Oktober 2015 |
151004 |
ENERGIE-CHRONIK |
Das Bundeswirtschaftsministerium veröffentlichte am 10. Oktober die Ergebnisse eines "Stresstests", mit dem untersucht werden sollte, ob die von den KKW-Betreibern gebildeten Rückstellungen ausreichen, um den Rückbau und die Stillegung der Kernkraftwerke sowie die Kosten für Entsorgung und Endlagerung abzudecken. Insgesamt geht es um 23 Kernkraftwerke an 17 Standorten, deren strahlende Hinterlassenschaften im Laufe des Jahrhunderts beiseitigt werden müssen (siehe Tabelle 3).
Die Ergebnisse des sogenannten Stresstests sind freilich alles andere als eindeutig, da die beauftragte Wirtschaftsprüfergesellschaft Warth & Klein Grant Thornton AG gleich sechs verschiedene Szenarien zur Auswahl gestellt hat. Es kann sich somit jeder das heraussuchen, was er für plausibel hält. Je nachdem ergibt sich ein Finanzbedarf zwischen 29,9 und 77,4 Milliarden Euro. Die bisher getätigten Rückstellungen der KKW-Betreiber haben die Wirtschaftsprüfer anhand der Geschäftsberichte mit 38,3 Milliarden Euro veranschlagt (siehe Tabelle 1). Im günstigsten Fall würden sie demnach üppig ausreichen. Im ungünstigten Fall – der sicher näher an der Realität liegt – müßten sie indessen mehr als doppelt so hoch sein.
Entspannung per "Stresstest"Zu den Anglizismen, die im Polit-Sprech ihren festen Platz gefunden haben, gehört der "Stresstest". Der Ausdruck suggeriert, daß irgend etwas einer extremen Belastungsprobe unterworfen würde, um bislang verborgene Schwächen festzustellen. Der Ausdruck fristete lange Zeit ein unbeachtetes Dasein in der Humanmedizin, bevor er über die Finanzwirtschaft ins politische Vokabular gelangte. Seine große Stunde schlug, als er 2011 nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima den EU-Regierungschefs dazu diente, eine ziemlich lasche Sicherheitsüberprüfung der europäischen Kernkraftwerke sprachlich aufzudonnern (110304). In Wirklichkeit ging es bei diesem "Stresstest" nur um die Sichtung schriftlicher Unterlagen. Kein einziges der 143 Kernkraftwerke in der EU wurde auf reale Schwachstellen abgeklopft (110503). Ähnlich verhält es sich mit dem "Stresstest" zu den Entsorgung-Rückstellungen, den im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums jetzt eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft durchführte. Auch hier werden nicht reale Risiken erkundet oder wenigstens die Werthaltigkeit der angegebenen Rückstellungen überprüft, sondern lediglich die von den KKW-Betreibern genannten Zahlen mit den mutmaßlichen Kosten verglichen, die mit der Entsorgung verbunden sein könnten. Zudem gibt es eine ganze Palette von Szenarios zur Auswahl. – Ein Stresstest also, der nichts und niemanden stresst, sondern eher auf Entspannung angelegt ist. |
Nach Ansicht von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) ergibt sich aus dem von ihm beauftragten Gutachten, daß die bisher getätigten Rückstellungen ausreichend waren. Die Szenarien mit den hohen Rückstellungswerten seien ohnehin unwahrscheinlich. Falls sich dennoch zusätzlicher Finanzbedarf ergebe, könne dieser aus dem bilanziellen Reinvermögen der KKW-Betreiber gedeckt werden, das die Gutachter mit zusätzlich 42.973 Millionen Euro beziffert haben (siehe Tabelle 2). Der Minister formulierte seine Sichtweise der Dinge so: "Die Vermögenswerte der Unternehmen decken in Summe die Finanzierung des Rückbaus der Kernkraftwerke und der Entsorgung der radioaktiven Abfälle ab." Die Ergebnisse des "Stresstests" würden nun der "Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs" zur Verfügung gestellt, die am 14. Oktober vom Kabinett eingesetzt wurde (151003). Im übrigen ergebe sich aus dem Gutachten "kein neuer Handlungsbedarf".
Die weit auseinander liegenden Prognosen der sechs Szenarios erklären sich aus unterschiedlichen Annahmen zur Höhe der Zinssätze und der Kostensteigerungen bei der Entsorgung. Das ungünstigste Szenario geht davon aus, daß die Rückstellungen mit zwei Prozent verzinst werden, die Inflationsrate 1,6 Prozent beträgt und die spezifischen Kosten der nuklearen Entsorgung zusätzlich um zwei Prozent pro Jahr steigen. So ergibt sich dann ein Negativzins von 1,6 Prozent. Die KKW-Betreiber operieren dagegen derzeit mit Zinssätzen von durchschnittlich 4,6 Prozent. Unter Berücksichtigung der Inflationsrate und der nuklearspezifischen Kostensteigerung gelangen sie so zu einem Realzins von durchschnittlich 1,0 Prozent. Das günstigste Szenario des Gutachtens unterstellt sogar eine Verzinsung um 5,25 Prozent.
Bereits im September waren verschiedene Berichte erschienen, wonach die Rückstellungen bei weitem nicht ausreichen würden (150901). Sie stützten sich offenbar auf das Szenario mit schwacher Verzinsung und einem faktisch zu erwartenden Negativzins, das der Realität zumindest näher kommen dürfte als die optimistische Variante. Die ohnehin gebeutelten Aktienkurse der KKW-Betreiber waren daraufhin noch mehr abgesackt. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel sah sich deshalb veranlaßt, vor voreiligen Spekulationen zu den Auswirkungen des "Stresstest"-Papiers auf den geplanten Gesetzentwurf zur "Nachhaftung" der KKW-Betreiber zu warnen. Die Aktien der KKW-Betreiber profitierten davon freilich nur kurzfristig. Am 28. September erreichten sie mit 7,132 Euro (E.ON) bzw. 9,20 Euro (RWE) neue Rekord-Tiefstände.
Die Börse reagierte erst wieder freundlicher, nachdem führende SPD-Politiker Anfang Oktober mit Nachdruck signalisierten, daß den KKW-Betreiben durch die geplante Gesetzgebung zur Nachhaftung keine zusätzlichen Belastungen entstehen würden. Den Anfang machte der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Garret Duin, der am 1. Oktober erklärte: "Wenn wir irgendwann zu dem Ergebnis kommen sollten, daß die 38 Milliarden Euro Atomrückstellungen nicht ausreichen, dann wäre das keine Frage, die die Unternehmen zu lösen haben." (FAZ, 2.10.) Am 4. Oktober bekräftigte Gabriel bei einem Vortrag in Bonn, daß es nicht darum gehe, den KKW-Betreibern neue Belastungen aufzuerlegen. Die Konzerne befänden sich in einer schwierigen Marktlage. Das sei nicht nur auf eigenes Verschulden zurückzuführen, sondern liege auch daran, daß sie "Opfer der Politik" geworden seien. Wörtlich erklärte der Minister: "Heute müssen wir ein Interesse daran haben, diese Unternehmen zu begleiten und zu unterstützen, daß sie sich zum Wohle des Landes und ihrer Beschäftigten so entwickeln, daß sie eine Zukunft haben." (FAZ, 5.10.)
Nachdem Gabriel das Gutachten präsentiert und die Rückstellungen für ausreichend erklärt hatte, legten die Kurse von E.ON und RWE nochmals um mehr als zehn Prozent zu: Die E.ON-Aktie kletterte von einem Börsentag zum anderen von 9,119 auf 10,225 Euro, die RWE-Aktie von 12,25 auf 13,39 Euro. Die ministerielle Stellungnahme war bewußt an einem Samstag veröffentlicht worden, um der Börse bis Montag Gelegenheit zu geben, sie mit dem nunmehr vorliegenden Gutachten zu vergleichen. Es gab freilich auch skeptische Stimmen, die das Gutachten nicht so positiv interpretierten oder auf die generelle Morbidität des einst so erfolgreichen Geschäftsmodells der vier Energiekonzerne verwiesen. Das Kursfeuerwerk hielt dann auch nicht lange an. Ende Oktober lag die E.ON-Aktie wieder bei 9,40 Euro und die RWE-Aktie bei 12,04 Euro.
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(Die Daten der drei folgenden Tabellen wurden dem Gutachten der Wirtschaftsprüfergesellschaft Warth & Klein Grant Thornton AG entnommen)
Kernenergierückstellungen zum 31. 12. 2014 | Mio. EUR |
E.ON | 16.567 |
RWE | 10.367 |
EnBW | 8.071 |
Vattenfall Deutschland | 3.014 |
SWM* | 564 |
davon Auslandsverpflichtungen | -295 |
Summe | 38.288 |
*Die Stadtwerke München (SWM) sind mit 25 % am KKW Isar 2 beteiligt |
Aggregierte Bilanzwerte von E.ON, RWE, EnBW,Vattenfall D und SWM zum 31.12.2014 | Mio. EUR |
Langfristige immaterielle Vermögenswerte | 31.413 |
Sachanlagen | 98.271 |
Nettoumlaufvermögen | -12.096 |
At-Equity bilanzierte Beteiligungen | 10.828 |
Operatives Vermögen (inkl. at-Equity bilanzierter Beteiligungen) | 128.416 |
Übrige Finanzanlagen | 3.362 |
Liquide Mittel | 20.711 |
Sonstiges Finanzvermögen | 16.044 |
Finanzverbindlichkeiten | -46.934 |
Pensionsrückstellungen | -22.821 |
Sonstige verzinsliche Rückstellungen | -9.097 |
Anteile Minderheitsgesellschafter | -5.715 |
Hybridgesellschafter | -2.705 |
Reinvermögen vor Kernenergierückstellungen | 81.261 |
Kernenergierückstellungen | -38.288 |
Eigenkapital der Aktionäre und Gesellschafter | 42.973 |
Die 23 Kernkraftwerke, für deren Entsorgung die Rückstellungen benötigt werdenVon den 23 Kernkraftwerken gehören nur 13 einem einzigen Unternehmen. An den übrigen sind mehrere Unternehmen beteiligt. Je nach rechtlicher Ausgestaltung kann dabei der Eigentumsanteil vom bilanzierten Anteil sowie den zu bilanzierenden Rückstellungen abweichen. Bei Gundremmingen A, B und C (RWE/E.ON), Krümmel (Vattenfall/E.ON) und Isar 2 (E.ON/SWM) sind die Eigentumsanteile mit den bilanzierten Anteilen sowie den zu bilanzierenden Rückstellungen identisch. Die Kernkraftwerke Stade, Brunsbüttel, Brokdorf, Grohnde und Emsland werden dagegen inklusive der Entsorgungsverpflichtungen beim Mehrheitseigentümer konsolidiert (E.ON bzw. RWE) . Im Unterschied zu den Stadtwerken München (SWM) mit ihrer 25-prozentigen Beteiligung am KKW Isar 2 tauchen deshalb die Stadtwerke Bielefeld mit ihrer Sechstelbeteiligung am KKW Grohnde (030209) in dieser Übersicht nicht auf. Die Angaben zu den bereits stillgelegten 15 Kernkraftwerken werden hier in Kursivschrift dargestellt.
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KKW | Typ | Beginn des Leistungs-betriebs | Ende des Leistungs- betriebs |
Netto-Leistung |
E.ON |
RWE Anteil (bilanziert) |
EnBW Anteil (bilanziert) |
Vattenfall D Anteil (bilanziert) |
SWM Anteil (bilanziert) |
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1 | Gundremmingen A | SWR | 12.04.1967 | 13.01.1977 | 237 | 25% (25%) | 75% (75%) | |||
2 | Lingen | SWR | 01.10.1968 | 05.01.1977 | 183 | 100% (100%) | ||||
3 | Mülheim-Kärlich | DWR | 01.10.1987 | 09.09.1988 | 1219 | 100% (100%) | ||||
4 | Würgassen | SWR | 11.11.1975 | 26.08.1994 | 640 | 100% (100%) |
||||
5 | Stade | DWR | 19.05.1972 | 14.11.2003 | 640 | 67% (100%) | 33% (at equity) | |||
6 | Obrigheim | DWR | 01.04.1969 | 11.05.2005 | 340 | 100% (100%) | ||||
7 | Biblis A | DWR | 26.02.1975 | 06.08.2011 | 1167 | 100% (100%) | ||||
8 | Biblis B | DWR | 31.01.1977 | 06.08.2011 | 1240 | 100% (100%) | ||||
9 | Brunsbüttel | SWR | 09.02.1977 | 06.08.2011 | 771 | 33% (at equity) | 67% (100%) | |||
10 | Isar 1 | SWR | 21.03.1979 | 06.08.2011 | 878 | 100% (100%) | ||||
11 | Krümmel | SWR | 28.03.1984 | 06.08.2011 | 1346 | 50% (50%) | 50% (50%) | |||
12 | Neckarwestheim 1 | DWR | 01.12.1976 | 06.08.2011 | 785 | 100% (100%) | ||||
13 | Philippsburg 1 | DWR | 26.03.1980 | 06.08.2011 | 890 | 100% (100%) | ||||
14 | Unterweser | DWR | 06.09.1979 | 06.08.2011 | 1345 | 100% (100%) | ||||
15 | Grafenrheinfeld | DWR | 17.06.1982 | 27.06.2015 | 1275 | 100% (100%) | ||||
16 | Gundremmingen B | SWR | 19.07.1984 | 31.12.2017 | 1284 | 25% (25%) | 75% (75%) | |||
17 | Philippsburg 2 | DWR | 18.04.1985 | 31.12.2019 | 1402 | 100% (100%) | ||||
18 | Brokdorf | DWR | 22.12.1986 | 31.12.2021 | 1410 | 80% (100%) | 20% (at equity) | |||
19 | Grohnde | DWR | 01.02.1985 | 31.12.2021 | 1360 | 83% (100%) | ||||
20 | Gundremmingen C | SWR | 18.01.1985 | 31.12.2021 | 1288 | 25% (25%) | 75% (75%) | |||
21 | Emsland, Lingen | DWR | 20.06.1988 | 31.12.2022 | 1335 | 12,5% (0%) | 87,5% (100%) | |||
22 | Isar 2 | DWR | 09.04.1988 | 31.12.2022 | 1410 | 75% (75%) | 25% (25%) | |||
23 | Neckarwestheim 2 | DWR | 15.04.1989 | 31.12.2022 | 1310 | 100% (100%) |