Menetekel USA |
Der "neue Despotismus"Die USA aus der Sicht eines französischen Aristokraten vor 170 Jahren |
|
Alexis de
Tocqueville
(1805-1859) |
Dem Befremden des Europäers über die mehr oder weniger bizarren Seiten des american way of life liegt keine solche Grundverschiedenheit der Kulturen zugrunde, wie ein konservativer Anti-Amerikanismus vermuten möchte. Tendenziell dürften sich die USA und Westeuropa in dieselbe Richtung entwickeln. Es ist die allgemeine Richtung der kapitalistischen Gesellschaft. In den USA hat diese Gesellschaft lediglich ihren früheren und reineren Ausdruck gefunden. Sie "sind das einzige Land, wo man die natürliche und ruhige Entfaltung einer Gesellschaft miterleben konnte und wo man den Einfluß zu erfassen vermag, den die Ausgangslage auf die Zukunft der Staaten ausübt" (1),wie Alexis de Tocqueville feststellte.
Tocqueville war ein französischer Aristokrat, der 1831 die USA bereiste, um dort die bürgerliche Gesellschaft, die in Frankreich einem Wechselbad von Revolution und Restauration ausgesetzt war, in ihrer unbeeinträchtigten Entwicklung zu studieren. Sein Werk "Über die Demokratie in Amerika", das 1835 erschien, liest sich zum großen Teil wie ein Loblied auf Institutionen und Sitten der Neuen Welt. Zu einem nicht unerheblichen Teil ist es aber auch eine düstere Prophetie. Für den französischen Aristokraten stand schon damals fest, daß hinter der scheinbar so idealen Verfassung und Lebensweise der Vereinigten Staaten ein neuer Despotismus lauere, der alle bekannten Despotismen übertreffe. Für ihn gab es "kein Land, in dem im allgemeinen weniger geistige Unabhängigkeit und weniger wahre Freiheit herrscht als in Amerika" (2).
Die Fürsten hätten mit unverhüllter Gewalt geherrscht, schreibt Tocqueville. Dagegen würden die demokratischen Republiken der Gegenwart die Gewalt ins Geistige wenden. Sie verzichteten auf die Malträtierung des Körpers, um sich gleich die Psyche gefügig zu machen. In den Augen der Mehrheit würde dadurch der Despotismus seiner widerlichen Erscheinung und seines erniedrigenden Wesens entkleidet. Für eine Minderheit werde die neue Tyrannei, die gleich auf die Psyche losgehe, um so drückender:
Unter der unumschränkten Alleinherrschaft schlug der Despotismus in roher Weise den Körper, um die Seele zu treffen; und die Seele, die diesen Schlägen entwich, schwang sich glorreich über ihn hinaus; in den demokratischen Republiken jedoch geht die Tyrannei nicht so vor; sie übergeht den Körper und zielt gleich auf die Seele. Der Herrscher sagt nicht mehr: entweder du denkst wie ich oder du bist des Todes; er sagt: du bist frei, nicht so zu denken wie ich; du behältst dein Leben, deinen Besitz, alles; aber von dem Tag an bist du unter uns ein Fremdling. Du behältst deine Vorrechte in der bürgerlichen Gesellschaft, aber sie nützen dir nichts mehr; denn bewirbst du dich um die Stimme deiner Mitbürger, so werden sie dir diese nicht geben, und begehrst du bloß ihre Achtung, so werden sie tun, als ob sie dir auch diese verweigerten. Du bleibst unter den Menschen, aber du büßest deine Ansprüche auf Menschlichkeit ein. Näherst du dich deinen Mitmenschen, werden sie dich wie ein unreines Wesen fliehen; und selbst die an deine Unschuld glauben, werden dich verlassen, denn auch sie würden gemieden. Ziehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben, es wird aber für dich schlimmer sein als der Tod. (3)
Tocqueville suchte seinerzeit vergeblich nach einem Ausdruck für den von ihm befürchteten neuen Despotismus. Die Sache sei so neu, daß er versuchen müsse, sie zu umschreiben:
Ich will mir vorstellen, unter welchen neuen Merkmalen der Despotismus in der Welt auftreten könnte: Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber. [...] Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese das Ziel verfolgte, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten; statt dessen aber sucht sie bloß, sie unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten. [. . .] Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens mit jedem Tag wertloser und seltener; sie beschränkt die Betätigung des Willens auf einen kleinen Raum, und schließlich entzieht sie jedem Bürger sogar die Verfügung über sich selbst. Die Gleichheit hat die Menschen auf dies alles vorbereitet: sie macht sie geneigt, es zu ertragen und oft sogar als Wohltat anzusehen. Nachdem der Souverän auf diese Weise den einen nach dem anderen in seine mächtigen Hände genommen und nach seinem Gutdünken zurechtgeknetet hat, breitet er seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes aus; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz verwickelter, äußerst genauer und einheitlicher kleiner Vorschriften, die die ursprünglichsten Geister und kräftigsten Seelen nicht zu durchbrechen vermögen, um sich über die Menge hinauszuschwingen; er bricht ihren Willen nicht, aber er weicht ihn auf und beugt und lenkt ihn; er zwingt selten zu einem Tun, aber er wendet sich fortwährend dagegen, daß man etwas tue; er zerstört nicht, er hindert, daß etwas entstehe; er tyrannisiert nicht, er hemmt, er drückt nieder, er zermürbt, er löscht aus, er stumpft ab . . . (4)
Die Gleichheit, aus der Tocqueville die neue Unfreiheit hervorgehen sah, war schon damals eine Freiheit recht formaler Art. Schon der Reisende des Jahres 1831 sah die Möglichkeit, daß aus dieser formalen Gleichheit eine neue Aristokratie in Gestalt der Unternehmer und neue Heloten in Gestalt der Arbeiter hervorgehen könnten. Mit Folgen für das jeweilige Bewußtsein:
Während der Arbeiter seinen Verstand mehr und mehr auf die Beschäftigung mit einem einzigen Gegenstand beschränkt, läßt der Industrieherr täglich seine Blicke über ein umfassenderes Ganzes schweifen, und sein Geist erweitert sich im selben Verhältnis, wie der des anderen einschrumpft. [. . .] Der eine gleicht immer mehr dem Verwalter eines umfassenden Reiches und der andere einem Vieh. (5)
Dennoch gleiche diese neue Aristokratie keineswegs ihren Vorgängerinnen, fährt Tocqueville fort. Im Ganzen der Gesellschaftsordnung stelle sie "eine Ausnahme, einen Auswuchs" dar. Die neuen Aristokraten des Geldes hätten "weder den Geist noch die Zwecke, weder Überlieferungen noch Hoffnungen" gemeinsam. - Sie seien also keine kulturprägende Klasse im alten aristokratischen Sinn. Trotz ihres sozial bedingten größeren Gesichtskreises unterlägen sie letztlich einer Kultur, die dem Geschmack und der Existenzweise der breiten Massen entspricht.