Juni 2015 |
150602 |
ENERGIE-CHRONIK |
Früher hielten sich die deutschen Stromimporte und -exporte im mehrjährigen Mittel ungefähr die Waage. Seit 2003 bewegt sich der Exportsaldo aber nur noch im negativen Bereich. Die unentwegt steigenden Überschüsse gingen erst 2009 wegen der Rezession wieder etwas zurück. Sogar 2011 – im Jahr der atompolitischen Wende mit der Stillegung der acht ältesten Kernkraftwerke – war ein leichter Exportüberschuß zu verzeichnen. Schon ein Jahr danach erreichte der Exportsaldo neue Rekordwerte. Nach den bislang für 2014 vorliegenden Zahlen flossen 74,4 Terawattstunden (TWh) Strom über deutsche Grenzen ins Ausland, während es in umgekehrter Richtung nur 38,9 TWh waren. Das ergibt einen noch nie erreichten Exportüberschuß von 35,5 TWh (siehe auch 140105). |
Im Streit um eine Klimaabgabe für ältere Kohlekraftwerke (150404) hat Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) Unterstützung von der Initiative "Agora Energiewende" (140915) erhalten. Am 14. Juni veröffentlichte die Initiative eine Studie, wonach die Stromexporte aus deutschen Kohlekraftwerken sich immer stärker auf den europäischen Strommix auswirken. Dies führe zu höheren Emissionen in Deutschland und Europa insgesamt, da die Stromexporte in den Nachbarländern Gaskraftwerke verdrängen. Diese Entwicklung werde sich in den nächsten Jahren verstärken, da die europäischen Strommärkte immer weiter zusammenwachsen. Ohne politisches Gegensteuern werde Deutschland daher voraussichtlich weder sein Klimaschutzziel für 2020 (40 Prozent weniger Emissionen als 1990) erreichen können, noch das mittelfristige Ziel für das Jahr 2030 (minus 55 Prozent).
Die anhaltend niedrigen Preise für Treibhausgaszertifikate im europäischen Emissionshandel würden insbesondere Braunkohlekraftwerke begünstigen, deren Brennstoffkosten gering sind, während ihre hohen Kohlendioxidemissionen kaum zu Buche schlagen. Die Kohlekraftwerke hätten deshalb die Gaskraftwerke in Deutschland in den vergangenen Jahren aus dem Markt verdrängt. Zudem habe Deutschland in den vergangenen Jahren immer neue Rekorde beim Stromexport verzeichnet. Inzwischen werden schon sechs Prozent der deutschen Stromproduktion im Ausland verbraucht.
Weitere Exportsteigerungen seien absehbar: Zum einen würden in den kommenden Jahren die Stromnetze zwischen Deutschland und seinen Nachbarn verstärkt, so dass mehr Transportkapazität zur Verfügung steht. Zum anderen benötigte Deutschland wegen des weiteren Ausbaus der Erneuerbaren Energien immer weniger Strom aus Kohlekraftwerken. Dieser stehe dann für den Export ins Ausland zur Verfügung. Dort setze sich der Dominoeffekt zulasten von Gaskraftwerken – etwa in den Niederlanden und Italien - fort, da diese Kraftwerke Strom aufgrund der niedrigen CO2-Preise zu höheren Kosten als Kohlekraftwerke produzieren. Insgesamt sei der aus Deutschland exportierte Strom rund doppelt so klimaschädlich wie der im Ausland ersetzte Strom. Unterm Strich stiegen dadurch die Treibhausgasemissionen auch auf der europäischen Ebene.
Die für 2019 geplante Einführung einer Marktstabilitätsreserve im EU-Emissionshandel könne an dieser Entwicklung nichts mehr verändern, heißt es in der Analyse. Die Reform komme zu spät, um das deutsche Klimaschutzziel für 2020 zu erreichen, da sie einige Jahre brauchen werde, um die CO2-Preise auf EU-Ebene zu erhöhen und so Einfluss auf den Strommarkt zu nehmen.
Ein weiteres Papier, das die Initiative Agora Energiewende am 14. Juni publizierte, befaßt sich mit der Forderung der Bergbaugewerkschaft IGBCE und des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), die geplante Klimaabgabe durch eine "Klimaschutzreserve" zu ersetzen. Demnach würden ältere Kohlekraftwerke nicht mit einer Klimaschutzabgabe belegt, sondern vom Markt genommen und nur noch dann aktiviert, wenn die erneuerbaren Energien nicht genügend Strom liefern. Nach einer Studie der Firma Frontier Economics, von der sich die Braunkohle-Lobby zuarbeiten ließ, ist das angeblich eine wesentlich günstigere Lösung. Die Agora-Initiative hat ihrerseits das Beratungsunternehmen Enervis Energy Advisors mit der Überprüfung dieses Vorschlags beauftragt. Sie gelangt zu dem Schluß, daß die Bildung einer solchen Reserve als Alternative zur Klimaabgabe prinzipiell möglich wäre. Allerdings müsse berücksichtigt werden, daß diese Reserve immer auch Kraftwerke enthalten würde, die ohnehin stillgelegt worden wären. Um nennenswerte zusätzliche CO2-Minderungen zu erbringen, müsse sie deshalb "mindestens Platz für vier bis sechs Gigawatt alte Braunkohlekraftwerke bieten". Da die in Deutschland installierte Braunkohle-Kapazität insgesamt gut 21 Gigawatt beträgt, entspräche dies etwa einem Viertel dieser Kraftwerksleistung. Zu den damit verbundenen Kosten – die sicher im Milliardenbereich lägen und von den Stromverbrauchern zu tragen wären – trifft das Papier keine Aussagen.