Juni 2021

210604

ENERGIE-CHRONIK


 


Das Kernkraftwerk Taishan liegt an der Küste des Südchinesischen Meeres. Die beiden Druckwasserreaktoren vom Typ EPR sind seit 2018 bzw. 2019 in Betrieb. Sie verfügen jeweils über eine Leistung von 1750 MW (brutto) bzw. 1660 MW (netto). Links ist der Reaktor 1 zu sehen, bei dem defekte Brennelemente eine erhöhte radioaktive Belastung des Primärkreislaufs verursachen.
Foto: EDF

China hat Grenzwert für Radioaktivitätsabgabe aus dem KKW Taishan mehr als verdoppelt

Die Electricité de France (EDF) hat die US-Regierung am 8. Juni vor einer "unmittelbar drohenden radioaktiven Gefährdung" durch das chinesische Kernkraftwerk Taishan gewarnt, weil die chinesische Atomaufsicht dort den Grenzwert für die Radioaktivitätsabgabe an die Umwelt inzwischen mehr als verdoppelt habe und weitere Anhebungen zu erwarten seien. Über ein entsprechendes Schreiben der EDF-Tochter Framatome an das Energieministerium in Washington berichtete am 14. Juni der amerikanische Nachrichtensender CNN. Die EDF bestätigte daraufhin noch am selben Tag "den Anstieg der Konzentration bestimmter Edelgase im Primärkreislauf des Reaktors Nr. 1 des Kernkraftwerks Taishan", an dem sie als Minderheitsgesellschafter (30 Prozent) des Gemeinschaftsunternehmens TNPJVC beteiligt ist und das mehrheitlich dem chinesischen Staatskonzern CGN gehört. Sie habe eine außerordentliche Sitzung des TNPJVC-Verwaltungsrats beantragt, "damit das Management alle Daten und die notwendigen Entscheidungen präsentieren kann".

EDF verfügt nur über wenig Einfluss auf die Leitung ihres Vorzeigeprojekts

Die beiden Reaktoren in Taishan sind das einzige funktionierende Kernkraftwerk vom Typ "Evolutionary Pressurized Reactor" (EPR), das Framatome bisher verwirklichen konnte. Die EDF-Tochter ist nicht nur finanziell an dem chinesischen Kernkraftwerk weiterhin beteiligt, sondern auch an dessen Betriebsführung. Ihr Hilfeersuchen an die US-Regierung ist deshalb ein sehr ungewöhnlicher Schritt. Er lässt sich nur so erklären, dass die Franzosen nicht für Entscheidungen des Staatskonzerns CGN und der chinesischen Aufsichtsbehörde verantwortlich gemacht werden wollen, die ohne vorherige Abstimmung oder sogar gegen ihren Willen erfolgt sind. Nach Feststellung der französischen Wirtschaftszeitung "Les Echos" verdeutlicht der Vorfall, wie schwierig es für die EDF ist, Einfluss auf die Führung des Kernkraftwerks Taishan zu nehmen, das ihr Vorzeigeprojekt sein soll.

Undichte Brennelemente erhöhen radioaktive Belastung des Primärkreislaufs


China betreibt derzeit 49 Leistungsreaktoren an 14 KKW-Standorten. Sie wurden alle an der Küste zum Pazifik errichtet, wo sich auch das das wirtschaftliche Leben des Landes konzentriert. Außerdem gibt es in der Nähe von Peking den Versuchsbrüter CEFR , der seine bescheidene Leistung von 20 MW ebenfalls ins Netz einspeist.
Quelle: IAEA

Den Hintergrund der Affäre bildet, dass in dem Druckwasserreaktor Taishan 1 die Hüllrohre etlicher Brennelemente undicht geworden sind. Dadurch entweichen radioaktive Edelgase, die in den Hüllrohren eingeschlossen bleiben müssten, in den primären Kühlkreislauf. Gemessen an der Gesamtzahl der Brennstäbe in einem Reaktor kommt dieses Problem relativ selten vor, ist aber keineswegs ungewöhnlich. Zum Beispiel waren in Deutschland beim Block C des Kernkraftwerks Gundremmingen – einem Siedewasserreaktor mit nur einem Kühlkreislauf – in den Betriebsjahren 2002 bis 2019 insgesamt 19 der 70.000 Brennelemente undicht, wobei die Anzahl der defekten Stäbe jährlich zwischen null und sechs schwankte. Bei den Druckwasserreaktoren Isar 1 und Grafenrheinfeld wurden binnen 15 Betriebsjahren 32 bzw. 4 defekte Brennstäbe festgestellt, wogegen bei Isar 2 alle intakt blieben. Beim Reaktor Taishan 1 sind nach chinesischen Angaben derzeit sechs von insgesamt 60.000 Brennstäben undicht.

Ein Weiterbetrieb des Reaktors bleibt mit einer geringen Anzahl von lecken Brennelementen zwar möglich, setzt aber die Einhaltung der Grenzwerte voraus, die für die Radioaktivität im Primärkreislauf bzw. deren Abgabe an die Außenluft gelten. Und das wird dann umso schwieriger, je mehr Brennstäbe betroffen sind. Letztendlich können so schon ein paar defekte Brennstäbe eine Leistungsminderung erzwingen, weil sonst die zulässigen Grenzwerte für die Abgabe von Radioaktivität an die Umwelt überschritten würden.

Grenzwert für Radioaktivitätsabgabe an die Außenwelt wurde mehr als verdoppelt

In Taishan hat die chinesische Atomaufsichtsbehörde NNSA keinen der beiden Auswege beschritten, sondern den gordischen Knoten in klassischer Manier gelöst bzw. durchschlagen, indem sie einfach den Grenzwert erhöhte, der für die Abgabe von Radioaktivität aus dem Primärkreislauf des Druckwasserreaktors an die Umwelt zulässig ist. Dies ergibt sich aus den Framatome-Schreiben an die US-Regierung, über die CNN am 14. Juni erstmals berichtete. Demnach orientierte sich der Grenzwert für die Umweltbelastung mit Radioaktivität ursprünglich an Vorgaben der französischen Atomaufsicht. Inzwischen sei er aber mehr als doppelt so hoch angesetzt worden, warnte Framatome. Mit weiteren Anhebungen sei zu rechnen. Entsprechend steige "das Risiko außerhalb des Geländes für die Öffentlichkeit und für die Beschäftigen vor Ort".

Framatome bat USA dringend um "technische Unterstützung"

Framatome wandte sich in dieser Angelegenheit schon Ende Mai an das US-Energieministerium. Am 3. Juni folgte ein förmlicher Antrag auf Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der Betriebssicherheit der Anlage, aus der Radioaktivität auszutreten drohe. Damit verbunden war die Bitte um eine Ausnahmegenehmigung für den notwendigen technologischen Beistand, da der chinesische Staatskonzern CGN vom US-Handelsministerium auf eine Schwarze Liste solcher Unternehmen gesetzt wurde, mit denen keine Geschäfte getätigt werden dürfen. Am 8. Juni bat Framatome um beschleunigte Prüfung dieses Hilfeersuchens und begründete die Dringlichkeit folgendermaßen: "The situation is an imminent radiological threat to the site and to the public and Framatome urgently requests permission to transfer technical data and assistance as may be necessary to return the plant to normal operation."

Der Hinweis auf eine unmittelbar drohende radioaktive Gefährdung dient dabei offenbar als notwendige Begründung, um ungeachtet der Schwarzen Liste einen technischen Beistand durch die USA ermöglichen zu können. Allerdings erschließt sich nicht so recht, worin dieser technische Beistand hätte bestehen können, da es sich ja nicht um ein Leck in der Anlage handelte, sondern um ein regelmäßig bei Kernkraftwerken auftretendes Betriebsproblem mit bekannten Lösungsmöglichkeiten. Insofern darf man annehmen, dass Framatome vor allem auf den willkürlichen Umgang mit Sicherheitsvorschriften aufmerksam machen wollte und sich eher politischen Beistand durch den weltweit größten KKW-Betreiber erhoffte.

Peking wiegelt ab, und auch in Washington sieht man "derzeit" keine ernsthafte Gefährdung

Laut CNN hat die US-Regierung daraufhin die Lage in Taishan tatsächlich mit der französischen Regierung und ihren eigenen Experten im Energieministerium erörtert. Der Nationale Sicherheitsrat habe mehrere Sitzungen abgehalten. Ferner sei es zu einer nicht näher ausgeführten Kontaktaufnahme mit der chinesischen Regierung gekommen. Letztendlich sei man aber in Washington zu der Auffassung gelangt, dass derzeit keine ernsthafte Gefährdung für die Beschäftigten im Kernkraftwerk Taishan oder die chinesische Öffentlichkeit bestehe. Die chinesische Regierung verbreitete am 15. Juni dieselbe Botschaft, indem sie einen Sprecher des Außenministeriums auf einer Pressekonferenz in Peking erklären ließ, dass die Sicherheit des Reaktors gewährleistet sei und es auch "keine Abnormalität in der Strahlungsumgebung um das Kernkraftwerk" gebe.

Zur Beantwortung von Nachfragen – etwa zur konkreten Höhe von Grenzwerten und deren Veränderung – war der Sprecher des chinesischen Außenministeriums allerdings nicht bereit. Das spricht dafür, dass die chinesischen Behörden tatsächlich den Grenzwert für die Radioaktivitätsabgabe an die Umwelt um mehr als das Doppelte erhöht haben und nun diese veränderte Norm zur Augenwischerei nutzten, indem sie "keine Abnormalität" feststellen konnten.

Deutsch-französisches Gemeinschaftsprojekt geriet zum Milliardengrab

Der EPR war ursprünglich ein Gemeinschaftsunternehmen des deutschen Siemens-Konzerns und des französischen Reaktorbauers Framatome. Mit dem "Europäischen Druckwasserreaktor" bzw. "European Pressurized Reactor" wollte man nach der Katastrophe von Tschernobyl die Folgen einer Kernschmelze möglichst auf das Reaktorgebäude begrenzen. Das Projekt wurde 1989 hauptsächlich mit Blick auf Deutschland gestartet, wo der Neubau von Kernkraftwerken zum Erliegen gekommen war. Die Hoffnung, damit unter günstigen politischen Umständen eine Renaissance der Kernenergie einleiten zu können, erfüllt sich allerdings nicht. Nachdem Siemens sich 2001 erst teilweise und 2009 schließlich ganz aus dem Projekt zurückzog, führte die französische Nuklearindustrie es in alleiniger Regie weiter, hatte damit aber ebenfalls kein Glück. Stattdessen geriet der "Evolutionary Pressurized Reactor" bzw. ""Evolutionary Power Reactor" – so lautete aus Verkaufsgründen nun die neue Deutung des Akronyms EPR – zu einer ununterbrochenen Serie von Pannen, Kostenexplosionen und exzessiven Bauzeit-Überschreitungen. Auch bei den beiden Reaktoren in Taishan kam es zu erheblichen Verzögerungen und Kostensteigerungen. Sie wurden aber immerhin fertiggestellt und konnten bis 2019 beide in Betrieb genommen werden. Für die Electricité de France sind damit die beiden einzigen bislang funktionierenden EPR zu einem technischen Vorzeigeprojekt geworden, obwohl ihr das Kernkraftwerk Taishan bislang nur Verluste beschert hat (siehe Hintergrund, August 2020).

China betreibt nach den USA und Frankreich die meisten Reaktoren

China hat derzeit 50 Reaktoren mit einer Nettoleistung von 47,53 Gigawatt in Betrieb. Es rangiert damit an dritter Stelle hinter den USA (93 Reaktoren mit 95,52 GW) und Frankreich (56 Reaktoren mit 61,37 MW), gefolgt von Japan (33 Rektoren mit 31,68 GW ) und Russland (38 Reaktoren mit 28,58 GW). Dennoch deckt die Kernenergie derzeit nur knapp 5 Prozent der chinesischen Stromerzeugung, die für 2019 mit 7.325 Terawattstunden angegeben wurde (was zwölfmal soviel war wie der deutsche Stromverbrauch von 607 TWh). Noch immer stammen mehr als zwei Drittel des in China erzeugten Stroms aus Kohle- und anderen fossil befeuerten Kraftwerken. Zweitwichtigste Stromquelle sind mit rund 27 Prozent die Erneuerbaren, wobei die Wasserkraft (18 Prozent) den größten Anteil hat, gefolgt von Windkraft (6 Prozent) und Solaranlagen (3 Prozent).

KKW-Anteil der Stromerzeugung soll bis 2035 auf zehn Prozent steigen

Die chinesische Energiepolitik zielt auf die weitere Verringerung des Stromanteils aus fossil befeuerten Wärmekraftwerken und der verkehrsbedingten CO2-Emissionen, die das Land zum weltweit größten Treibhausgas-Emittenten machen (161008) und über die damit einhergehende Luftverschmutzung enorme gesundheitliche Schäden verursachen. Die gegenwärtige politische Führung in Peking setzt dabei sowohl auf die Nutzung der erneuerbaren Stromquellen als auch auf die Errichtung weiterer Kernkraftwerke. Derzeit sind an den bisherigen und fünf neuen KKW-Standorten 14 Reaktoren im Bau. Bis 2035 soll der Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung auf zehn Prozent verdoppelt werden. Auch die neuen Kernkraftwerke entstehen meistens an der Südostküste, die der wirtschaftlich am weitesten entwickelte Teil des Landes ist (siehe Karte).

Auch bei der CO2-freien Stromerzeugung zählt der Schutz von Mensch und Umwelt wenig

Umweltfreundlich sind beide Arten der CO2-freien Stromerzeugung in ihrer chinesischen Variante allerdings nur sehr bedingt. So wurde der relativ hohe Wasserkraftanteil der Stromerzeugung mit schweren Beeinträchtigungen des Ökosystems entlang des Mekong und anderer Flüsse erkauft. In ähnlicher Weise nimmt das autokratische Regime in Peking nicht nur die prinzipiellen Gefahren der nuklearen Stromerzeugung in Kauf, sondern ist auch bereit, die in Europa oder den USA geltenden Sicherheitsvorschriften einzudampfen, wenn ihm dies opportun erscheint. Das zeigt beispielhaft die jetzige Affäre in Taishan, wo die zulässige Radioaktivitätsabgabe an die Umwelt einfach um mehr als das Doppelte hochgeschraubt wurde, um den Reaktor ohne Unterbrechung oder Leistungsminderung weiter betreiben zu können.

 

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