Januar 2010

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ENERGIE-CHRONIK


 


Im Kernkraftwerk Ignalina wurde jetzt auch der zweite Block vom Tschernobyl-Typ RBMK stillgelegt. Am selben Standort wollen die baltischen Staaten jedoch ein neues Kernkraftwerk errichten, obwohl das Gelände als tektonisch unsicher gilt.

Foto: Wikipedia

Litauen bewältigt Abschaltung des KKW Ignalina ohne Stromknappheit

Litauen hat am 31. Dezember 2009 auch den zweiten Reaktor im Kernkraftwerk Ignalina abgeschaltet. Der erste der beiden RBMK-Reaktoren war bereits vor fünf Jahren vom Netz gegangen. Die Stillegung beider Reaktoren bis Ende 2004 bzw. Ende 2009 war Bedingung für die Aufnahme Litauens in die EU (040404). Diese gewährte dafür im Rahmen des "Ignalina-Programms" von 2004 bis 2006 Finanzhilfen in Höhe von 285 Millionen Euro. Darüber hinaus sicherte sie weitere Zahlungen für die Stillegungsarbeiten zu. Dennoch versuchte die Regierung in Wilna, die Abschaltung des zweiten Blocks zu verzögern. Bei einer zu diesem Zwecke organisierten Volksabstimmung sprachen sich im Oktober 2008 rund neunzig Prozent der Teilnehmer für den Weiterbetrieb aus. Zur Konfrontation mit Brüssel kam es aber nicht, da die erforderliche Beteiligung von fünfzig Prozent der Bürger am Referendum knapp verfehlt wurde.

Die beiden Reaktoren des sowjetischen Typs RBMK-1500 waren 1984 bzw. 1987 ans Netz gegangen. Sie verfügten über eine Leistung von jeweils 1360 MW brutto (1185 netto). Ursprünglich sollten noch zwei weitere Reaktoren desselben Typs errichtet werden. Dazu kam es wegen des Zusammenbruchs des sowjetischen Imperiums nicht mehr. Der bereits begonnene Bau des dritten Reaktors wurde im August 2008 eingestellt. Die graphitmoderierten Reaktoren des Tschernobyl-Typs RBMK wurden nun als hohes Sicherheitsrisiko gesehen, zumal es auch wiederholt zu Störfällen kam und das Kernkraftwerk auf einem tektonisch unsicheren Gebiet stand.

Der frühere Stromexporteur muß jetzt elektrische Energie einführen

Litauen deckte früher rund achtzig Prozent seines Strombedarfs aus Kernenergie. Dennoch hatte die jetzt erfolgte völlige Stillegung des einzigen Kernkraftwerks in den drei baltischen Staaten keine gravierenden Folgen für die Stromversorgung. Die Abschaltung des ersten Blocks gefährdete schon deshalb nicht die Versorgungssicherheit, weil bis dahin mehr als die Hälfte des Atomstroms in die Nachbarländer exportiert worden war. Allerdings gingen die Exporteinnahmen verloren. Die Stromlücke, die durch die Abschaltung des zweiten Blocks entstand, konnte durch vermehrten Strombezug aus den Nachbarstaaten ausgeglichen werden. Allerdings ist das frühere Stromexport-Land nun zu einem guten Teil von Importen abhängig, was ihm mit Blick auf die Hauptlieferanten Rußland und Weißrußland politische Bauchschmerzen bereitet.

Der staatliche Stromnetzbetreiber Lietuvos Energija veranschlagt den Stromverbrauch des Landes in diesem Jahr auf gut 9 Terawattstunden (womit Litauen ungefähr ein Drittel mehr verbraucht als Lettland oder Estland). Mehr als die Hälfte davon könne in eigenen Kraftwerken erzeugt werden. Der Hauptanteil von 2,5 TWh komme aus dem Gaskraftwerk Lietuvos Elektriné, dessen Kapazität um 300 MW auf 1800 MW erweitert wurde. Weitere 1,15 TWh würden mehrere Heizkraftwerke beisteuern, 1,1 TWh andere einheimische Kraftwerke und 0,35 TWh die Erneuerbaren (Wasserkraft, Wind). Der Rest sei durch Importmöglichkeiten gesichert. Aus Skandinavien könne man technisch 0,2 - 0,6 TWh beziehen, aus Estland 0,9 - 1,5 TWh, aus Lettland 0,1 - 0,2 TWh, aus Weißrußland 0,3 - 2 TWh und aus der Ukraine 0,8 - 1,5 TWh.

Für die Bevölkerung steigen die Strompreise erheblich

Als weitere Folge der Abschaltung haben die Stromkunden erhebliche Preiserhöhungen hinzunehmen: Zum Jahreswechsel wurde der Durchschnittstarif von 0,35 Llt/kWh auf 0,45 Ltl/kWh angehoben. Der neue Preis entspricht damit 13 Cent/KWh. Das ist noch immer viel weniger, als etwa Abnehmer in Deutschland bezahlen, muß aber vor dem Hintergrund der Lebensverhältnisse in den baltischen Staaten gesehen werden, die zudem von der Wirtschaftskrise weit härter getroffen wurden. Mit durchschnittlich 28 Prozent stiegen die Strompreis für private Abnehmer besonders stark. Unternehmen müssen dagegen nur etwa zwanzig Prozent mehr bezahlen.

Der Anstieg der Strompreise ist politisch insofern nicht unerwünscht, als Litauen und die beiden anderen baltischen Staaten erhebliche Investitionen planen, um ihre Stromversorgung in das kontinentaleuropäische Verbundsystem zu integrieren und die Möglichkeiten des Stromaustauschs mit Skandinavien zu erhöhen. Bisher gehören Litauen, Lettland und Estland noch zum russischen Verbundsystem IPS/UPS. Sie wollen diese Abhängigkeit jedoch durch den Bau von Stromkupplungen mit Polen sowie zusätzliche Gleichstrom-Brücken zum skandinavischen Verbundsystem beenden. Zudem wollen sie am Standort Ignalina gemeinsam ein neues Kernkraftwerk errichten (060307). Alle diese Projekte werden für private Investoren erst dann interessant, wenn die Strompreise entsprechende Gewinne ermöglichen.

Baltische Staaten treiben technische Integration in den EU-Strommarkt voran

Bisher sind die baltischen Staaten nur durch eine Hochspannungs-Gleichstromübertragung (HGÜ), die von Tallin (Estland) durch die Ostsee nach Espoo (Finnland) führt, mit dem skandinavischen System verbunden. Das 105 Kilometer lange Seekabel "Estlink" wurde im Dezember 2006 in Betrieb genommen. Es hat eine Spannung von 150 kV und ermöglicht die Übertragung von maximal 350 Megawatt. Die beteiligten Energieversorger Finnlands, Estlands, Lettlands und Litauens planen inzwischen den Bau einer zweiten derartigen HGÜ-Verbindung östlich davon, die eine Kapazität von 700 Megawatt haben soll. Ferner prüfen die beiden staatliche Energieversorger Lietuvos Energija und Svenska Kraftnät den Bau einer 350 Kilometer langen HGÜ-Strecke zwischen Klaipeda (Memel) und Hemsjö. Zusätzlich erwogen wird eine HGÜ-Verbindung zwischen Ventspils (Windau) in Litauen und der Insel Gotland, die bereits per HGÜ mit dem schwedischen Festland verkabelt ist. Zugleich soll durch mehrere 400kV-Leitungen eine direkte Netzanbindung an Polen und damit die Einbindung in das kontinentaleuropäische Verbundsystem erfolgen. Projektpartner sind hier die beiden Stromnetzbetreiber Lietuvos Energija und Polskie Sieci elektroenergetyczne (siehe Karte).

Rußland will in Ostpreußen Atomstrom erzeugen, um ihn in die EU zu exportieren

Falls alle diese Projekte zustandekommen, würden die baltischen Staaten von einer Strominsel zu einer Stromdrehscheibe. Rußland möchte davon profitieren, indem es in seinem Teil des früheren Ostpreußen die Errichtung eines Kernkraftwerks für den Stromexport in die EU-Staaten plant. Als Anlaß und Vorwand dient die beabsichtigte Abkoppelung der baltischen Staaten vom russischen Verbundnetz. Der gesamte Strombedarf der russischen Provinz in Höhe von drei bis vier Terawattstunden jährlich – das entspricht etwa dem Verbrauch der Insel Zypern – könnte auch durch Ausbau des Kaliningrader Gaskraftwerks gedeckt werden. Stattdessen plant der staatliche Atomkonzern Rosatom ein Kernkraftwerk mit einer mehrfach größeren Kapazität. Im Herbst 2009 gab Regierungschef Wladimir Putin grünes Licht für das Projekt: Das Atomkraftwerk "Baltijskaja" soll mit einer Leistung von 2300 MW ein paar Kilometer östlich von Sovetsk (Tilsit) bei Neman (Ragnit) entstehen – direkt an der Grenze zu Litauen und weit entfernt vom Verbrauchsschwerpunkt Kaliningrad (Königsberg), auf den ansonsten die Stromversorgung im russischen Teil Ostpreußens ausgerichtet ist (siehe Karte).

Links (intern)


Das Stromnetz der baltischen Staaten und sein geplanter Ausbau

(Karte: ENTSO-E)