(Aus: Udo Leuscher, "Entfremdung - Neurose - Ideologie", Bund-Verlag, Köln 1990, S. 373 - 384) |
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Lenins IrrtumWeshalb die "Rationalität" des realsozialistischen Systems der "Rechenhaftigkeit" des kapitalistischen Geistes unterliegen mußte |
Die sozialistische Theorie des 19. Jahrhunderts ging davon aus, daß die Produktivkräfte eines Tages über ihre Organisationsform - den Kapitalismus - genauso hinauswachsen würden wie dies zuvor schon in der Feudal- und Sklavenhaltergesellschaft geschehen war. Diese Annahme ist bis heute nicht widerlegt. Sie wurde durch die seitherige Entwicklung des Kapitalismus eher noch bestätigt. Ein erwiesener Irrtum der sozialistischen Theorie bestand jedoch darin, daß sie das Tempo dieses Prozesses erheblich überschätzte. Sie hielt den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts für den voll entwickelten Kapitalismus, ja für einen überreifen Kapitalismus, der zu einer Fessel für die weitere Entfaltung der Produktivkräfte geworden sei. Sie glaubte, aus dem Zeitalter der Dampfmaschine heraus zum Sozialismus gelangen zu können.
Auch Lenin erlag diesem Irrtum. Er hat ihn nur etwas modifiziert, als er an die Stelle der Dampfkraft die Elektrizität setzte. Besonders verhängnisvoll wirkte sich aber aus, daß Lenin sein Paradigma für Entwicklung und Perspektive des Kapitalismus von Deutschland bezog. Aus der Tatsache, daß der deutsche Imperialismus unter einer halbfeudalen politischen Ordnung entstanden und zur wirtschaftlichen Weltmacht aufgerückt war, glaubte er schließen zu dürfen, daß eine Diktatur des Proletariats die Entwicklung der Produktivkräfte genausowenig behindern würde wie die junkerliche Bevormundung. Es müsse lediglich der ''junkerlich-bürgerliche Imperialismus" durch den "Sowjetstaat, d.h. einen proletarischen Staat" ersetzt werden, und man werde "die ganze Summe der Bedingungen erhalten, die den Sozialismus ergibt".
Deutschland verkörpere die "materielle Verwirklichung", das revolutionäre Rußland dagegen "die politischen Bedingungen" für den Sozialismus. Lenin weiter wörtlich:
"Wenn in Deutschland die Revolution noch mit ihrer 'Geburt' säumt, ist es unsere Aufgabe, vom Staatskapitalismus der Deutschen zu lernen, ihn mit aller Kraft zu übernehmen, keine diktatorischen Methoden zu scheuen, um diese Übernahme der westlichen Kultur durch das barbarische Rußland noch stärker zu beschleunigen." (425)
Lenin verstand den historisch überlebten halbfeudalen Besatz des deutschen Imperialismus offenbar als eine Art Platzhalter für den proletarischen Staat. Die junkerlich-militaristischen Züge des deutschen Imperialismus schienen ihm der Beweis dafür zu sein, daß die Diktatur des Proletariats diesen Staatskapitalismus genauso oder noch erfolgreicher entwickeln werde. Lenin schien völlig zu übersehen, daß dieser junkerlichen Ordnung der Wind ins Gesicht blies; daß sie sich nur deshalb noch behaupten konnte, weil sie der kapitalistischen Entwicklung keine nennenswerten Hindernisse in den Weg legte und mit dem Großbürgertum paktierte.
Beträchtlich überschätzt hat Lenin auch den Grad an Bewußtheit bei der Steuerung der Wirtschaft im "staatsmonopolistischen Kapitalismus". Bezeichnend dafür ist sein Glaube, die gesamte Wirtschaft nach dem Muster der Deutschen Reichspost organisieren zu können. Bestärkt wurde er in solchen Illusionen durch die besonderen Bedingungen der Kriegswirtschaft in Deutschland, wie sie Walter Rathenau organisierte. Tatsächlich hat die sozialistische Planwirtschaft unter ähnlichen Bedingungen ihre relativ größten Erfolge erzielt. Auch die Kriegswirtschaft des faschistischen Deutschland trug stark planwirtschaftliche Züge. In allen diesen Fällen handelte es sich aber um Ausnahmesituationen, die für die normale Entwicklung der Produktivkräfte atypisch waren.
Folgerichtig mußte die Verwirklichung der sozialistischen Utopie, wie sie Lenin in Angriff nahm, die Produktivkräfte eher bremsen als vorantreiben. Anstatt die Produktivkräfte aus den Fesseln eines überholten, faulend und parasitär gewordenen Kapitalismus zu befreien, wie er annahm, wurden sie in eher ärgere Fesseln gelegt. Lenins Verständnis der wirtschaftlichen Antriebskräfte war im Grunde reichlich platt und vulgärmaterialistisch: Er stellte sich die gesamtgesellschaftliche Produktion nach Art eines Großbetriebs vor, der um so effektiver produziert, je rationeller er geleitet wird. Er übersah, daß die partikulare Rationalität des kapitalistischen Wirtschaftens eingebettet bleibt in jene "condition humaine", die Marx als Entfremdung beschrieben hat. Weder der Kampf ums nackte Dasein, der den Proletarier des 19. Jahrhunderts unter das Joch der kapitalistischen Ausbeutung zwang, noch das Bedürfnis nach Karriere und Luxus, das den Edelproletarier des 20. Jahrhunderts zusätzlich antreibt, sind das Ergebnis rationaler Entscheidungen. Ebensowenig läßt sich rational begründen, weshalb ein Unternehmer sein ganzes Leben bis zum Herzinfarkt der Anhäufung von immer mehr Kapital verschreibt, anstatt sich ein behagliches Rentnerdasein zu gönnen. Bedürfnisse wie der Wille zum Überleben, Streben nach Geld, Macht, Luxus, sozialem Ansehen usw. entziehen sich einer rationalen Begründung. Sie sind allenfalls einer psychologischen Erklärung zugänglich.
"Das Kapital" von Marx ist deshalb auch - entgegen einem verbreiteten Vorurteil - nicht bloß eine ökonomische Abhandlung. Es ist zugleich die bislang profundeste Studie über die psychologischen Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft. Die Verwandlung des Geldes in Kapital bedingt nach Marx eine andere Psychologie als die vorangegangene Phase der einfachen Warenzirkulation, in der das Geld nur den Austausch der Gebrauchswerte erleichtert. Der Kapitalist ist nicht mehr der "Schatzbildner" alten Schlages, sondern "personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital". Das Geld steht nicht mehr, wie in der einfachen Warenzirkulation, als bloßes Symbol für Gebrauchswert der Waren. Es wird vielmehr "eine prozessierende, sich selbst bewegende Substanz, für welche Ware und Geld bloße Formen". Es hat nun sogar "die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen". Und der Kapitalist, der diesen Prozeß in Gang hält und vorantreibt, muß sein ganzes Denken, Fühlen und Handeln dieser Macht unterordnen. Er ist ökonomisch wie psychologisch lediglich eine "Charaktermaske". (426)
Es gibt eine interessante These, wonach sich Marx 1857 auf Suche nach seinem "Kapital"-Begriff von Spinozas "Substanz" leiten ließ. Sein "Kapital" sei "bewußt kongruent konstruiert" zu diesem philosophischen Begriff, der Geist und Materie, Seele und Körper als zwei Seiten derselben Wirklichkeit ansieht. Marx habe dabei "nicht nur den Substanzbegriff adaptiert, sondern auch entdeckt, daß Spinoza sich mit erkenntnistheoretischen Problemen befaßt, die ihm bei der Abhandlung des Verhältnisses von einfacher Zirkulation und Kapital in formal gleicher Weise begegnen". Es bestehe insofern "eine vom Problem her begründete konzeptionelle Verwandtschaft zwischen Spinozas Entwurf der Substanz und Marxens Kapitalbegriff, über zwei Jahrhunderte der Entfaltung dieser bürgerlichen Gesellschaft hinweg". (427)
Wie dem auch sei: Im Begriff des "Kapitals", wie ihn Marx in seinem Hauptwerk entwickelt, ist jedenfalls dieselbe Psychologie enthalten, die in seinen Frühschriften als "Entfremdung" auftaucht und die er in den einleitenden Ausführungen über den "Warenfetischismus" nochmals wiederholt. Die Behauptung der kommunistischen Partei-Orthodoxie, Marx habe den Begriff der Entfremdung später zugunsten ökonomischer Kategorien fallengelassen, ist insoweit nicht aus dem Blauen gegriffen. Falsch und irreführend wird sie erst dadurch, daß sie dazu herhalten soll, die psychologischen Implikationen seines Werkes zu leugnen, anstatt auf der Fortdauer und Weiterentwicklung des "Entfremdungs"-Begriffs auch im Spätwerk von Marx zu insistieren.
Es hebt - bei allen sonstigen Schwächen - die Werke eines Werner Sombart und Max Weber in diesem Punkt über die enge Sichtweise Lenins, daß sie diese irrationalen, letztlich nur psychologisch erklärbaren Implikationen der Entfremdung erkannt und im Begriff des "kapitalistischen Geistes" zu erfassen versucht haben. Sombart diagnostizierte in der Seele des Kapitalisten "eine tiefe Verlassenheit". Es sei diese Öde, aus der sich "der Unternehmungsdrang und die Geschäftsraserei mit psychologischer Notwendigkeit entwickelten". Seine höchste Anspannung und stärkste treibende Kraft beziehe der kapitalistische Geist nicht aus dem "erzwungenen Willen", sondern aus einer fetischistischen, geradezu erotischen Hingabe an den Geschäftszweck. Die Menschen betrieben ihre wirtschaftliche Tätigkeit im Kapitalismus "nicht nur als eine Pflicht, nicht nur als ein notwendiges Übel, sondern weil sie sie lieben, weil sie sich ihr mit Herz und Geist, mit Körper und Seele ergeben haben". Die besinnungslose Geschäftigkeit werde ihnen zum Lebensinhalt, ebenso wie das Anhäufen von Gewinn an sich und eine platte Begeisterung für technische Errungenschaften.
Sombart griff sogar zum Vergleich mit einer "Geliebten", um das fetischistische Verhalten des Unternehmers zu seinem Unternehmen zu charakterisieren. Diese Geliebte hege und pflege er mit Inbrunst, während alle natürlichen menschlichen Regungen verkümmerten:
"Die Heimat wird für den Unternehmer zur Fremde. Natur, Kunst, Literatur, Staat, Freunde: alles verschwindet in ein rätselhaftes Nichts für ihn, der keine 'Zeit' mehr hat, sich ihnen zu widmen [. . .] Er darf diese Tätigkeit nicht als sinnlos und wertlos ansehen, will er nicht den Grund, auf dem er steht, verlieren, will er nicht die letzte Lebensmöglichkeit sich selbst zerstören." (428)
Im Unterschied zu konservativen Apologeten des Kapitalismus beschwört Sombart hier nicht einen angeblich unveränderlichen Adam, der nun mal naturnotwendig nach Geld, Macht und Anerkennung strebt, sondern er beschreibt die Verdinglichung des Bewußtseins als spezifische Geistesverfassung des Menschen im Kapitalismus. Er verdeutlicht, daß die partikulare Rationalität des kapitalistischen Wirtschaftens einen zutiefst irrationalen Untergrund hat; daß Rationalität und Irrationalität sich gegenseitig bedingen, ergänzen und durchdringen.
Eine Frucht dieses verdinglichten Bewußtseins ist vor allem die "Rechenhaftigkeit", die Sombart als Wesensmerkmal des kapitalistischen Geistes erkannte:
"Die Geldwirtschaft aber allein ist imstande, den Menschen an die rein quantifizierende Betrachtung der Welt zu gewöhnen. Erst wenn in Jahrzehnten und Jahrhunderten immer wieder der gleichmacherische Maßstab des Geldes als Wertmesser verwendet wird, löscht sich die ursprünglich Art- und Eigenschaft-bewertende Anschauung aus, und die Menge- und Masse-bewertende Orientierung wird zu einer Selbstverständlichkeit des alltäglichen Lebens." (429)
Nach Sombart entwickelte sich die Rechenhaftigkeit zunächst im Italien des 13. Jahrhunderts, um dann über Holland und England ihren Fortgang zu nehmen. Sie ist mithin nichts anderes als eine Begleiterscheinung der Ware-Geld-Beziehungen, im weiteren Sinne des Kapitalismus. Sie ist eng mit der Ablösung der römischen durch die arabischen Ziffern, der Durchsetzung des Dezimalsystems, dem kaufmännischen Rechnen, der Buchführung, der chronometrischen Unterteilung des Tages oder dem Bedürfnis nach "Pünktlichkeit" verbunden. (430) Sie ist die Fähigkeit, alle Dinge und alle Menschen nach Mark und Pfennig, Zins und Zinseszinsen zu taxieren. Sie ist im Grunde genau das, was im marxistischen Jargon als Verdinglichung des Bewußtseins bezeichnet wird.
Mit der Erfindung des Computers im 20. Jahrhundert wird diese Rechenhaftigkeit gleichsam karikiert und auf die Spitze getrieben: So wie der kapitalistische Geist alles zur Ware macht, zerlegt der Computer alle Gedankengänge und Handlungsabläufe, die sich als Algorithmen darstellen lassen, in eine ungeheure Menge gleichwertiger Partikel, die lediglich unterschiedlich miteinander verknüpft werden. Und so wie der kapitalistische Geist am Ende keinen Wert mehr kennt, der sich nicht in Mark und Pfennig ausdrücken ließe, so wirkt die binäre Einfalt des Computers auf das Bewußtsein des Menschen zurück: Sie verlangt kategorisch nach dem maschinenlesbaren Gedankengang, der seiner Natur nach ein beschränkter Gedankengang ist. Auch in den "Geisteswissenschaften" ist es heute längst üblich, Gegenstand und Methodik von Untersuchungen nach Computer-Kriterien auszurichten. Die meisten psychologischen Tests tragen das Kainsmal der Maschinenlesbarkeit. Bei Prüfungen im "Multiple choice"-Verfahren wird nicht mehr tatsächliches Wissen bewertet, sondern die vage Erinnerung an die möglicherweise richtige von mehreren vorgegebenen Lösungen. Sogar die unterschiedliche und unregelmäßige Syntax der Sprachen, die Vieldeutigkeit einzelner Wörter, wird zunehmend als störend und antiquiert empfunden. Naturwissenschaftler bedienen sich längst eines Rumpf-Englischs, einer Art Computer-Esperanto, das sogar bei maschineller Übersetzung verständlich bleibt.
Vielleicht ist der Computer die letzte große Errungenschaft des "kapitalistischen Geistes". Vielleicht folgen noch weitere, ehe er endgültig an seine Grenzen stößt. Die Rationalität, aus der er sich speist, ist aber jedenfalls von anderer Art, als es sich der Sozialismus des 19. Jahrhunderts träumen ließ. Es handelt sich um eine Rationalität, die tief im Irrationalen der Verdinglichung wurzelt.
Die sozialistische Utopie hat die psychologische Seite des Kapitalismus mehr oder weniger auf die Profitgier des Unternehmers reduziert. Die Beziehung zwischen "Rechenhaftigkeit" des Denkens und kapitalistischem Geist wurde von ihr nicht oder nur völlig ungenügend gewürdigt. Ein ganz wesentlicher Faktor für die Entwicklung der Produktivkräfte blieb so außer Betracht. - Nicht deshalb, weil ihr diese bürgerliche Geistigkeit fremd gewesen wäre, sondern vielmehr, weil sie ihr viel zu nahe war: Die sozialistische Utopie war zum Teil nur eine seitenverkehrte, spiegelbildliche Variante der herrschenden bürgerlichen Ideologie. Sie teilte deren Fortschrittsgläubigkeit, deren Bewunderung für die Technik und deren Vertrauen in die Rationalität der Großwirtschaft. Noch ihr "klassenbewußter" Arbeiter, der sich von der Einsicht in seine historisch-soziale Interessenlage leiten läßt, ist im Grunde eine Umformung des "homo oeconomicus" der liberalen Nationalökonomie, der all sein Tun und Denken am ökonomischen Interesse orientiert. Und noch in ihrer Verklärung des einfachen Proleten zum Demiurgen einer neuen Welt ist der Nachfahre des edlen Wilden erkennbar, der einige Jahrzehnte zuvor bei Johann Gottfried Seume mit natürlicher Würde gegen "Europens übertünchte Höflichkeit" antritt.
Vor diesem Hintergrund wird nun auch verständlich, weshalb ausgerechnet die sozialistischen Länder, die sich auf ihre bewußte und umfassende Steuerung der Wirtschaft soviel zugute hielten, im Wettlauf um die Rationalisierung zurückgefallen sind. Es klingt wie Gesundbeterei, wenn man in einer populärwissenschaftlichen Darstellung der Rationalisierungsproblematik aus der DDR die wiederholte Versicherung findet, "daß die sozialistische Gesellschaft sich gegenüber der kapitalistischen durch die ihr innewohnende höhere Rationalität auszeichnet". Der staatsmonopolistische Kapitalismus in der BRD könne "niemals jenes Ausmaß gesellschaftlicher Rationalität erzielen, wie es das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus zu erreichen vermag". Anders als im Kapitalismus, wo die wissenschaftlich-technische Revolution zwangsläufig die sozialen Gegensätze vertiefe, werde in der DDR dieser Prozeß "planmäßig und bewußt vollzogen" und würden "auftretende Probleme vorausschauend im Interesse der Gesellschaft gelöst". (431)
Wie die Wirklichkeit aussah, ist im selben Buch - indirekt - der Redewendung von der "Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution" zu entnehmen. Sie verrät, daß die sozialistischen Länder diese Revolution eher mühsam nachvollzogen als aktiv gestaltet haben. Dasselbe Eingeständnis versteckt sich hinter der ständigen Aufforderung an die eigene Wirtschaft, "weltmarktfähige Erzeugnisse zu produzieren" und die Effizienz der Produktion dem "international üblichen" Niveau anzugleichen. Gemeint sind natürlich allemal die hochentwickelten Staaten des Kapitalismus als Vergleichsmaßstab.
Die Behauptung, die Wirtschaft der realsozialistischen Länder zeichne sich durch eine höhere Rationalität aus, ist zunächst sogar richtig. Eine derart umfassende und bewußte Steuerung des gesamtwirtschaftlichen Prozesses gibt es im "staatsmonopolistischen Kapitalismus" nicht. Mit den Tücken, welche die Spontanität des kapitalistischen Wirtschaftens birgt, werden allerdings auch wesentliche Vorteile ausgeschaltet. Vor allem der Versuch, die Gesetze des Marktes und des materiellen Anreizes weitgehend außer Kraft zu setzen, mißachtet die realen Entwicklungsbedingungen der Produktivkräfte. Damit verbunden ist die naive Vorstellung, den gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozeß nach dem Muster eines industriellen Großbetriebs des 19. Jahrhunderts steuern zu können, in dem eine zentrale Dampfmaschine über eine "Transmission" unzählige größere und kleinere Maschinen antrieb. Eine solche "Kommandowirtschaft" - wie der abfällige Ausdruck sowjetischer Wirtschaftsreformer lautet - mag in Ausnahmesituationen vorteilhaft und sogar unumgänglich sein. Als normales Instrument zur Entwicklung der Produktivkräfte muß sie aber versagen.
Die Rationalität des realexistierenden Sozialismus ist somit eine unzureichende, beschränkte Rationalität. Es ist die Rationalität des 19. Jahrhunderts, die ihr Paradigma für die Steuerung gesellschaftlicher Prozesse mit Lenin vom Transmissions-Riemen des mechanischen Zeitalters bezieht. Wenn es hoch kommt, kann sie sich diese Steuerung vielleicht noch nach dem Prinzip des elektrischen Relais vorstellen, bei dem der Kraftschluß auf induktivem Wege erfolgt. Die Welt der Regelkreise ist diesem Denken jedoch trotz aller technologischen Anstrengungen fremd geblieben. Die anfängliche Ächtung der Kybernetik als "bürgerliche Afterwissenschaft" kam auch nicht von ungefähr: Die Selbststeuerung von Prozessen, das Prinzip der Rückkopplung oder das gleichberechtigte Zusammenwirken aller Elemente eines Regelkreises mußten als verdeckter ideologischer Angriff auf das eigene autoritäre Prinzip, den "demokratischen Zentralismus", empfunden werden. Wenigstens so lange, bis die Kybernetik unverzichtbare Ergebnisse vorweisen konnte.
In der BRD und anderen kapitalistischen Staaten zeigten sich die Auswirkungen der Automation erstmals Mitte der siebziger und verschärft seit Anfang der achtziger Jahre. Sie führten zu einer bis dahin für unmöglich gehaltenen Wiederkehr von Massenarbeitslosigkeit. Vorhersehbar waren sie aber wesentlich früher. In einer Studie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung aus dem Jahre 1956 verwies Friedrich Pollock auf die damaligen Ansätze zur Automation in den USA und prophezeite "die Verwandlung eines immer größeren Teils der Bevölkerung in eine Art 'surplus population'", die leicht ausgewechselt werden könne und dauernd von Arbeitslosigkeit bedroht sei:
"Es ist sehr wahrscheinlich, daß in einer Zeit, wo die Automation diejenigen, die in den technisch höchstentwickelten Wirtschaftszweigen arbeiten, vom Fluch der seelischen Verstümmelung durch die Arbeit am Fließband befreit, eine steigende Anzahl von Menschen in ebenso sinnentleerte, mechanische und ihre persönliche Entwicklung zerstörende Tätigkeiten hineingedrängt wird. Ihr Lebensgefühl und ihr sozialer Status werden niedrig sein, da sie zugleich mit dem Gefühl der Leere ihrer Arbeit das Wissen mit sich herumtragen, wie leicht sie aus dem großen Reservoir der Arbeitslosen und Notstandsarbeiter ersetzt werden können. Sie sind die Ungelernten oder in einem überflüssig gewordenen Beruf Ausgebildeten oder 'über Vierzigjährigen', die die meisten Opfer einer drohenden, offenen oder durch staatliche Maßnahmen notdürftig verdeckten technologischen Arbeitslosigkeit stellen würden. Zur Minderung ihres gesellschaftlichen Status wird beitragen, daß die Gewerkschaften voraussichtlich infolge des tendenziell stark sinkenden Bedarfs an Arbeitskräften in den sozial entscheidenden Massengüterindustrien erheblich an Einfluß verlieren könnten."
Pollock sah sogar die "Zwei-Drittel-Gesellschaft" voraus: Die Automation bewirke eine "immer tiefer gehende Differenzierung der Bevölkerung". Diese neue soziale Differenzierung werde vorläufig nur verdeckt durch die allgemeine Hebung des Lebensstandards, die Kulturindustrie und die Uniformierung des Denkens. Infolge der Machtzusammenballung bei einer Minderheit von Technokraten und der menschlichen Verarmung der Mehrheit könne bald ein Punkt erreicht sein, an dem der Übergang zu einem autoritären Gesellschaftssystem unvermeidlich würde. (432)
Pollocks Studie aus dem Jahr 1956 schloß mit einem aktuellen Ausblick auf die Automatisierung in der Sowjetunion, wo eine vollautomatisch arbeitende Kolben-Fabrik bereits den Bedarf des ganzen Landes befriedigen könne. Es wurden auch Befürchtungen amerikanischer Kreise zitiert, hinter der Sowjetunion technologisch zurückzubleiben. Die autoritär-verwaltete Gesellschaft, die Pollock mit anderen Mitgliedern der Frankfurter Schule heraufdämmern sah, trug gleichermaßen kapitalistische wie stalinistische Züge.
Die seitherige Entwicklung hat den wirtschaftlich-technologischen Rückstand der realsozialistischen Länder offenbar werden lassen. Die wissenschaftlich-technische Revolution hat nicht etwa ihr System in besonderer Weise begünstigt, wie in den fünfziger Jahren noch angenommen werden konnte, sondern vielmehr diese Form einer autoritär-verwalteten Welt untergraben helfen. Damit verdichten sich die Indizien, daß die befürchtete Zwangsgesellschaft eher kapitalistische Züge tragen werde.
Dennoch wäre es unhistorisch und undialektisch, im Zusammenbruch des von Lenin begründeten Systems den Beweis für die grundsätzliche Überlegenheit des "Kapitalismus" über den "Sozialismus" sehen zu wollen. Eine solche Sichtweise verkennt, daß es gerade die inneren Widersprüche des kapitalistischen Systems waren, die - unter anderem - die russische Revolution bewirkt haben. Der Sowjetstaat hat diesen Widersprüchen, die sich zuvor im nationalen Rahmen hielten, lediglich zu globalem Ausdruck verholfen. Er war die real-sozialistische Antithese zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Beschränktheit dieser Antithese ergab sich allerdings schon aus ihrer geographischen Begrenzung. Der Streit zwischen Trotzki und Lenin, ob die russische Revolution lediglich den Auftakt zur Weltrevolution bilden dürfe oder ob sich der Sozialismus unter Beschränkung auf Rußland aufbauen lasse, war deshalb grundsätzlicher Natur. Vermutlich wäre die russische Revolution schnell gescheitert, wenn sie Trotzkis Weg zur Internationalisierung gefolgt wäre. Rein theoretisch wäre es aber die klarere Lösung gewesen, den Streit der Systeme schon "in statu nascendi" zu entscheiden. Hinter Lenins Losung vom Aufbau des Sozialismus in vorläufig nur einem Land stand natürlich die Hoffnung, diesen Sozialismus so attraktiv und mächtig zu machen, daß die Weltrevolution eines Tages von besseren Positionen in Angriff genommen werden könne. Diese Hoffnung wäre begründet gewesen, wenn der Kapitalismus tatsächlich so morsch, faulend und parasitär gewesen wäre, wie es Lenin in seiner Imperialismus-Theorie unterstellt hatte. Die Wirklichkeit sah freilich anders aus: Das kapitalistische Prinzip war noch lange nicht am Ende seiner Möglichkeiten angelangt. Statt dessen verwandelte sich der von Lenin begründete Sozialismus zunehmend selbst in ein morsches, faulendes und parasitäres Gebilde. Der "real existierende Sozialismus" war am Ende nur noch ein Fossil und eine Karikatur jener revolutionären Alternative zum Kapitalismus, als die er einst entstanden war.
Es gehört zur Ironie der Geschichte, fügt sich aber nur in eine dialektische Sicht, daß die eigentlichen Nutznießer des "real existierenden Sozialismus" die Werktätigen der kapitalistischen Länder waren. Das von Lenin begründete Sowjetreich wirkte fast ein Dreivierteljahrhundert lang als Pfahl im Fleisch des Kapitalismus. Vermutlich hat es die sozialere Gestaltung der kapitalistischen Gesellschaft noch nachhaltiger beeinflußt, als dies der Sozialdemokratie, den Gewerkschaften und anderen systemimmanenten Reformkräften möglich gewesen ist. Die Schwäche der meisten kommunistischen Parteien im Westen widerspricht dieser Vermutung nur scheinbar. Noch eine quasi sozialdemokratische Massenpartei wie die KPI verband mit einer dogmatischen Sekte wie der DKP der Anspruch, die ursprünglichen Verheißungen der russischen Revolution einzulösen - so fragwürdig und unglaubwürdig dieser Anspruch inzwischen geworden sein mochte. Und alle anderen politischen Kräfte verband das Bemühen, einer solchen gesellschaftlichen Alternative den Boden zu entziehen. In der Praxis bedeutete dies, dem Kapitalismus seine übelsten Giftzähne zu ziehen und ihn so - oft ganz unverhofft - zu reformieren und zu optimieren.
Der endgültige Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" bedeutet somit keineswegs den schrankenlosen Triumph des real existierenden Kapitalismus. Im Gegenteil: Jene Widersprüche des kapitalistischen Systems, die über Jahrzehnte hinweg im Ost-West-Gegensatz gebunden waren, kehren nun zu ihrem Ursprung zurück. Die inneren Spannungen des kapitalistischen Systems werden nicht etwa geringer, sondern stärker werden. Mit dazu beitragen wird die Konkursmasse des real existierenden Sozialismus. In ihrer Labilität stellt sie möglicherweise eine größere Bedrohung des weltweiten kapitalistischen Systems dar als vordem in ihrer relativen Stabilität. Zusammen mit den ungelösten und sich verschärfenden Problemen anderer unterentwickelter Länder und dem hoffnungslosen Elend der "dritten Welt" könnte die Stunde des Offenbarungseids für den Kapitalismus schneller kommen, als die meisten heute zu denken wagen.
Noch schneller dürften sich jene irren, die das Ende des von Lenin begründeten Systems für das Ende des "Marxismus" halten. In der Regel gründet sich diese Ansicht auf schlichte Unkenntnis der marxistischen Philosophie. Entsprechend unkritisch wird die Partei- und Staatsdoktrin des "Marxismus-Leninismus" für das intellektuelle Vermächtnis von Marx und Engels gehalten - ein letzter Erfolg des Stalinismus, der diese Falschmünzerei zum Dogma erhoben hatte. Es gibt aber auch besser Unterrichtete, die aus einigen offenkundigen Irrtümern und Schwächen in den Theorien von Marx und Engels den voreiligen Schluß ziehen, daß diese Theorien insgesamt überholt seien. Hierzu gehört etwa die Theorie vom Klassenkampf als vermeintlich grundlegendem Entwicklungsgesetz der Geschichte, die Erwartung einer gesetzmäßigen Verelendung der Arbeiterklasse, einer unaufhaltsamen Verschärfung der Klassengegensätze oder die Mystifizierung des elenden, geschundenen Proletariers zum Demiurgen einer neuen Welt. Solche Annahmen, die dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts verhaftet waren, sind heute zumindest in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr haltbar. Anders sieht es schon aus, wenn zum Beispiel die These von der Verschärfung der Klassengegensätze aus dem nationalstaatlichen Rahmen gelöst und als Verschärfung der globalen Gegensätze interpretiert wird. Ihre annähernde Erfüllung fand auch die Utopie vom Proleten, der sich zum Meister des industriellen Räderwerks aufschwingt, wenn der Nachfolger dieses Proleten im Angestelltentypus gesehen wird, der zweifellos die kulturell- geistig prägende Kraft des modernen Kapitalismus ist, während die Reste der Bourgeoisie längst am Tropf der "middle class" hängen.
Auch die Theorie von der unausweichlichen Verelendung der Arbeiterklasse ist so abwegig nicht, wenn an die Stelle der materiellen Not die psychische Verelendung gesetzt wird - jene psychische Verelendung, die Marx und Engels auch an der Bourgeoisie als Folge der kapitalistischen Entfremdung beobachteten. Im Unterschied zur materiellen Not ist die Entfremdung unauflöslich mit dem kapitalistischen System verbunden. Sie wächst sogar in dem Maße, in dem das kapitalistische System seine Fähigkeit zur Deckung der materiellen Lebensbedürfnisse entwickelt und muß so irgendwann zum Hauptproblem werden. Gegenwärtig gilt noch immer die Beobachtung Pollocks, daß das kapitalistische Produktionssystem eine steigende Anzahl von Menschen in sinnentleerte, mechanische und die persönliche Entwicklung zerstörende Tätigkeiten hineindrängt. Und noch immer drohen aus dieser "menschlichen Verarmung der Mehrheit" unkalkulierbare Eruptionen mit der Gefahr eines autoritären Gesellschaftssystems, das die faktische Unfreiheit des zur Ware gewordenen Menschen zusätzlich durch Beseitigung der politischen Freiheitsrechte sichern zu müssen glaubt.