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Beim Wechsel zum ersten Jahrtausend glaubten viele Christen aus der Bibel herauslesen zu können, daß mit dem tausendsten Jahr nach der Geburt des Erlösers die Welt untergehen werde. Den modernen Menschen peinigte vor kurzem eine ähnliche Vision, die als Jahr-2000-Problem bekannt wurde. Die befürchteten Auswirkungen waren nicht ganz so apokalyptisch wie die Erwartung des Weltuntergangs, dafür aber realistischer. Es war nämlich in der Tat zu erwarten, daß viele Computer und Mikroprozessoren den Sprung ins neue Jahrtausend nicht schaffen würden, indem sie anstelle des 1. Januar 2000 den Beginn des Jahres 1900 anzeigen.
In den schlimmsten Szenarien stürzten Flugzeuge ab, blieben Fahrstühle stehen, versagten Telefone, standen Produktionsanlagen still, wurden Daten haufenweise gelöscht, geben Raketenabwehrsysteme falschen Alarm oder werden Krankenhäuser lahmgelegt. Einige Schwarzseher prophezeiten gar den Zusammenbruch der ganzen Zivilisation. Vor allem in den USA nahmen die Ängste vor dem "Doomsday 2000" teilweise hysterische Züge an (wie z.B. das Buch Der große Crash 2000 bezeugt).
In der internationalen Diskussion sprach man auf gut angelsächsisch vom y2k-Problem, wobei y für year und k für tausend (kilo) stand. Weit verbreitet war auch der saloppe Ausdruck Millennium Bug. - Ein Bug ist im Englischen so etwas wie ein Käfer, eine Wanze, ein Insekt oder ein Virus. Das Wort hat aber noch etliche andere Bedeutungen. Techniker bezeichnen damit einen Fehler in einer Maschine oder in einem Computerprogramm.
Der Grund für die befürchtete Fehlfunktion war höchst banal und zeugte von einer erstaunlichen Kurzsichtigkeit der Programmierer: Um ein bißchen Speicherplatz zu sparen, hatten sie bis kurz vor der Jahrtausendwende die Jahreszahl im aktuellen Datum nur mit den beiden letzten Stellen angegeben, so daß der Computer für das laufende Jahrhundert immer eine "19" voraussetzte. Zusätzlich wurde oft vergessen, für den Beginn des neuen Jahrtausends das fällige Schaltjahr einzuplanen.
Zur Entschuldigung der Programmierer muß allerdings gesagt werden, daß sie die stürmische Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) nicht voraussehen konnten, als in den sechziger Jahren die ersten Rechner ihren Einzug in Wirtschaft und Verwaltung hielten. Auf den Lochkarten, die anfangs noch vielfach zur Erfassung und Eingabe verwendet wurden, war sowieso kaum Platz für Daten. Vor allem aber waren die Arbeitsspeicher der Computer noch sehr klein. Ein damaliger Großrechner ("mainframe") hatte vor allem großen Raumbedarf. Hinsichtlich der Leistungsfähigkeit war er eher ein Zwerg, wenn man ihn mit heutigen Anlagen vergleicht. Die Programmierer geizten deshalb mit Bits und Bytes, wo es nur ging. Es mußte ihnen als pure Vergeudung erscheinen, der Jahreszahl im Datum vier Stellen zu spendieren, denn wenn sie die Jahreszahl auf zwei Stellen kürzten, konnten sie in der binären Zahlenwelt des Computers ein ganzes Byte aus acht Bits einsparen.
Da die Computertechnik mit Riesenschritten voraneilte, gab es bald keinen Grund mehr, am Datum zu sparen. Stattdessen gab es nun aber die Macht der Gewohnheit und den neuen Zwang, einen einmal geschaffenen Standard nicht so leicht ändern zu können. Denn es hätte nicht ausgereicht, Computer und Programme einfach auf vierstellige Jahreszahlen umzustellen. Zugleich hätte man dafür sorgen müssen, daß der bereits vorhandene Datenbestand sich mit der neuen Hardware und Software verarbeiten läßt. Das wäre zwar durchaus lösbar gewesen, hätte aber doch Mehrkosten bedeutet. Selbst als der ISO Standard 8601 gegen Ende der achtziger Jahre das Datumsformat mit "tt.mm.jjjj" festlegte, hielt sich kaum einer an diese Vorgabe. Man hatte ja noch soviel Zeit...
In der Tat wäre es weder schwierig noch teuer gewesen, einem Computer beizubringen, die Jahreszahl mit vier statt zwei Dezimalzahlen darzustellen. Auch die Umstellung eines Programms an sich wäre keine große Affäre gewesen. Das eigentliche Problem war die Vielzahl der Programme, ihre wechselseitige Abhängigkeit und die oft unzureichende bis gänzlich fehlende Dokumentation der alten Software. Bei manchem System gab es niemanden mehr, der es vollständig verstehen konnte. Die anfangs verwendeten Assembler-Sprachen kannte inzwischen - ähnlich wie bei Latein oder Altgriechisch - nur noch eine historisch interessierte Minderheit von Programmierern. Auch die herstellerspezifischen Varianten von Programmiersprachen - quasi Dialekte - waren vielfach unverständlich geworden.
Nachdem lange genug die Augen vor dem Problem verschlossen
worden waren, folgte ab etwa 1995 das Erwachen. Viele ergriff sogar Panik.
Und Panik ist ansteckend: Auch wenn voraussichtlich gar nichts passiert,
nützt das einem Unternehmen wenig, wenn seine Geschäftspartner,
Banken, Versicherungen oder Aktionäre anderer Meinung sind. Vor allem
die Software-Branche, die dieses Problem verschlafen hatte, konnte nun
in Windeseile absahnen. Die Kosten für das Aufspüren und Unschädlichmachen
des Millenium Bug wurden auf weltweit viele Milliarden Mark geschätzt.
Einige Schätzungen sprachen sogar von Billionen Mark. Das Jahr-2000-Problem
war deshalb keineswegs nur ein reales technisches Problem. Es hatte mindestens
ebenso viel mit Massenhysterie und geschäftstüchtiger Ausbeutung
übertriebener Ängste zu tun.
Eine der Wurzeln des Jahr-2000-Problems
Auf den Lochkarten hätte die vollständige Jahreszahl vier von 80 Spalten beanspruchtDie Lochkarten, die anfangs
noch als Datenträger dienten, hatten 80 Spalten und 12 Zeilen. Das
reichte gerade, um beispielsweise einen Namen mit Wohnort, Geburtsdatum
und Versicherungsnummer abzuspeichern. Durch Verkürzung der Jahreszahl
beim Datum konnte man zwei der wertvollen Spalten einsparen. Die hier abgebildete
Lochkarte veranschaulicht, wie wenig Informationen auf eine solche Karte
paßten: Sie enthält die Zahlen von 0 bis 9, das Alphabet von
A bis Z und ein paar Sonderzeichen. Jeder Lochung in den senkrecht verlaufenden
Zahlenreihen entspricht das Zeichen, das am oberen Rand der Karte in Klarschrift
zu lesen ist. |
An der Aufregung um das angebliche Jahr-2000-Problem verdienten nicht nur Software-Spezialisten eine Menge Geld. Auch allerlei Spezialisten für "Krisenkommunikation" waren mit Flip-Charts und Powerpoint-Vorträgen zur Stelle, damit in der Stunde des befürchteten Zusammenbruchs der Stromversorgung wenigstens die Öffentlichkeitsarbeit der Unternehmen funktioniere. Bei dem ganzen absurden Theater fragte am Ende niemand mehr danach, wie begründet die Ängste tatsächlich waren. Wieso auch? - Die Großmeister der "Krisenkommunikation" verstanden von den technischen Zusammenhängen sowenig wie die meisten ihrer Zuhörer. Die apokalyptischen Szenarien, die damals in der Stromwirtschaft wie in anderen Wirtschaftsbereichen gediehen, gäben den Stoff für eine herrliche Komödie über die Ignoranz von Managern und PR-Verantwortlichen.
Zu den Panikmachern gehörte der Hamburger Informatik-Professor Klaus Brunnstein, der sich als Kassandra der Stromwirtschaft gebärdete und sogar die Abschaltung von Kernkraftwerken zum Jahreswechsel forderte. Er war vom Verband der Elektrizitätswirtschaft (VDEW) als Berater angeheuert worden und scheint sich über mein STROMTHEMEN-EXTRA mächtig geärgert zu haben: Jedenfalls veröffentlichte er auf seiner Internet-Seite damals einen Jahr-2000-Witz, der nach Art eines Blondinen-Witzes verfaßt war und einem gewissen "Leuschi" den folgenden dümmlichen Spruch in den Mund legte: "Hey Ihr, mir scheint dieses ganze Theater um das Jahr-2000-Problem doch etwas übertrieben, schließlich ist ja am 1.1.1900 auch kein einziger Computer abgestürzt!"
Den düsteren Warnungen des Prof. Brunnstein war es auch zuzuschreiben, daß der VDEW die Auslieferung des fertig gedruckten STROMTHEMEN EXTRA an die Mitgliedsfirmen und damit die Verteilung an das Publikum verhinderte, bis der "Doomsday 2000" fast vorbei war. Man hielt die von mir verfaßte Entwarnung für zu optimistisch und befürchtete entsprechende Vorwürfe, falls die Stromversorgung tatsächlich zusammenbrechen würde. Oder anders gesagt: Es fehlte den Verbands-Oberen an hinreichendem Sachverstand, um das reale Risiko richtig einzuschätzen. Die wichtigsten Entscheidungsträger waren ohnehin Juristen, Betriebswirte oder Öffentlichkeitsarbeiter, die über relativ wenig Verständnis für die technischen Grundlagen der Branche verfügten. Da wollten sie lieber auf Nummer sicher gehen, indem sie dem vermeintlichen Sachverstand externer Berater folgten – und trafen genau die falsche Entscheidung.
Am Neujahrstag 2000 zeigte sich dann, daß "Leuschi" doch näher an der Realität war: Sämtliche Ängste lösten sich in Luft auf, weil es in keinem Bereich der Stromversorgung zu erwähnenswerten Computer-Pannen gekommen war (991221). Anstelle der Kraftwerke stürzte Prof. Brunnstein mit seinen düsteren Prognosen ab.