschaltung

"Deutschland steht an einem historischen Wendepunkt seiner Entwicklung, bei dem seine Existenz als global tätige Wirtschaftsnation auf dem Spiel steht", befand der inzwischen eremitierte Wirtschaftsprofessor. Die "zentralen Brandherde" lägen in der Automobil- und Chemieindustrie. Die wichtigste Erklärung für die ganze Malaise liege "aber wohl doch auf dem Energiesektor, speziell der Klimapolitik". Zur "Giftliste" gehörten insbesondere "Ölheizungsverbot ab 2024; 'Verbrenner-Aus' 2035; Erdgasausstieg bis 2045; Planungen zum Rück- und Umbau der Gasnetze 2024; Energieeffizienzgesetz 2023; Atomausstieg 2023."

"Kein Land der Erde folgt Deutschland bei seinem Atomausstieg", behauptete Sinn. "Wir sind der Geisterfahrer auf der Autobahn." – Anscheinend ist ihm entgangen, dass Litauen Ende 2009 auch den zweiten Reaktor seines einzigen Kernkraftwerks Ignalina abgeschaltet hat (100102) und Neubaupläne am selben Standort (060307) bis auf weiteres keine Chance mehr hatten, nachdem sie bei einem 2012 durchgeführten Referendum von den meisten Wählern abgelehnt wurden (121006). (Allerdings hat Litauen diesen faktischen Atomausstieg nicht gesetzlich verankert. Das Projekt eines nuklearen Gemeinschaftskraftwerks mit Lettland und Estland, das seit zwei Jahrzehnten von interessierten Kreisen immer wieder ins Gespräch gebracht wird, wäre deshalb politisch einfacher durchzusetzen als in Deutschland.)

Unerwähnt ließ Sinn ferner, dass Italien den Betrieb seiner vier Kernkraftwerke sowie den Bau von drei weiteren Reaktoren schon bis 1990 komplett eingestellt hat, also dem deutschen Atomausstieg zwar nicht gefolgt ist, ihn aber um mehr als zehn Jahre vorweggenommen hat. Pläne zur Errichtung eines neuen Kernkraftwerks gibt es in Rom erst wieder, seitdem die rechtsextreme Regierung Meloni an die Macht gelangte. Ähnlich verhält es sich mit Österreich, das dem deutschen Atomausstieg auch nicht gefolgt ist, sondern ihn schon 1978 antizipierte, indem das neu gebaute erste Kernkraftwerk Zwentendorf aufgrund einer Volksabstimmung erst gar nicht in Betrieb genommen wurde. Zusätzlich beschloss das Nachbarland ein inzwischen ausgelaufenes Gesetz, das die Errichtung weiterer Kernkraftwerke verbot.

Der "Zappelstrom" bekam inzwischen einen Zwillingsbruder namens "Flatterstrom"

Von "Zappelstrom" sprach Sinn bei diesem Vortrag übrigens nicht mehr, sondern von "Flatterstrom", der "als Partner zwingend regelbaren konventionellen Strom zur Abdeckung der Dunkelflauten" brauche. Es sei jedoch sehr schwierig, den Flatterstrom "auf der Zeitachse in jene Perioden zu verschieben, während derer er gebraucht wird". Von Speichern, Elektrolyseuren und Wasserstoffkraftwerken hat Sinn zwar auch schon gehört, sieht aber wirtschaftlich keine "auch nur halbwegs tragfähigen Möglichkeiten die saisonalen Differenzen zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Strommarkt mit Speichern zu überbrücken". Bei soviel geballtem professoralen Sachverstand fühlt man sich auf der Zeitachse in jene Periode verschoben, als in der deutschen Stromwirtschaft noch die Sprachregelung galt, dass die Erneuerbaren niemals mehr als "additive Energien" sein könnten.

Der Historiker Plumpe fühlt sich an die Lage in der späten DDR erinnert

Ähnlich grobschlächtig wirkte ein Artikel des Historikers Werner Plumpe, der zuvor am 11. November im Feuilleton desselben Blattes erschien. Plumpe ist Inhaber einer Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Frankfurt. Sein Artikel begann mit einem erstaunlichen Vergleich: "Die Lage erinnert an die späte DDR: Deutschland leistet sich einen Staat, dessen Kosten von der nicht mehr wachsenden Wirtschaft nicht mehr gedeckt werden können. Doch die Politik gibt sich weiter Illusionen hin." Das klang ein bißchen arg plump, zumal er sich in einer anderen Passage seines Textes die am 11. September eingestürzte Carolabrücke in Dresden als "Menetekel" für die Folgen einer hemmungslosen staatlichen Verschuldungspolitik vorstellen konnte. Indessen wurde die 1971 fertiggestellte Carolabrücke zu einer Zeit errichtet, als die DDR noch gar nicht verschuldet war und sogar unverhältnismäßig viel Geld für dieses Prestigebauwerk ausgab. Ursache des Einsturzes war vielmehr vermutlich ein Materialfehler des Stahls aus Hennigsdorf – ähnlich wie bei den Betonschwellen der "Reichsbahn", die aufgrund einer falschen Materialmischung zu bröseln begannen und komplett ausgewechselt werden mussten, weshalb vor allem in den achtziger Jahren der DDR-Zugverkehr noch langsamer wurde als er ohnehin schon war.

Der Historiker Berghoff warnt vor Panik: "Wir sind nicht auf der Titanic und auch nicht in der DDR"

Zum Glück verfügt das FAZ-Feuilleton traditionell über eine größere geistige Spannweite als der Wirtschaftsteil. Deshalb erschien am 21. November eine von Hartmut Berghoff verfasste Replik auf Plumpes Artikel. Die Überschrift lautete: "Keine Panik – Wir sind nicht auf der Titanic und auch nicht in der DDR, brauchen aber eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik". Berghoff ist Direktor des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Göttingen und hat die deutsche Wirtschaftsgeschichte unter anderem mit zwei faszinierenden Studien bereichert, die am Beispiel einer schwäbischen Kleinstadt die Unternehmensgeschichte mit der Sozial-, Kultur- und Alltagsgeschichte verbinden (siehe Buchbesprechungen).

Berghoffs Artikel hätte zugleich als Replik auf Hans-Werner Sinns Artikel verstanden werden können, der am selben Tag im selben Blatt im Wirtschaftsteil erschien. Er verwies darauf, dass "Untergangsnarrative" nichts neues sind. So vermeinte der Historiker Arnulf Baring schon 1997 "das Beben des Bodens" zu verspüren, das die Zukunft Deutschlands gefährde. Der "massenwirksamste Untergangsapostel" sei 2010 der damalige Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin gewesen, dessen Untergangsepos "Deutschland schafft sich ab" zu einem der meistverkauften Sachbücher seit 1945 wurde.

Auch der Vergleich mit der Analphabeten-Quote im Kaiserreich ist ziemlich schief

Plumpes Vergleich mit der untergegangenen DDR für eine Diagnose der gesamtdeutschen Gegenwart hielt Berghoff für "wenig hilfreich". Die Bundesrepublik sei weit von einer Überschuldung entfernt. "Sie gehört zu den wenigen Ländern der Welt mit einem AAA-Rating und rangiert damit knapp vor den USA und deutlich vor den meisten europäischen Staaten und erst recht weit vor Japan." Der Rückgang des Produktivitätswachstums alarmiere zwar auf den ersten Blick, sei aber ein allgemeines Phänomen westlicher Industriestaaten.

Nichts abgewinnen konnte Berghoff auch Plumpes wiederholten Vergleichen der gegenwärtigen Situation mit den fünfziger und sechziger Jahren und sogar mit dem Kaiserreich, als – so klang es zumindest – vieles noch im Lot war, was inzwischen verlorenging. Zum Beispiel behauptete Plumpe: "Vor 1914 lag die Analphabetenquote bei etwa einem Prozent. Deutschland hatte damit international eine führende Stellung. Heute beträgt sie etwa zwölf Prozent und steht international bestenfalls für Mittelmaß."

Damit bescheinigte sich der Verfasser selber eine nur mittelmäßige Kenntnis historischer Details, denn Berghoff stellte fest, dass es sich um eine Fehlinterpretation handelt: "Damals wurde in den Heiratsregistern gezählt, wie oft mit Namen und wie oft mit Kreuzen unterzeichnet wurde. Der heutige Maßstab rekurriert auf das Lesen und Schreiben ganzer Sätze." Unabhängig davon treffe es aber tatsächlich zu, dass beim bundesdeutschen Bildungssystem viel im argen liege, wie die Klagen über nachlassende Fähigkeiten von Schulabgängern belegen würden.

Indessen scheint auch auf den höheren Stufen des Bildungssystems, nämlich im Wissenschaftsbetrieb, einiges im argen zu liegen. Quod erat demonstrandum.

 

Links (intern)