August 1994

940811

ENERGIE-CHRONIK


Schwarzhandel mit Spaltmaterial wird zum Wahlkampfthema

Der Schwarzhandel mit Spaltmaterial ist zu einem Thema des laufenden Bundestagswahlkampfes geworden. Nach der im Mai erfolgten Sicherstellung einer Probe Plutonium 239 bei einem südbadischen Geschäftsmann wurden im August drei weitere Fälle des illegalen Handels mit Plutonium und Uran bekannt. Die Affären veranlaßten die Bundesregierung zu Vorhaltungen gegenüber der russischen Regierung, während die SPD den Verdacht einer "Inszenierung" einzelner Plutoniumfunde durch Scheinangebote von V-Leuten der Polizei äußerte (siehe auch 940712).

Uran 235 und Pellets beschlagnahmt

Wie das bayerische Landeskriminalamt erst am 11.8. mitteilte, wurde bereits am 4.7. eine Uran-Schmugglerbande verhaftet, die hochangereichertes Uran, das wahrscheinlich aus einem russischen Reaktor stammte, über Prag nach Deutschland verschieben wollte. Bei den Verhafteten handelt es sich um fünf Männer aus Tschechien und der Slowakei sowie um eine deutsche Immobilienmaklerin. Im Zusammenhang damit beschlagnahmte die Polizei eine 0,8 Gramm-Probe hochangereichertes Uran 235 sowie 120 Urantabletten (Pellets) mit einem Gewicht von 600 Gramm (FAZ, 12.8).

Plutonium-Kuriere kamen aus Moskau

Am 10.8. beschlagnahmte die Polizei auf dem Münchener Flughafen rund 500 Gramm einer Mischung aus Quecksilber und Plutonium, aus der sich reines Plutonium für den Bau von Atomwaffen destillieren läßt. Das Material fand sich im Gepäck von drei Passagieren - zwei Spanier und ein Kolumbianer - die mit einer Maschine der Lufthansa aus Moskau eingetroffen waren und offenbar als Kuriere fungierten. An Bord der Maschine befand sich auch der stellvertretende russische Minister für Atomenergie, Viktor Sidorenko, der auf Einladung der bayerischen Landesregierung nach München gereist war (Spiegel, 15.8.; Welt am Sonntag, 14.8.).

Am 12.8. wurde ein 34jähriger in Bremen festgenommen, als er einem V-Mann der Polizei eine Kapsel mit 2 Gramm Plutoniumgemisch übergeben wollte. Der Probe war ein Zertifikat in kyrillischer Schrift beigefügt. Nach Angaben des V-Manns wollte ihm der Kurier insgesamt 70 Gramm Plutonium verkaufen (Die Welt, 17.8.).

Schmidbauer fliegt nach Moskau

Der Staatsminister im Bundeskanzleramt, Bernd Schmidbauer (CDU), flog am 20.8. nach Moskau, wo er mit Vertretern von Regierung und Geheimdiensten ein "Memorandum" vereinbarte, das die Einrichtung von Verbindungsstellen und Meldediensten zur Unterbindung von Atomschmuggel vorsieht. Ein formelles Abkommen zur Bekämpfung des Atomschmugels gebe es aber nicht, räumte Kanzleramtsminister Friedrich Bohl (CDU) ein. In Moskau wird weiterhin bestritten, daß das in Deutschland beschlagnahmte Material aus russischen Nuklearbetrieben stamme. Man deutet die Affäre sogar als den angeblichen Versuch einer "dritten Kraft", das Verhältnis zwischen beiden Ländern zu stören (DPA, 23.8. u. 24.8.; FAZ, 26.8.).

SPD hält "Inszenierung" von Plutonium-Funden für möglich

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will, um den illegalen Handel mit radioaktivem Material besser bekämpfen zu können, das Atomgesetz novellieren sowie dem Bundeskriminalamt und dem Bundesnachrichtendienst mehr Befugnisse geben. Dies kündigte ihr innenpolitischer Sprecher Erwin Maschewski an. Dagegen äußerte SPD-Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen den Verdacht, einige der Plutoniumfunde könnten für Wahlkampfzwecke "inszeniert" worden sein. Die Bundesregierung wolle so über ihre jahrelange Vernachlässigung dieses Problems hinwegtäuschen und mit publikumswirksamen Fahndungserfolgen ein "Medienspektakel" veranstalten. Auch der SPD-Vorsitzende Rudolf Scharping hält es für möglich, daß die jetzt aufgedeckten Fälle von Atomschmuggel erst durch V-Leute inszeniert wurden, die als Käufer auftraten. Sie seien kein Beweis dafür, daß in Deutschland ein echter Markt für radioaktives Material existiere. Die Reise Schmidbauers nach Moskau kritisierte Scharping als folgenlose "Schau". Schmidbauer wies seinerseits die Anschuldigungen der Opposition als "absurd, ungeheuerlich und reine Polemik" zuück (FR, 15.8.;FAZ, 26.8.; SZ, 26.8.).

Für andere SPD-Politiker unterstreichen die Plutoniumfunde die Notwendigkeit eines Ausstiegs aus der Kernenergie. In diesem Sinne äußerten sich der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine, die niedersächsische Umweltministerin Monika Griefahn und der baden-württembergische Umweltminister Harald Schäfer (DPA, 19.8.; ddp/ADN, 25.8.).

VDEW warnt vor "unqualifizierter Verquickung"

"Mit großer Sorge" sieht der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW), Joachim Grawe, die "unqualifizierte Verquickung der friedlichen Kernenergienutzung mit dem internationalen Plutoniumschmuggel". In einem Gespräch mit dem Handelsblatt (29.8.) betonte Grawe, daß die jüngsten Plutonium-Funde als Konsequenzen der Nuklearrüstung der ehemaligen Sowjetunion zu sehen sind. In den für die Stromerzeugung üblichen Leichtwasserreaktoren könne waffenfähiges Plutonium praktisch nicht gewonnen werden.

"Rußland muß Mindeststandards eines geordneten Staatswesens gewährleisten"

Für das Handelsblatt (16.8.) ist der russische Staat nicht mehr in der Lage, seine Nuklearindustrie wirksam zu kontrollieren: "Von der Kalaschnikow bis zum Mig-Kampfjäger wird auf Moskaus Schwarzmarkt nahezu alles angeboten. Auch der Stoff, aus dem die Bombe ist, macht da keinen Unterschied. Die russische Plutonium-Wirtschaft mit Dutzenden von Brutreaktoren, Labors, Rüstungsfabriken und Verschrottungsanlagen für Atomraketen ist viel zu unübersichtlich, um wirksame Kontrollen zu organisieren."

Für die Frankfurter Allgemeine (17.8.) muß Rußland zunächst die "Mindeststandards eines geordneten Staats- und Sicherheitswesens vorweisen", bevor ihm die gewünschte Rolle in der G 7-Gruppe und anderen internationalen Gremien zugestanden werden kann. "Als unberechenbarer Risikofaktor kann Rußland keine Forderungen stellen. Der Westen sollte das deutlich sagen."

Die Frankfurter Rundschau (15.8.) sieht in der Schmuggel-Affäre eine "hochgiftige Mahnung", die auf die Produktion von Plutonium ausgerichteten Kernkraftwerke des Ostens endgültig stillzulegen: "Das wird viel Geld kosten. Vielleicht schaffen die Plutoniumschmuggler, was Tschernobyl nicht bewirkte."

Für Die Zeit (26.8.) rührt die Gefahr eines ständig wachsenden Arsenals an Plutonium "weniger aus dem noch in Reaktorbrennstäben vorhandenen Material (etwa 750 Tonnen weltweit), als aus dem wiederaufbereiteten, abgetrennten Plutonium (rund neunzig Tonnen) und den durch die Verschrottung atomarer Sprengköpfe frei werdenden Mengen, die noch einmal soviel ausmachen". Eine Lösung für die rasche Beseitigung dieser Mengen sei nicht in Sicht. "Deshalb gibt es für die nächsten Jahrzehnte nur eine realistische Wahl: Plutonium mittels strengster Sicherheitsvorkehrungen vor Unbefugten zu schützen."

Nach Feststellung der Frankfurter Allgemeinen (22.8.) sind aus der Schmuggelaffäre keine Folgerungen für den Betrieb deutscher Kernkraftwerke zu ziehen. Dennoch werfe die Affäre "beiläufig ein Licht auf die ernste und ungelöste Frage der Entsorgung radioaktiven Abfalls". Sie unterstreiche die Notwendigkeit eines deutschen Endlagers für hochradioaktive Abfälle und zeige, daß deren Lagerung im Ausland kein Ausweg sei. "Deutscher Atommüll muß und kann nur hier im Lande sicher bearbeitet und verwahrt werden."