Menetekel USA


Das Haus der Mrs. Winchester vor dem Erdbeben, das 1906 San Francisco zerstörte und auch im benachbarten San Jose große Schäden anrichtete.

Perfekte Geister-Abwehr

Das "Winchester Mystery House" kündet von der Urangst der Amerikaner, daß "home sweet home" sich als Gruselkabinett entpuppen könnte

Der "electric tower" in San Jose stand bereits drei Jahre, als 1884 eine reiche Dame von der Ostküste eintraf und der Stadt zu einer weiteren Sehenswürdigkeit verhalf. Es handelt sich um das sogenannte "Winchester Mystery House". Der Irrationalismus, der sich im "electric tower" noch eher verhalten und als Fortschrittsoptimismus manifestierte, geriet hier zum Okkultismus.

Das "Winchester Mystery House" ist ein Haus im viktorianischen Stil der Jahrhundertwende. Es sieht jedoch aus, als sei es krebsartig gewuchert - zu einem Labyrinth von 2 500 Quadratmeter Fläche, mit 10000 Fenstern, 2000 Türen, 52 Oberlichtern, 47 Kaminen, 40 Treppen, 40 Schlafzimmern, 13 Badezimmern, 6 Küchen und 3 Fahrstühlen.

Insgesamt 38 Jahre lang, von 1884 bis 1922, baute Sarah Pardee Winchester an ihrem Domizil im kalifornischen San Jose. Pausenlos sägten und hämmerten die Handwerker, um ein einfaches Farmerhaus mit Scheune in einen architektonischen Lindwurm zu verwandeln. Auch nachts und an Feiertagen. Frau Winchester glaubte nämlich an Geister. Und diese Geister wollte sie durch den unablässigen Ausbau ihres Hauses sowie allerlei magische Vorkehrungen bannen.

An Geld mangelte es der Dame nicht. Als Witwe des Gewehrfabrikanten William Wirt Winchester verfügte sie über eines der größten Vermögen der USA. Angeblich hat sie 5,5 Millionen Dollar in das Gebäude investiert, was seinerzeit eine noch erheblich größere Summe war als heute.

Immer wieder taucht die Zahl 13 auf: Schon die Kutscheneinfahrt wird von 13 Betonblöcken gesäumt. An einem Zimmer mit 13 Täfelungen vorbei führt der Weg 13 Treppenstufen hinunter in das 13. Badezimmer, das 13 Fenster hat. Man sieht 13 Kleiderhaken an der Wand, ein Tiffany-Fenster mit 13 Juwelen oder einen Ausguß mit 13 Abflußlöchern. Dem Kronleuchter im großen Ballsaal, der ursprünglich 12 Gasflammen hatte, ist eine 13. hinzugefügt worden. Da war es wohl auch kein Zufall, daß Mrs. Winchester ständig 13 Zimmerleute beschäftigte und ihr Testament in 13 Teile gliederte.

Auf hartnäckige Geister warten noch andere magische Fallstricke: Fenster, hinter denen nichts als die Wand ist; eine kunstvolle Treppe, die an der Decke endet; verkehrt montierte Pfosten an den Möbeln, Spinnennetz-Muster, Geheimtüren oder eine Treppe, die ganze 90 Zentimeter Höhenunterschied durch 18 Stufen bewältigt, indem sie erst 7 Stufen hinab und dann wieder 11 Stufen hinauf führt.

Das große Erdbeben des Jahres 1906, das San Francisco zerstörte, hat auch das Winchester-Haus in Mitleidenschaft gezogen. Ein Aussichtsturm, der das viergeschossige Ensemble noch um drei Geschosse überragte, stürzte damals ein und hätte die Besitzerin fast in ihrem Schlafzimmer erschlagen. Mrs. Winchester erkannte darin ein warnendes Zeichen, daß die Geister mit dem Bau des Hauses unzufrieden waren. Sie beschränkte sich fortan auf vier Geschosse. Außerdem ließ sie die vorderen 30 Räume des Hauses für immer schließen, um sich dem Ausbau des hinteren Teils zu widmen. Das Hämmern und Sägen der Handwerker verstummte erst, als sie am 22. September 1922 mit 82 Jahren einer Herzattacke erlag.

Mrs. Winchester in ihrer Kutsche, mit der sie direkt ins Haus fahren konnte. Das Foto wurde heimlich aufgenommen. Die Millionärs-Witwe scheute die Öffentlichkeit.

Das "Winchester Mystery House" gehört heute zu den "historischen Wahrzeichen" Kaliforniens. Nach erfolgter Renovierung ist es ein gut gemanagtes Sightseeing-Unternehmen. Als erstes werden die Besucher durch "Sarah's Gift Shop" geschleust, neben dem sich "Sarah's Cafe" befindet. Im Anschluß an die Führung können der Garten und etliche Nebengebäude besichtigt werden, in denen sich ein "Feuerwaffen-Museum" und ein "Winchester-Museum" befinden. An jedem Freitag, der ein 13. ist, finden abendliche Führungen beim Schein von Taschenlampen statt. Außerdem läuten dann um 13 Uhr die Glocken des Glockenturms genau 13 mal. Besondere Führungen gibt es zu "Halloween", dem traditionellen Mummenschanz vor Allerheiligen. Zu Weihnachten wird das Gebäude dekoriert. Wer Lust hat, kann hierher auch Geschäftsfreunde einladen, Seminare durchführen oder seine Geburtstagsparty feiern. Die Marketing-Abteilung macht sich erbötig, Gruppen zwischen 30 und 1 500 Personen zu bewirten.

Die Erwartungen des Publikums und die Versprechungen des Managements verdeutlicht plakativ der Totenkopf im Werbe-Emblem. Er verspricht gelinden Nervenkitzel, als sei das viktorianische Haus aus Hitchcocks "Psycho" zur Besichtigung freigegeben worden. So ein "Mystery House" rührt an Urängste des Amerikaners - nämlich an die Angst, daß sich "home, sweet home", sein häusliches Paradies, plötzlich als Gruselkabinett entpuppen könnte.

Von dieser Angst scheint auch Mrs. Winchester gepeinigt worden zu sein, als sie ihr Heim wie eine Besessene ständig umbauen und erweitern ließ, um den bösen Geistern zu wahren. Niemand vermag genau zu sagen, was sie sich dabei gedacht oder eingebildet hat. Es heißt, daß sie durch den frühen Tod ihres einzigen Kindes und späteren Verlust ihres Gatten so schrullig geworden sei. Eine andere These lautet, daß sie sich von den Seelen der unzähligen Menschen verfolgt gefühlt habe, die durch Winchester-Gewehre getötet worden seien. Es werden ihr auch Kontakte zur "Theosophie" oder zu Mary Baker-Eddys "Christian Science" nachgesagt. Am ehesten überzeugt aber noch die Vermutung, daß sie zu den zahllosen Anhängern des Spiritismus gehörte.

Die für den Spiritismus bezeichnende Mixtur aus Moderne und Mittelalter, aus radikaler Empirie und haltlosem Mystizismus, offenbart auch das "Winchester Mystery House": Es enthält keineswegs nur magische Zahlen, Spinnennetzmuster und Verwirrtreppen, sondern zugleich eine für damalige Verhältnisse äußerst moderne und praktische Ausstattung. Dies fängt schon in der Eingangshalle an, die Sarah Winchester so anlegen ließ, daß sie mit der Kutsche - später mit dem Automobil - direkt ins Haus fahren konnte. Ihre Kutscheneinfahrt antizipiert das Grundmuster heutiger amerikanischer Häuser, die in der Regel durch die Garage betreten und verlassen werden, während der offizielle Eingang kaum benutzt wird. Für ihr Gewächshaus erfand Mrs. Winchester einen Fußboden, der während der Bewässerung einfach hochgeklappt wurde, so daß der Boden immer trocken blieb. Über ein damals hochmodernes elektrisches Signalsystem ließ sie die Diener herbeirufen und zugleich wissen, in welchem Zimmer sie sich gerade befand. Die Garage, in der sie ihren "Pierce-Arrow" von 1917 parkte, verfügte bereits über eine Autowaschanlage. Auf die eingebauten Waschbretter in der Küche soll sie sogar ein Patent bekommen haben.

Eine ähnlich bizarre Mischung aus "Aufklärung" und Köhlerglauben bietet die angeblich authentische Geschichte von Mrs. Winchester ("A Driven Woman"), die heute dem Besucher des "Winchester Mystery House" feilgeboten wird. Als Verfasserin zeichnet eine "Parapsychologin" und "ordinierte Geistliche der spiritistischen Religion". Das bunte Titelblatt zeigt Mrs. Winchester, wie sie von drei langmähnigen Geistern in wallenden Gewändern umschwebt wird.

Dem malerischen Duktus nach sind es dieselben Geister, die üblicherweise auf den Covers der "esoteric"- und "new age"-Literatur ihren Dienst versehen. Dahinter beginnt dann ein sachlich-nüchtern gehaltener Report über die angebliche Lebensgeschichte der Mrs. Winchester. Zum Beispiel berichtet die Autorin haarklein, sogar mit ausführlichen wörtlichen Zitaten, wie Mrs. Winchester im Jahre 1883 eine Wahrsagerin in Boston konsultiert und von dieser den Rat empfangen habe, an die Ostküste zu fahren und dort ein Haus zu bauen, das nicht vollendet werden dürfe, solange sie am Leben bleiben wolle. Fachmännisch moniert die Autorin, daß Mrs. Winchester wohl an kein echtes spiritistisches Medium geraten sei: "Es hätte alles ganz anders kommen können, wenn Sarah zu Verifizierungszwecken ein zweites Medium konsultiert hätte."

Geisterglauben, so der Eindruck, verträgt sich in den USA heute wie damals bestens mit "modernem" Denken. Ja es scheint, als sei er eine Reaktion auf Defizite des vorherrschenden Bewußtseinszustandes.
 


Das "Winchester Mystery House" ist heute ein gut gemanagtes Sightseeing-Unternehmen