Oktober 2024 |
241003 |
ENERGIE-CHRONIK |
Das 1959 entdeckte Gasfeld in der Provinz Groningen wurde Anfang der sechziger Jahre in Betrieb genommen. Damals herrschte allgemein die Erwartung, dass in naher Zukunft Kernkraftwerke alle Energieprobleme lösen würden. Deshalb wollten die beiden Mineralölkonzerne Exxon und Shell das riesige Erdgasvorkommen möglichst schnell ausbeuten und vermarkten. Das erklärt den steilen Anstieg der Fördermengen bis Mitte der siebziger Jahre sowie den damit einhergehenden Ausbau des Erdgas-Versorgungsnetzes in den Niederlanden und der Bundesrepublik. Der Rückgang der Förderung ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ist vor dem HIntergrund der beiden Ölpreiskrisen zu sehen. Zugleich stagnierte der Export des niedrigkalorischen Groningen-Gases in die Bundesrepublik, die ihren Bedarf ab den achtziger Jahren hauptsächlich mit hochkalorischem Erdgas aus Russland und Norwegen deckte. Das Schwinden der Illusionen über die Kernenergie trug ebenfalls dazu bei, dass die Mineralölkonzerne das Erdgasgeschäft nicht mehr als Resterampe, sondern als langfristige Rückversicherung betrachteten. Damit war es dann allerdings vorbei, als ab 2012 zahlreiche Erdbeben auftraten, die an Tausenden von Gebäuden Schäden in Milliardenhöhe verursachten. Nach weiteren starken Beben senkte die Regierung 2014 die zulässige Fördermenge auf 42,5 und im folgenden Jahr auf 30 Milliarden Kubikmeter. |
Der US-Mineralölkonzern ExxonMobil (Handelsname "Esso") verlangt von der Regierung der Niederlande Schadensersatz, weil sie die Erdgasförderung in der Provinz Groningen gestoppt hat, um weitere Schäden durch Erdbeben zu verhindern (230604). Wie Anfang Oktober bekannt wurde, hat er über seine belgische Tochter ExxonMobil Petroleum & Chemical beim internationalen Schiedsgericht ICSID in Washington (210312) eine entsprechende Klage einreichen lassen. Als Rechtsgrundlage für den Schadenersatzanspruch soll der Vertrag über die "Energie-Charta" dienen, den die Niederlande ebenso wie andere EU-Staaten inzwischen gekündigt haben (240403). Die Klage wird seit 21. Oktober auf der ICSID-Webseite als "anhängig" angezeigt. Die Höhe der angemeldeten Schadenersatzansprüche ist bisher nicht bekannt, dürfte aber in die Milliarden gehen.
Neben dem 900 Quadratkilometer großen Hauptfördergebiet bei Groningen betreibt die NAM zahlreiche kleinere Gasfelder auf dem niederländischen Festland und vor der Küste. Die Offshore-Gasfelder hat sie inzwischen an das kanadische Unternehmen Tenaz Energy verkauft. Grafik: Wikipedia
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Gemeinsam mit dem britischen Mineralölkonzern Shell PLC besitzt ExxonMobil jeweils die Hälfte an der Nederlandse Aardolie Maatschappij (NAM), die seit über sechzig Jahren das große Erdgasvorkommen in der Provinz Groningen ausbeutet sowie über kleinere Gas- und Ölfelder an anderen Stellen der Niederlande verfügt. Die NAM wurde 1947 zur Ölförderung in den Niederlanden gegründet. Ab Ende der fünfziger Jahre verlegte sie den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf die Gasförderung, nachdem in der Provinz Groningen ein riesiges Erdgasfeld entdeckt worden war. Dieses Geschäft wurde jedoch stark rückläufig, nachdem im Hauptfördergebiet Groningen zahlreiche Erdbeben auftraten, die an zahllosen Gebäuden schwere Schäden verursachten.
Die Erdbeben sind auf die allmähliche Entleerung der Gasblase zurückzuführen, die sich in mehr als zweieinhalb Kilometern Tiefe unter der Erdoberfläche befindet. Als sie ab der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in zunächst leichter Form auftraten, hatte die NAM noch einen Zusammenhang mit der Erdgasförderung bestritten. Ab 2012 nahmen die Beben jedoch an Häufigkeit und Intensität derart zu, dass die niederländische Regierung die Fördermengen zunächst begrenzte (150605, 180207) und 2018 einen völligen Stopp der Förderung bis zum Jahr 2030 ankündigte (180403). Nach weiteren starken Erschütterungen und Zerstörungen Im Juni 2023 folgte der Beschluss, die Förderung schon zum 1. Oktober desselben Jahres einzustellen (230604). Im April 2024 bekräftigte das niederländische Parlament diesen Beschluss durch ein entsprechendes Gesetz.
Noch vor der Verabschiedung dieses Gesetzes hatten im Februar dieses Jahres sowohl Exxonmobil als auch Shell wissen lassen, dass die Entscheidung zur sofortigen Einstellung der Erdgas-Förderung ohne ihre Zustimmung erfolgt sei und sie deshalb beim Washingtoner Schiedsgericht ICSID Klage auf Schadenersatz eingereicht hätten. "Die Parteien sind sich seit langem uneinig über die Auslegung der Vereinbarungen, und viele Gespräche mit der Regierung haben nicht zu einer Lösung geführt“, zitierte die Agentur Reuters (14.2.) aus einer ihr vorliegenden Erklärung der beiden NAM-Gesellschafter. "Ein Schiedsverfahren kann dazu beitragen, Klarheit über die Vereinbarungen zu schaffen, was allen beteiligten Parteien zugutekommen würde." Allerdings scheint es dann doch nicht zur Einreichung dieser gemeinsamen Klage gekommen zu sein. Jedenfalls wurde sie auf der ICSID-Webseite bis heute nicht registriert. Demnach hat sich Shell wieder zurückgezogen und es Exxon überlassen, die Angelegenheit durchzufechten.
Die internationale Großkanzlei Freshfields, die vor dem Schiedsgericht die Schadenersatzansprüche von ExxonMobil vertritt, hat auf den ersten Blick gute Karten, wenn sie sich auf die "Energie-Charta" beruft. Dieses internationale Investitionsschutzabkommen wurde vor drei Jahrzehnten tatsächlich so konzipiert, dass es ausländischen Investoren eine Rundum-Sorglos-Versicherung gewährt, falls Regierungen durch Gesetze oder anderes Handeln deren Investitionen entwerten und damit Profiterwartungen enttäuschen. Mit ihrer neoliberalen Ausrichtung auf den Vorrang privater Kapitalinteressen ist die "Energie-Charta" zu einer besonders ärgerlichen Altlast und zum Hemmnis für wirksame Umweltschutzmassnahmen geworden. Das zeigte sich beispielsweise, als die deutschen Konzerne RWE und Uniper die Niederlande in Washington verklagten, weil diese 2019 ein Gesetz zur vorzeitigen Beendigung der Kohlverstromung bis 2030 beschlossen, ohne dies mit Entschädigungszahlungen an die Kraftwerksbetreiber zu verbinden (210207, 210409). Allerdings wurden dann beide Klagen wieder zurückgezogen (231112). Ausschlaggebend für diesen Rückzieher war wohl, dass die Konzerne mit einem positiven Urteil des Washingtoner Schiedsgerichts sowieso nicht mehr viel anfangen könnten, nachdem der Europäische Gerichtshof mit dem sogenannten Achmea-Urteil festgestellt hat, dass private Schiedsgerichte kein EU-Recht ersetzen dürfen (210910, 240910). Außerdem sind inzwischen sowohl die EU als auch ihre einzelnen Mitgliedsstaaten aus dem Vertrag über die Energie-Charta ausgestiegen (240403).
Die Gewinne, die den beiden Energiekonzernen Exxon und Shell durch die Schließung des Groninger Gasfelds entgehen, sind um ein Mehrfaches geringer als die Einnahmenverluste, die der von ihnen verklagte Staat zu tragen hat. Das zeigen diese Angaben des niederländischen Wirtschaftsministeriums aus dem Jahre 2014: Demnach erbrachte die Ausbeutung des Groninger Gasfelds von 2006 bis 2013 einen Gesamtgewinn von 77,8 Milliarden Euro, die zu 88,5 Prozent dem Staat zugute kamen, während nur 8,95 Milliarden auf Exxon und Shell entfielen. Quelle: Ministerie van Economische Zaken |
Die Exxon-Anwälte werden deshalb vermutlich den Artikel 47 des Vertrags ins Feld führen, der den Vertragsparteien "jederzeit" den Rücktritt erlaubt, dies aber mit einer Klausel verbindet, welche die Ausgetretenen zwanzig Jahre lang faktisch zu Zwangsmitgliedern macht: Alle Vertragsbestimmungen zum Investitionsschutz gelten "von dem Tag, an dem der Rücktritt der Vertragspartei von dem Vertrag wirksam wird, 20 Jahre lang weiter". Auch die ausgetretenen Staaten können deshalb noch zwanzig Jahre lang vor den Schiedsgerichten ICSID, UNCITRAL oder Stockholmer Handelskammer auf Milliarden-Entschädigungen verklagt werden.
Wer so etwas unterschreibt und vom Parlament ratifizieren lässt, ist selber schuld. Das gilt aber ebenso, wenn er es als unabänderlich hinnimmt. Es handelt sich nämlich um nichts anderes als einen Knebelvertrag bzw. einen Knebelparagraphen. Im deutschen Zivilrecht könnte eine solche Vertragsklausel gemäß § 138 BGB als "sittenwidriges Rechtsgeschäft" angefochten werden. Aus der Sicht des europäischen Rechts dürfte die Beurteilung ähnlich ausfallen, falls der belgischen Exxon-Tochter von dem privaten Schiedsgericht in Washington ein Schadenersatzanspruch für die sofortige Beendigung der Erdgas-Förderung im Groninger Revier zugesprochen werden sollte.
Mit ihrem Austritt aus der "Energie-Charta" wollen die EU-Staaten vor allem solche Schiedsklagen verhindern, die Unternehmen eines Mitgliedslandes unter Umgehung der europäischen Gerichtsbarkeit gegen die Regierung eines anderen Mitgliedslandes anstrengen. Dass der US-Konzern nicht selber in Washington klagt, sondern seine belgische Tochter vorschickt, lässt sich insofern als gezielte Provokation werten. Möglicherweise spekuliert er damit auf die Europafeindlichkeit der neuen Rechtsregierung, die seit Juli in Den Haag an der Macht ist. Im September hat diese bei der EU-Kommission eine "Opt-out-Klausel" beim Asylrecht beantragt. Falls sie damit Erfolg hätte, wäre dies der erste Schritt zu einem Zerfall des Gemeinschaftsrechts, das dann jeder Mitgliedsstaat nach Gutdünken akzeptieren oder ablehnen könnte. Allerdings ist schwer vorstellbar, dass die Rechtspopulisten ausgerechnet eine sehr unpopuläre Maßnahme wie die von ExxonMobil verlangte Milliarden-Entschädigung unterstützen würden.
ExxonMobil und Shell sind keineswegs die Hauptbetroffenen der vorzeitigen Schließung des Groningen-Gasfelds. Um ein vielfaches größer sind die Einnahmen, die dadurch dem niederländischen Staat entgehen. Dieser hatte die Konzessionierung der NAM von Anfang an und vernünftigerweise davon abhängig gemacht, dass er den Großteil der mit dem Groningen-Gas erzielten Gewinne erhält. Eine neuere Schätzung veranschlagt die Gewinne seit Beginn der Förderung auf insgesamt 429 Millarden Euro, wovon 363 Milliarden das niederländische Finanzministerium erhielt, während der Gewinn von Shell und Exxon bei etwa 66 Milliarden Euro lag. Das heisst, dass knapp 85 Prozent des Gesamtgewinns für allgemeinnützige Zwecke verwendet werden konnten.
Das erklärt allerdings auch, weshalb die niederländischen Politiker so lange die Augen vor den katastrophalen Folgen verschlossen, obwohl es zu rund 1.600 Erdbeben kam, bei denen Zehntausende Gebäude schwer beschädigt wurden und rund 100.000 Menschen direkt betroffen waren. Das änderte sich erst, als im Frühjahr 2023 eine parlamentarische Untersuchungskommission feststellte, dass die beiden Energiekonzerne Exxon und Shell mit Unterstützung des Staats die Interessen der Bürger systematisch missachtet hätten, weil ihnen "Geld wichtiger als Sicherheit und Gesundheit" gewesen seien (230604).
zur Erdgasförderung in der niederländischen Provinz Groningen
zur Auseinandersetzung um die "Energie-Charta"