Oktober 2022

221014

ENERGIE-CHRONIK


 


Plakativer geht es nicht: Die ganzseitige Überschrift des Artikels auf dem Titelblatt der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung"

"Frankfurter Allgemeine" plädiert für nukleare Aufrüstung Deutschlands

Das Rätselraten darüber, was die "Frankfurter Allgemeine" wohl veranlasst haben mag, schon seit mehr als einem Jahr eine Kampagne zur Neubelebung der Kernenergie in Deutschland zu führen, scheint jetzt ein Ende zu haben: In der FAZ-Sonntagszeitung vom 30. Oktober plädierte der FAZ-Mitherausgeber Berthold Kohler erstmals öffentlich für den Aufbau einer eigenen deutschen Atomstreitmacht. Die in der ENERGIE-CHRONIK vom Juni geäußerte Vermutung, dass bestimmte Kreise von Politik und Wirtschaft die Neubelebung der Kernenergie in Deutschland deshalb fordern, um eine möglichst weitgehende Substituierung fossiler Energien durch mit Atomstrom erzeugtem Wasserstoff zu erreichen, wäre demnach nicht der Hauptgrund, sondern eher ein zusätzliches Motiv (siehe Hintergrund, Juni 2022).

Es ist zwar unstrittig und allgemein bekannt, dass zwischen friedlicher und militärischer Nutzung der Kernenergie ein enger Zusammenhang besteht (siehe Links). Dennoch hätte es bisher als böswillige Verdächtigung gegolten, wenn man den Befürwortern einer Neubelebung der Kernenergie in Deutschland – die sich gern hinter der Forderung nach längeren Laufzeiten für die drei letzten Kernkraftwerke verstecken – militärische Ambitionen unterstellt hätte.

Deutschland soll nicht länger als "nuklearer Habenichts" solchen Gestalten wie Putin, Trump oder Le Pen schutzlos ausgeliefert sein

Der FAZ-Mitherausgeber verzichtet auf ein solches Versteckspiel. Er begründet seine Forderung nach einer atomaren Bewaffnung damit, dass Deutschland gegenüber der mafiös entgleisten Atommacht Russland als "nuklearer Habenichts" schutzlos dastehe, weil es sich im Ernstfall auch nicht auf die Atommächte USA, Frankreich und Großbritannien verlassen könne. "Es müsste, wenn der Mann im Weißen Haus den Schutzschirm zuklappte, versuchen, unter den französischen zu kriechen." Und nicht nur in Washington könne ein "Albtraum-Präsident" wie Trump wieder an die Macht kommen. Auch in Frankreich drohe weiterhin der Einzug der Rechtsextremistin Marine Le Pen in den Elysée-Palast.

Der Atomwaffensperrvertrag – den die damalige Bundesrepublik 1969 unterzeichnete, aber erst 1975 ratifizierte – sei dabei kein Hindernis, da der Beitritt gekündigt werden könne. Die Bekräftigung des deutschen Verzichts auf Atomrüstung in Artikel 3 des Zwei-plus-vier-Vertrags, mit dem 1990 die beiden deutschen Staaten mit den USA, UdSSR, Frankreich und Großbritannien ihre Wiedervereinigung besiegelten, enthalte dagegen keine Rücktrittsklausel. Eine solche habe sich aber auch erübrigt, schreibt der FAZ-Mitherausgeber vieldeutig-unklar, da der deutsche Verzicht auf Atomwaffen "ein paar Generationen nach Franz Josef Strauß als von der deutschen Vergangenheit und der politischen Vernunft erzwungene Ewigkeitsentscheidung betrachtet" worden sei.

Die letzte Auseinandersetzung um eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr fand vor über sechzig Jahren statt

Der erwähnte CSU-Politiker Franz-Josef Strauß war in den fünfziger Jahren unter Konrad Adenauer zunächst Atom- und dann Verteidigungsminister, bis er 1962 wegen der "Spiegel"-Affäre abtreten musste. Er galt als reaktionärer Scharfmacher und hartnäckiger Befürworter einer eigenen deutschen Atomstreitmacht. An diesen Verteidigungsminister Strauß richtete sich deshalb auch ein Brief, in dem 18 führende deutsche Kernphysiker im November 1956 ihre Weigerung erklärten, an der Herstellung bundesdeutscher Atomwaffen mitzuwirken. Außerdem kündigten sie die Veröffentlichung des Textes an, falls Strauß sich nicht von solchen Plänen distanziere. Dieser empfing eine Delegation der Petenten und beschimpfte sie zunächst: "Ihr Brief enthält ein Staatsgeheimnis. Jede Veröffentlichung ist strafbar!" Dann bequemte er sich zu der Erklärung, keineswegs eine nationale Kernwaffenherstellung zu beabsichtigen.

Dabei wäre es dann wohl geblieben. Auf einer Pressekonferenz am 4. April 1957 versuchte Adenauer jedoch, die Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Trägerwaffen zu verharmlosen: "Unterscheiden Sie doch die taktischen und die großen atomaren Waffen", belehrte der Kanzler die Journalisten. "Die taktischen Waffen sind nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie." Nach dieser Äußerung wollten die Physiker nicht länger schweigen. So kam jene am 12. April 1957 publizierte "Göttinger Erklärung" zustande, mit der Otto Hahn, Carl-Friedrich von Weizsäcker, Werner Heisenberg und andere führende Kernphysiker ihre Mitwirkung an deutschen Atomwaffen verweigerten (die drei Genannten hatten mit dem Bau der "Uranmaschine" schon den Nazis zu Diensten sein müssen). In der aktualisierten Fassung ihrer Erklärung warnten die Physiker außerdem vor Adenauers Verharmlosung der Atomwaffen: "Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat." (Siehe Hintergrund, Januar 2017: "Wozu braucht Deutschland angereichertes Uran?")

 

Links (intern)

Zur Diskussion um längere KKW-Laufzeiten und Neubelebung der Kernenergie in Deutschland

Zum möglichen Mißbrauch radioaktiven Materials in Deutschland

Zum Zusammenhang zwischen friedlicher und militärischer Nutzung der Kernenergie international