Psychologie

Das Leib-Seele-Problem

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"Ignoramus et ignorabimus"

Die Trennung von Philosophie und Psychologie

Die Schriften Fechners haben einen erheblichen Einfluß auf Wilhelm Wundt ausgeübt, der in Deutschland endgültig die Trennung von Philosophie und Psychologie herbeiführte. Zum Beispiel teilte Wundt mit Fechner dessen Konzept eines "psycho-physischen Parallelismus", wonach Psychisches und Materielles "parallel" nebeneinander existieren und sich wechselseitig entsprechen, ohne daß deshalb eine kausale Beziehung zwischen beiden Sphären besteht. Der auf dieser Grundlage erfolgende Versuch Fechners, eine irrationale Weltanschauung mit rationaler wissenschaftlicher Methodik zu verbinden, dürfte Wundt nachhaltig beeindruckt haben. Allerdings vermied Wundt die offenkundigen Schwächen und Naivitäten in Fechners Philosophie, deren Ziel er darin erkannte, "daß sich Glaube und Wissen zu einer einzigen, in sich harmonischen, den Wissenstrieb wie das Glücksbedürfnis des Menschen befriedigenden Weltanschauung vereinigen".

Wundt wußte oder ahnte, daß ein derartiger Versuch, Philosophie und Wissenschaft zu einer harmonischen Weltanschauung zu vereinigen, unter den Bedingungen seiner Zeit und Gesellschaft scheitern mußte. Deshalb wies er der Philosophie eine neue ideologische Aufgabe zu: "Die Philosophie steht aber zugleich in der Mitte zwischen Religion und Wissenschaft. Sie hat beide zu versöhnen, indem sie eine Weltanschauung entwickelt, die mit den Ergebnissen der Wissenschaft im Einklang bleibt, während sie den religiösen Gemütsbedürfnissen Befriedigung schafft." (1) Damit war die Philosophie erklärtermaßen ihrer Erkenntnisaufgabe beraubt. Sie diente fortan in erster Linie einem quasi-therapeutischen Zweck, indem sie den Bereich der Naturwissenschaften über die Geisteswissenschaften mit den "religiösen Gemütsbedürfnissen" versöhnte. Die Philosophie wurde zur "Lebensphilosophie".

Die Borniertheit des Vulgärmaterialismus zeigte sich besonders auf dem Gebiet der Psychologie

Die vorherrschende Weltanschauung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war zunächst allerdings noch der Vulgärmaterialismus, der an die fortschreitende Lösung der "Welträtsel" durch wissenschaftliche Detailerkenntnis glaubte. Der Vulgärmaterialismus war antireligiös eingestellt. Er beanspruchte selbst den Charakter einer umfassenden Weltanschauung. Die Wissenschaft war für ihn identisch mit Erkenntnis und die Philosophie im Grunde überflüssig. Eine seiner bekanntesten Vertreter war Ludwig Büchner, der mit "Kraft und Stoff" (1855) sozusagen die Bibel der vulgärmaterialistischen Weltanschauung schrieb.

Die Beschränktheit des Vulgärmaterialismus mußte besonders auf dem Gebiet der Psychologie zutage treten, die er sich, seiner Denkweise gemäß, im Grunde nur als "Psycho-Physiologie" vorstellen konnte. In seiner Bilderstürmerei gegen die Philosophie hatte er zugleich die Kategorien der Seele und des Geistes bzw. des Bewußtseins zerstört. Seinem platten, mechanistischen Verständnis von Mensch und Natur hätte eine sezier-, wäg- und meßbare Seele entsprochen. Da es diese offenbar nicht gab, wurde dem Bewußtsein jegliche Eigenständigkeit abgesprochen. Es galt als quasi zwangsläufiges Produkt von Nervenvorgängen, die im einzelnen noch nicht erforscht waren. So behauptete ein Karl Vogt, "daß die Gedanken in demselben Verhältnis etwa zu dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren". (2) Rudolf Virchow verwies triumphierend darauf, daß er, obwohl er als Anatom schon soundsoviele Körper seziert habe, in keinem einzigen eine Seele habe entdecken können. Auch Ernst Haeckel, dessen "Welträtsel" um die Jahrhundertwende für breite Schichten des Bürgertums und der Arbeiterschaft eine ähnliche Offenbarung bildeten wie Büchners "Kraft und Stoff" in den Jahren davor, konnte sich die Psychologie nur als einen Zweig der Physiologie vorstellen. Existenzberechtigung erhielt die Psyche für ihn erst in der materiellen Form des "Psychoplasmas" bzw. "Neuroplasmas". (3)

Da sich der Vulgärmaterialismus jeder Philosophie verschloß, die über eine Registrierung von Einzelergebnissen der Wissenschaften hinausging, war er ihr bzw. der Ideologie um so hilfloser ausgeliefert. Das zeigte sich besonders in der Theorie des Sozialdarwinismus, die unter anderen von Haeckel propagiert wurde. Der Sozialdarwinismus übertrug das von Darwin entdeckte Gesetz der Entstehung der Arten durch natürliche Auslese auf den Kampf ums Dasein innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Das Elend der Arbeiter und der Reichtum des Besitzbürgertums erschienen somit als naturgegebene Tatsachen bzw. als Ergebnis einer sozialen Auslese. Mit seiner "Anmaßung, die Naturtheorien auf die menschliche Gesellschaft anzuwenden" (Engels) war der Sozialdarwinismus eine pseudo-wissenschaftlich verbrämte Apologie der herrschenden Verhältnisse.

Auch Wundt vertrat anfangs noch vulgärmaterialistische Positionen

Auch Wilhelm Wundt, der 1879 das erste psychologische Laboratorium an der Universität Leipzig gründete, vertrat in seinen 1863 veröffentlichten "Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele" noch vulgärmaterialistische Anschauungen. Erst später war für ihn "die Seelenlehre eine reine Geisteswissenschaft geworden, deren Prinzipien und Objekte von denen der Naturwissenschaft völlig verschieden sind", wie Ernst Haeckel in seinen 1899 veröffentlichten "Welträtseln" mißbilligend feststellte. Den prägnantesten Ausdruck von Wundts "Bekehrung" sah Haeckel im "Prinzip des psychophysischen Parallelismus, wonach zwar einem 'jeden psychischen Geschehen irgendwelche physische Vorgänge entsprechen', beide aber völlig unabhängig voneinander sind und nicht in natürlichem Kausalzusammenhang stehen". Haeckel versäumte nicht den Hinweis, daß Wundt damit "den lebhaften Beifall der herrschenden Schulphilosophie" gefunden habe.

Du Bois-Reymond: "Wir wissen es nicht und wir werden es nie wissen"

1872 bekannte sich der Physiologe Emil Du Bois-Reymond in seiner aufsehenerregenden Rede auf der Naturforscherversammlung in Leipzig zum Prinzip des "ignoramus et ignorabimus" - zur letztendlichen Unerkennbarkeit der Welt. Du Bois-Reymond begründete seinen Standpunktwechsel mit der Unlösbarkeit des "Zusammenhangs von Materie und Kraft" und dem ihm gleichfalls unlösbar erscheinenden Problem, wie sich Geistestätigkeit aus materiellen Bedingungen erklären läßt bzw. wie "Substanz unter bestimmten Bedingungen empfindet, begehrt und denkt". Damit waren für Du Bois-Reymond die "Grenzen des Naturerkennens" erreicht, wie der Titel seines Vortrags lautete. (4)

Haeckel, der unerschütterlich am Vulgärmaterialismus festhielt, hat den Gesinnungswechsel solch namhafter Wissenschaftler wie Wundt, Virchow und Du Bois-Reymond mit "Trübung der Einsicht" aus Altersgründen und mutmaßlichen "Rückbildungen" in deren Gehirntätigkeit zu erklären versucht. (5) Sein offenkundiger Grimm verrät, daß es hier um weit mehr als um einen wissenschaftlichen Meinungsstreit ging.

Das "Ignorabimus" traf den Vulgärmaterialismus an seiner empfindlichsten Stelle, nämlich seinem umfassenden weltanschaulichen Anspruch. Es reduzierte ihn auf ein positivistisches Wissenschaftsverständnis, das sich fortan in empirischer Selbstbescheidung zu üben hatte.

Damit war auch die Voraussetzung für die Anerkennung der Psychologie als eigenständiger Disziplin geschaffen. Für das vulgärmaterialistische Wissenschaftsverständnis war sie nur als Zweig der Physiologie vorstellbar oder blieb am besten dort, wo sie bislang angesiedelt war, nämlich bei der Philosophie. Wundts Konzept des "psychophysischen Parallelismus", das Haeckel so heftig kritisierte, vermied jedoch den entscheidenden Fehler des Vulgärmaterialismus, der in der Verwechslung physiologischer mit psychologischer Problemstellung bestand. Bei aller abstrus anmutenden Gedankenakrobatik glich es einem listig angelegten Vexierbild: Einerseits huldigte es in plakativer Weise dem Dualismus von Materie und Geist; andererseits ließ es sich in seinen praktischen Ergebnissen genauso mit einer materialistischen Psychologie in Übereinstimmung bringen, der "Geist", "Seele" und "Bewußtsein" lediglich als Eigenschaft der hochorganisierten Materie oder als erkenntnistheoretisch notwendige Unterscheidung gelten.