November 2012

121103

ENERGIE-CHRONIK


 

Der immense Regulierungs- und Bürokratieaufwand, den die sogenannte Liberalisierung des Energiemarktes erfordert, hat unter anderem zu einer enormen Aufblähung des Energiewirtschaftsgesetzes geführt: In der neuesten Fassung, die jetzt im November beschlossen wurde, hat das EnWG den zwanzigfachen Textumfang wie zu Beginn der Liberalisierung. Die Zahl der Paragraphen hat sich dagegen "nur" verzehnfacht. Der Textumfang pro Paragraph hat sich also im Schnitt verdoppelt. Ähnlich sieht es bei anderen energiewirtschaftlichen Gesetzestexten wie dem EEG aus. Hinzu kommt eine Flut von Rechtsverordnungen und behördlichen Ausführungsvorschriften, die niemand mehr in ihrer Gesamtheit überblickt.

Bundestag billigt Offshore-Haftung, Reglementierung des Kraftwerksparks und Abschaltverordnung

Mit den Stimmen der Regierungsparteien billigte der Bundestag am 29. November das "Dritte Gesetz zur Neuregelung energiewirtschaftlicher Vorschriften". Das Artikelgesetz fügt dem Energiewirtschaftsgesetz sieben neue Paragraphen hinzu (§§ 17a - 17j), mit denen die Stromverbraucher für Verzögerungen oder längere Unterbrechungen bei der Netzanbindung von Offshore-Windkraftanlagen haftbar gemacht werden (120805). Drei weitere neue Paragraphen, die bis 31. Dezember 2017 befristet sind (§§ 13a - 13c), untersagen die Stillegung von Kraftwerken, die von der Bundesnetzagentur als "systemrelevant" zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit eingestuft werden. Außerdem ermächtigt ein neuer Passus (§ 13 Abs. 4b) die Bundesregierung zum Erlaß der seit zwei Jahren geplanten "Abschaltverordnung" (120109). Diese Verordnung wurde bereits am Vortag der Abstimmung im Bundestag vom Kabinett verabschiedet und dürfte noch vor Jahresende in Kraft treten.

Netzbetreiber haften jetzt nur noch mit höchstens 17,5 Millionen Euro Eigenanteil

Die ersten fünf neuen Paragraphen ersetzen die bisher in § 17 Abs. 2a enthaltene Regelung zum Netzanschluß von Offshore-Windkraftanlagen. Mit § 17a wird der vom Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie zu erstellende "Bundesfachplan Offshore" neu in das Gesetz eingeführt. Er bildet die Vorgabe für den "Offshore-Netzentwicklungsplan", den die Übertragungsnetzbetreiber erstellen und umsetzen müssen (§ 17b, § 17d). Der Anspruch auf Entschädigung bei Störungen oder Verzögerung der Anbindung von Offshore-Anlagen ist in § 17e festgelegt. Der folgende § 17f zum "Belastungsausgleich" sorgt dann dafür, daß die Kosten größtenteils von den Stromverbrauchern zu tragen sind.

Wenn die Übertragungsnetzbetreiber die Verzögerungen bei der Netzanbindung nicht vorsätzlich, sondern nur "fahrlässig" herbeigeführt haben, dürfen sie die Summen größtenteils auf die Netzentgelte und damit auf die Strompreise abwälzen: Bei Schäden bis 200 Millionen Euro im Kalenderjahr müssen sie nur 20 Prozent selber bezahlen. Für darüber hinausgehende Schäden sinkt der Selbstbehalt bis 400 Millionen auf 15 Prozent, von 400 bis 600 Millionen auf 10 Prozent und von 600 bis 1000 Millionen auf 5 Prozent. Im Unterschied zur ursprünglich vorgesehenen Regelung wird aber der Eigenanteil des Übertragungsnetzbetreibers in allen Fällen, in denen keine "grobe Fahrlässigkeit" vorliegt, auf 17,5 Millionen Euro je Schadensereignis begrenzt. In der Praxis wird die abgestufte Regelung also größtenteils gar nicht greifen. Diese weitere Reduzierung des Risikos für die Übertragungsnetzbetreiber wurde von den Koalitionsparteien damit begründet, daß sonst kein Versicherer bereit wäre, den Netzbetreibern den in § 17h verlangten Abschluß von Versicherungen zu ermöglichen.

Wie schon im Regierungsentwurf vorgesehen, wird die auf die Stromverbraucher entfallende Belastung auf einen Anstieg des Netzentgelt-Anteils der Stromrechnung um 0,25 Cent pro Kilowattstunde jährlich begrenzt. Wenn der Letztverbrauch mehr als eine Gigawattstunde beträgt, dürfen es höchstens 0,05 Cent pro Kilowattstunde sein. Für Industrieunternehmen reduziert sich dieser Satz nochmals um die Hälfte, sofern ihre Stromkosten im vorangegangenen Kalenderjahr vier Prozent des Umsatzes überstiegen.

Stillegung von Kraftwerken kann untersagt werden

Der neue § 13a soll verhindern, daß Kraftwerksbetreiber eine Anlage wegen mangelnder Rentabilität oder aus anderen Gründen stillegen, obwohl sie zur Aufrechterhaltung eines sicheren Netzbetriebs benötigt wird. Nun gilt für alle Anlagen ab 10 MW eine Anzeigepflicht. Bei Anlagen ab 50 MW kann die Bundesnetzagentur die Stillegung untersagen, wenn das Kraftwerk von ihr bzw. vom zuständigen Übertragungsnetzbetreiber als "systemrelevant" eingestuft wird. § 13b gibt der Bundesregierung freie Hand zum Erlaß entsprechender Verordnungen. § 13c enthält außerdem eine spezielle Regelung für "systemrelevante" Gaskraftwerke und deren Brennstoffversorgung.

Internetplattform soll Spielraum für Regelenergie erhöhen

Mit dem neuen § 13 Abs. 4a werden die Übertragungsnetzbetreiber verpflichtet, ihren Aufwand an Regelenergie gemeinsam zu optimieren. Um den Spielraum für negative und positive Regelenergie zu erhöhen, müssen sie eine Internetplattform einrichten, auf der Großverbraucher ihrer Angebote über Ab- oder Zuschaltleistung abgeben können. Denkbare Anbieter wären etwa die Betreiber großer Heizungs- oder Kühlsysteme, die kurzfristig ganz oder teilweise auf den normalen Strombezug verzichten können.

Mit dem anschließenden § 13 Abs. 4b läßt sich die Bundesregierung zum Erlaß einer Rechtsverordnung ermächtigen, die solche Ausschreibungen speziell mit Blick auf "wirtschaftlich und technisch sinnvolle Angebote" vorschreibt. Als wirtschaftlich sinnvoll gelten Angebote bis zur Dauer von einem Jahr, deren Vergütung "die Kosten für die Versorgungsunterbrechungen nicht übersteigt, zu denen es ohne die Nutzung der zu- oder abschaltbaren Lasten kommen könnte". Als technisch sinnvoll gelten Angebote, durch die "Ab- und Zuschaltungen für eine Mindestleistung von 50 Megawatt innerhalb von 15 Minuten herbeigeführt werden können".

Abschaltverordnung soll jeweils 1500 MW Sekunden- und Minutenreserve sichern

Eine entsprechende Verordnung zu abschaltbaren Lasten hat die Bundesregierung bereits am 28. November verabschiedet. Demnach müssen die Übertragungsnetzbetreiber monatlich 3.000 Megawatt "Abschaltleistung" auf einer Internetplattform ausschreiben. Davon müssen 1.500 Megawatt sofort abschaltbar sein bzw. innerhalb von Sekunden vom Netz gehen können. Die anderen 1.500 Megawatt müssen innerhalb von 15 Minuten vom Netz genommen werden können. Die teilnehmenden Betriebe erhalten für das bloße Bereithalten der Abschaltbarkeit monatlich 1.667 Euro pro Megawatt (= 20.000 Euro/MWh jährlich). Zusätzlich bekommen sie für tatsächliche Abschaltungen eine Vergütung von 100 bis 500 Euro pro Megawattstunde. Die Verordnung ist zunächst auf drei Jahre befristet.

Gesetzentwurf wurde Abgeordneten erst kurz vor der Abstimmung vorgelegt

Das offensichtlich mit heißer Nadel gestrickte Gesetz soll verhindern, daß es zu größeren Störungen der Stromversorgung kommt, bevor die geplanten Maßnahmen zum Netzausbau (121106) wirksam werden. Vor allem geht es der Regierungskoalition darum, flächendeckende Stromausfälle vor den bevorstehenden Bundestagswahlen zu verhindern. Sogar die FDP hat deshalb einer quasi planwirtschaftlichen Beaufsichtigung der Kraftwerksbetreiber zugestimmt. Generell wird der immense regulatorische Aufwand, der schon bisher infolge der "Liberalisierung" des Strommarktes und deren Kollision mit der "Energiewende" erforderlich wurde, durch die jetzt beschlossenen Erweiterungen des Energiewirtschaftsgesetzes noch um einiges vermehrt (siehe Grafik).

Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung sah nur vor, die Stromverbraucher mit den Kosten zu belasten, die sich aus der Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit des Netzbetreibers TenneT zum Anschluß von von Offshore-Windkraftanlagen ergeben (121105). Bei der Beratung im Wirtschaftsausschuß erweiterten die Koalitionsparteien das Gesetzespaket um die Sicherung von Reserve-Kraftwerkskapazitäten und abschaltbaren Lasten. Die entsprechende Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses ging den Abgeordneten aber erst kurz vor der Abstimmung im Bundestag zu.

"Letztendlich sind Sie erst gestern Morgen mit dem Gesetzentwurf fertig geworden", warf deshalb Oliver Krischer (Grüne) den Koalitionsparteien vor. "Das zeigt, welche Qualität er hat." Wie Barbara Höll (Linke) feststellte, bekamen selbst die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses die endgültige Beschlußempfehlung erst am Abend des 27. November zu Gesicht. Ironisch fügte sie hinzu: "Erzählen Sie mir nicht, daß Sie sich alle intensiv damit auseinandersetzen konnten."

Gründung einer deutschen Netzgesellschaft ist für die Koalition kein Thema mehr

Für die SPD schlug Hubertus Heil vor, "das Problem der Offshore-Anbindung zu nutzen, um den Nukleus einer deutschen Netz AG zu schaffen". Anstatt die Haftung auf die Verbraucher abzuwälzen, könne dann der Bund über die Kreditanstalt für Wiederaufbau einsteigen, um die Risiken abzusichern. Oliver Krischer von den Grünen hielt den Regierungsparteien vor, daß sie 2009 in ihrem Koalitionsvertrag selber die Gründung einer deutschen Netzgesellschaft angekündigt hatten (091001). Der Unionsabgeordnete Thomas Bareiß erklärte das Nichtzustandekommen dieses Vorhabens damit, daß man es geprüft habe, aber "nicht in Eigentumsrechte eingreifen" könne und wolle. Er bestärkte damit Johanna Voß (Linke) in dem Verdacht, daß es der Koalition nur darum gehe, "irgendwelchen Investoren bzw. der Allianz den Einstieg in renditesichere Stromnetze so angenehm wie möglich zu machen".

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