Titel der Schmähschrift gegen den Weinheimer Oberbürgermeister Dr. Haas, der "sich moralisch selbst mordet, mit eigenen Händen an seinem amtlichen Grabe schaufelt und sich selbst unter den Augen jedes gesund fühlenden Weinheimer Bürgers ein immergrünes Schandmal setzt".

Das "Weinheimer Tageblatt"

Wie der Dr. Haas es zum Bürgermeister brachte und seine erste Zeitung gründete

Hermann Julius Haas besuchte zunächst das Gymnasium in Stuttgart und in Heilbronn. Mit achtzehn Jahren machte er das Abitur. Anschließend widmete er sich dem Studium der Jurisprudenz. "Mit dem Schläger in der Hand, das Band auf der Brust und ein fröhliches Lied auf den Lippen, so war er ein treuer Hüter der Farben seiner Burschenschaft Allemannia in Heidelberg und Germania in Erlangen, bei denen er aktiv war", beschreiben ihn die "Burschenschaftlichen Blätter", wie er im vollen Wichs des Paukbodens einherschritt.

Schon 1874, mit 22 Jahren also, promovierte Haas in Leipzig zum Doktor der Rechte. Nach Ablegung des Staatsexamens trat er in den preußischen Staatsdienst ein. Als preußischer Justizassessor war er in Elsaß-Lothringen und dann an der deutschen Botschaft in Tunis (Nordafrika) tätig. Offenbar war eine Beamtenlaufbahn jedoch nicht nach seinem Geschmack. Er schied aus dem Staatsdienst aus und privatisierte eine Zeitlang in Heidelberg. Dank seines reichen Vaters, der inzwischen nach Frankfurt am Main übergesiedelt war, konnte er sich solchen Müßiggang leisten. (6)

Unterdessen hatte der Dr. Haas zum ersten Mal geheiratet. Es scheint, daß auch seine erste Frau Hermanna Helene, geborene Heye, einer reichen Bremer Kaufmannsfamilie entstammte. Haas nutzte seine juristischen Kenntnisse privat, indem er vor Eingehung der Ehe am 13. Oktober 1877 in Bremen einen besonderen Ehevertrag abschloß, der das gemeinsame Vermögen der Ehepartner auf den Zugewinn gemäß dem Badischen Landrecht beschränkte. Vermutlich erfolgte dies schon damals in der Absicht, das persönliche Risiko bei späteren geschäftlichen Abenteuern zu verringern. (7)

Zu jener Zeit, als der Dr. Haas in Heidelberg privatisierte, wurde im benachbarten Städtchen Weinheim an der Bergstraße ein Bürgermeister gesucht. Haas empfahl sich den Weinheimer Honoratioren sowohl durch seine juristischen Kenntnisse als auch durch seine konservative politische Herkunft. Man gründete also ein Wahlkomitee und hob den ehemaligen preußischen Justizassessor als Kandidaten der Weinheimer Bourgeoisie offiziell auf den Schild.

Der Rest war eine Sache des Geldes. Insgesamt soll die Wahl mehr als 8000 Mark gekostet haben, wobei der reichlich fließende Alkohol den größten Batzen ausgemacht haben dürfte. (8) So wurde der Dr. Haas am S. Juli 1881 mit 669 von 881 Stimmen zum Oberbürgermeister der Stadt Weinheim gekürt.

Der "Weinheimer Anzeiger", das Sprachrohr der Konservativen, beglückwünschte sich anschließend dazu, daß "die Wahl einen für den ,gemäßigten Fortschritt' günstigen Verlauf genommen" habe. Offenbar hat es aber schon damals hitzige Auseinandersetzungen um die Person des Dr. Haas gegeben. Der "Weinheimer Anzeiger" wandte sich nachträglich gegen "kleinliche Verdächtigungen" und "Schmähungen" und gab der Erwartung Ausdruck, "daß die Parteileidenschaften bald wieder einer ruhigen, versöhnlicheren Stimmung Platz machen werden."(9)

Das blieb freilich ein Wunsch. Vor lauter Ehrgeiz, den Bürgermeisterposten in Weinheim zum Sprungbrett für eine politisch Karriere zu machen, stieß Haas seine alten Gönner aus der Weinheimer Bourgeoisie vor den Kopf und veranlaßte andere zumindest zu einem bedenklichen Kopfschütteln. Zu denjenigen, die lange über die wirklichen Absichten des Dr. Haas rätselten, gehörte der großherzogliche Landeskommissär Max Föhrenbach. In seinen Memoiren schildert er die damaligen politischen Verhältnisse in Weinheim und die Rolle des Bürgermeisters Dr. Haas wie er sie aus nächster Nähe erlebt hat:

"Als ich mich bei dem Minister Turban zum Dienstantritt in Weinheim meldete, bemerkte derselbe, daß ich an meinem neue Wohnsitze eigenartige politische Verhältnisse kennen lern würde. Ich fand dies in der interessantesten Weise bestätigt. Von den evangelischen Einwohnern waren die Bauern konservativ die Herren teils nationalliberal, teils demokratisch gesinnt, die Arbeiter in der Mehrzahl Sozialdemokraten. Die Katholiken, etwa l/6 der Einwohnerschaft, standen zur Hälfte im ultramontanen Lager, mit dem Rest zumeist auf nationalliberaler Seite. Die kleine jüdische Gemeinde wurden den liberalen bürgerlichen Parteien zugezählt. Konfessionell schieden sich die Protestanten wieder in Orthodoxe und Liberale.

An der Spitze dieser in allen Farben schillernden Bürgerschaft stand der gewesene preußische Gerichtsassessor Dr. H. aus Frankfurt a.M. Derselbe, einer unserer jüdischen Mitchristen, entstammte einer reichen Frankfurter Familie, war ein begabter, rede- und schriftgewandter jüngerer Mann, der mit flotter Erscheinung feinere gesellschaftliche Formen verband und das Amt des ,Oberbürgermeisters', wie er sich nennen ließ, im ganzen geschickt verwaltete. Von Hause konservativ, war es ihm geglückt, in diesem Gefieder auf den Schultern der konservativen Bauern die sella curulis des Weinheimer Rathauses zu besteigen.

Da er bei meinem Dienstantritt sich bereits zum Demokraten gemausert hatte, wollte es mir zweifelhaft erscheinen, ob die von Plutarch dem Cäsar in den Mund gelegte Äußerung, lieber in einem Dorfe der Erste, als in Rom der Zweite sein zu wollen, für seine Einwanderung nach Weinheim bestimmend gewesen sei. Bald hatte ich auch die Überzeugung gewonnen, daß sein Sinn dabei auf Höheres gerichtet war.

Er hoffte offenbar vom Weinheimer Sprungbrett in die Arena des Parlamentarismus zu gelangen und beeilte sich, zu diesem Zwecke die düstere Farbe des Konservativen mit der aussichtsreicheren des rosaroten Demokraten zu vertauschen. Als auch damit nichts zu machen war, verzichtete er auf Amt und Würde, um, wie glaubhaft versichert wurde, es anderwärts im Dunkelrot des Sozialdemokraten zu versuchen." (10)

Seinen ersten Faux pas als Bürgermeister beging Haas, als er den Abbruch des Müllheimer Tores betrieb, eines Torturmes der mittelalterlichen Stadtbefestigung, durch den der Verkehr ins Gorxheimer Tal des Odenwaldes ging. Gegen heftige Proteste verfügte Haas 1882 den Abbruch des Bauwerks. Zuvor hatte er versucht, den Landeskonservator hinters Licht zu führen, der über die Erhaltungswürdigkeit des Bauwerks befinden sollte. Just an dem Tag, an dem der Landeskonservator den Torturm in Augenschein nahm, inszenierte Haas ein Verkehrschaos am Engpaß des Tores. Dabei kam ihm der Lederfabrikant Freudenberg zu Hilfe, indem dieser die Odenwälder Bauern, die ihm die Eichenrinde zum Gerben des Leders lieferten, alle zur selben Stunde mit ihren Fuhrwerken nach Weinheim beorderte. So brach der Verkehr am Müllheimer Tor erwartungsgemäß zusammen. Der Landeskonservator soll allerdings die Absicht bemerkt und spöttisch geäußert haben, daß die Hälfte der Fuhrwerke auch genügt hätte, um zu zeigen, daß man den Turm weghaben wolle ...(11)

Was dem Bürgermeister Dr. Haas politisch das Genick brach, war freilich ein anderer Umstand. Er verprellte nämlich seine Gönner, die ihm den Steigbügel ins Bürgermeisteramt gehalten hatten. Er vertauschte, wie der großherzogliche Landeskommissär beobachtete, "die düstere Farbe des Konservativen mit der aussichtsreicheren des rosaroten Demokraten". Besonders verübelt wurde es dem Dr. Haas, daß er bei den Landtagswahlen 1882 - wenn auch erfolglos - gegen den Kandidaten des konservativ-nationalliberalen Bürgertums antrat.

Zur Unterstützung seines Wahlkampfes im Jahre 1882 gründete Haas sogar eine eigene Zeitung, das "Weinheimer Tageblatt". (8) Für den Inhalt zeichnete formal der Drucker Phillip Beutel verantwortlich, so daß der Bürgermeister nach außen nicht als Redakteur des Blattes in Erscheinung zu treten brauchte. Indessen war es in der Weinheimer Bürgerschaft ein offenes Geheimnis, wer dem Drucker Beutel die Feder führte und daß Haas einen großen Teil seiner Zeit, die eigentlich für Amtsgeschäfte bestimmt war, in der Redaktion des "Weinheimer Tageblatts" verbrachte. Noch am späten Abend, so behauptete einer seiner Gegner, soll er in einem Berg von auswärtigen Zeitungen gewühlt haben, um eine "Blumenlese von Skandal- und Mordgeschichten" zusammenzutragen, "welche einer krankhaften Neigung des Publikums selbstsüchtig und rücksichtslos schmeichelt". (12)

Tatsächlich vertrat das "Weinheimer Tageblatt", so bescheiden es von Umfang und Inhalt her war, einen neuen Typ von Tageszeitung, der sich gleichermaßen vom herkömmlichen Typ der Gesinnungspresse wie dem der trockenen Verkündigungsblätter unterschied. Mit seinem "Weinheimer Tageblatt" appellierte Haas in erster Linie an das Leseinteresse. Es war von locker-geschwätziger Machart und verbarg die geschäftlich-politischen Ziele seines Herausgebers geschickt unter allerlei Artikeln, die weniger unter dem Gesichtspunkt ihres Informations- als ihres Unterhaltungswertes zusammengetragen wurden. Haas scheute sich zum Beispiel nicht, ein Weihnachtsgedicht - vermutlich aus seiner eigenen Feder - ganzseitig auf der Titelseite in Form eines Tannenbaumes abzudrucken. Hätten ihm damals bereits die späteren Techniken der Illustration und des Layouts zur Verfügung gestanden, wäre das "Weinheimer Tageblatt" nichts anderes als eine Boulevardzeitung mit viel Herz, Schmerz und Crime geworden. (13)

Den leichtfertigen Umgang des Dr. Haas mit Druckerschwärze und Papier bezeugt eine Meldung aus der Nummer 14 des "Weinheimer Tageblatts" von 1884. Sie handelt von einem Knaben, der mit seinem Luftgewehr eine Fensterscheibe zerdeppert hatte: "Der fahrlässige Schütze, dessen Kugel in die Küche des Herrn Kupferschmied Schäfer eingedrungen ist, soll bereits in der Person eines auswärtigen Zöglings, der sich hier in Pension befindet, ermittelt sein. Nicht unmöglich, daß derselbe aus dem Lande des Nihilismus so gemeingefährliche Vergnügungen in unsere Stadt zu verpflanzen versucht hat."

Die Bemerkung über das "Land des Nihilismus" (Umschreibung für Rußland) war genauso hergeholt wie diffamierend. Heute würde man sagen, daß der Knabe mit dem Luftgewehr in die Nähe von Terroristen gerückt worden sei. Dabei an Zufall zu glauben, fiele schwer; denn die Mutter des Knaben war Deutsch-Russin, was dem Dr. Haas in seiner doppelten Eigenschaft als Redakteur und Bürgermeister kaum entgangen sein dürfte.

Die Sache zog Kreise: Die Mutter des Knaben war empört. Ein gewisser A. Maurer machte sich zum Anwalt der gekränkten Dame und forderte den Dr. Haas zur unverzüglichen Berichtigung und Entschuldigung auf. Als Haas dem Verlangen nicht in der gewünschten Form nachkam, eskalierte die Auseinandersetzung. Beide Seiten kannten dabei wenig Skrupel. Allerdings blieben die Angriffe des A. Maurer verbaler Natur, während der Dr. Haas durchaus handfeste Maßnahmen ergriff, um seinen Gegner aus der Stadt zu vertreiben. So veranlaßte Haas seine studentischen Verbindungsbrüder von der Burschenschaft Allemannia, nachts vors Fenster des A. Maurer zu ziehen und dort eine sogenannte Katzenmusik zu veranstalten. Sicher war es auch kein Zufall, daß beim darauffolgenden Faschingsumzug der A. Maurer mit Masken verspottet wurde. Schließlich stimulierte der Dr. Haas sogar ganz eindeutig zur öffentlichen Verhöhnung seines Gegners, indem er im "Weinheimer Tageblatt" den Text eines selbstverfaßten Gassenhauers abdruckte:

"Ein Maurer, der viel trank und aß,
Der wollte schießen einen Has.
Er schoß, allein er traf ihn nicht,
Da lacht der Has ihm ins Gesicht.
Das ärgerte den Schützen sehr,
Wollt nochmals laden sein Gewehr,
O weh, das Pulver war verschossen,
Das hat den Maurer sehr verdrossen
Und mit der ungelad'nen Flinte
Saß er gewaltig in der Tinte.
Und knurrend ging er darauf heim
Indem er sprach: ,Das war ein Leim!' I
Ist dann zu Haus gesessen
Und hat sich satt gefr -- gessen."

Der A. Maurer beließ es seinerseits nicht bei biblischen Zornesausbrüchen gegen den Dr. Haas, der "sich moralisch selbst mordet, mit eigenen Händen an seinem amtlichen Grabe schaufelt und sich selbst unter den Augen jedes gesund fühlenden Weinheimer Bürgers ein immergrünes Schandmal setzt." Immer stärker nahm er seine Zuflucht zu antisemitischen Tiraden. "Ihre orientalische Jauche riecht man auf tausend Schritte" schimpfte er zum Beispiel. Am Ende tröstete er sich mit dem Gedanken, daß sein materiell wie geistig überlegener Gegner einem Volksstamme angehöre, "dessen einflußreichster Teil in Gestalt des sogenannten absoluten Börsenkönigthums und Finanzbaronats, mit ihrem zahllosen Trabantenthum und Nachtrabe, die berüchtigte vaterlandslose goldene Internationale bildet,- auch Plutokratie genannt, m.a.W. die unsittlichste, fluchwürdigste, gemeinschädlichste und staatsgefährlichste Organisation der Neuzeit!" (14)

Zuguterletzt tat der A. Maurer noch einen tiefen Griff in seine eigene Geldschatulle und ließ den gesamten Korrespondenzkrieg mit dem Dr. Haas auf eigene Kosten drucken und als Broschüre an die Weinheimer Öffentlichkeit verteilen.

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