September 2012

120905

ENERGIE-CHRONIK


Brüssel leitet Kartellverfahren gegen Gazprom ein

Die Europäische Kommission hat ein förmliches Kartellverfahren gegen Gazprom eingeleitet. Wie sie am 4. September mitteilte, hegt sie den Verdacht, daß der russische Erdgaslieferant den Wettbewerb auf den mittel- und osteuropäischen Gasmärkten behindert und damit gegen die EU-Kartellvorschriften verstößt: Sie werde deshalb nun prüfen, ob Gazprom den freien Fluß von Gas zwischen einzelnen Mitgliedstaaten behindert und dadurch die Gasmärkte abgeschottet hat. Zweitens werde untersucht, ob Gazprom die Diversifizierung der Versorgung mit Gas verhindert habe. Drittens werde die Frage zu klären sein, ob der russische Staatskonzern gegenüber seinen Kunden eine unlautere Preispolitik betrieb, indem er die Gaspreise an die Ölpreise gebunden hat.

Schon vor einem Jahr veranstaltete die Kommission eine Razzia bei den europäischen Gazprom-Töchtern und deren Vertragspartnern (110902). Das jetzt eröffnete Kartellverfahren läßt vermuten, daß sie dabei Belege für wettbewerbswidriges Verhalten gefunden hat. Bei ihrem Vorgehen stützt sie sich auf Artikel 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der folgendermaßen lautet:

Mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten ist die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.

Dieser Missbrauch kann insbesondere in Folgendem bestehen:

a) der unmittelbaren oder mittelbaren Erzwingung von unangemessenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen;

b) der Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher;

c) der Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden;

d) der an den Abschluss von Verträgen geknüpften Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen.

Wie diese Bestimmung umzusetzen ist, regelt die Kartellverordnung (Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates), die sowohl von der Kommission als auch von den Wettbewerbsbehörden der EU-Mitgliedstaaten angewendet werden kann. Nach Artikel 11 Absatz 6 dieser Verordnung entfällt mit der Verfahrenseinleitung die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts auf die betreffende Sache. In Artikel 16 Absatz 1 der Verordnung ist festgelegt, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten keine Beschlüsse erlassen dürfen, die einem Beschluss zuwiderlaufen, den die Kommission in einem von ihr eingeleiteten Verfahren zu erlassen beabsichtigt.

Die Gazprom pocht auf ihre enge Verbindung mit dem russischen Staat und droht mit Verlagerung in die Schweiz

In einer Stellungnahme vom 5. September beteuerte der russische Staatskonzern zunächst, daß er sich in allen Ländern, in denen er geschäftlich tätig sei, strikt an internationales Recht und nationale Gesetzgebung halte. Dies schließe die Mechanismen der Preisbildung mit ein. Ähnlich wie schon in der Stellungnahme zu der Razzia äußerte er dann die Erwartung, daß die Kommission seine "Rechte und legitimen Interessen" respektieren und seine enge Verbindung mit dem russischen Staat berücksichtigen werde: Gazprom sei ein außerhalb der rechtlichen Zuständigkeit der EU angesiedeltes Unternehmen, das nach den Gesetzen der Russischen Föderation besondere gesellschaftliche Aufgaben erfülle, den Status einer strategischen Organisation besitze und von der Regierung beaufsichtigt werde.

Inoffiziell drohte die Gazprom außerdem damit, ihre westeuropäischen Filialen von Berlin und London in die Schweiz zu verlagern, die nicht der EU angehört, praktisch aber in sie integriert ist. In der Schweiz hat Gazprom bereits die Nord Stream AG angesiedelt, der die neue Ostsee-Pipeline gehört (111101). Zwielichtige Geschäftemacher wie der russische EnBW-Lobbyist Andrej Bykov wissen den Alpenstaat ebenfalls zu schätzen (120908). Die Schweiz steht aber neuerdings unter starkem Druck der EU-Nachbarn und der USA, ihre politische Sonderposition nicht weiterhin für die Ermöglichung von Steuerhinterziehung und dubiosen Geschäftspraktiken zu mißbrauchen.

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