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(Aus: Udo Leuschner, "Entfremdung - Neurose - Ideologie", Bund-Verlag, Köln 1990, S. 294 - 308)


 

Die Partei hat immer recht


 

Die stalinistische Verzerrung des Marxismus als kollektive Neurose

Die stalinistische Verzerrung des Marxismus weist unübersehbar die Züge einer Ersatzreligion bzw. einer kollektiven Neurose auf. Sie ist seit Stalins Tod 1953 und seit der parteioffiziellen Verurteilung des Diktators durch den 20. Parteitag der KPdSU 1956 in Rückbildung begriffen. Auswirkungen des Stalinismus lassen sich aber auch noch nach diesen beiden historischen Daten in der UdSSR, in anderen realsozialistischen Staaten und bei den kommunistischen Parteien kapitalistischer Länder feststellen. Der Verurteilung Stalins durch Chruschtschow folgte zeitweilig sogar eine Phase der teilweisen Rehabilitierung, in der Stalins Verbrechen mit den historischen Umständen entschuldigt und dafür seine militärischen oder wirtschaftlichen Erfolge in den Vordergrund gestellt wurden. Erst mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows als Generalsekretär der KPdSU wurde die Absicht erkennbar, dieses düstere Kapitel der sowjetischen Geschichte und der internationalen kommunistischen Bewegung in praktischer wie theoretischer Hinsicht endgültig zu bewältigen.

Wenn der Stalinismus hier vor allem unter einem psychologischen Gesichtspunkt gesehen wird, heißt dies nicht, daß dies der wichtigste sei. Es wäre abwegig, den Stalinismus aus einer wie immer gearteten psychischen Verfassung ableiten zu wollen. Erst recht wäre es unsinnig, den Stalinismus aus jener spezifischen Bewußtseinslage ableiten zu wollen, die er erst hervorgebracht hat. Wie alle Phänomene des Überbaues erschließt sich auch das Wesen des Stalinismus primär nur einer soziologischen Betrachtungsweise. Aus marxistischer Sicht ist diese soziologische Betrachtungsweise zugleich eine immanente Kritik an Theorie und Praxis einer Ideologie, die behauptet hat, das Erbe von Marx, Engels und Lenin zu vertreten.

Der Stalinismus verfälscht die Dialektik zu dogmatischem Dualismus

Eine solche immanente Kritik hat Werner Hofmann in dem 1967 erschienenen Buch "Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie der Verblendung" geleistet (323). - Sein Buch konnte freilich nicht verhindern, daß die Verblendung beider Arten neue Opfer fand. So entstanden beim Zerfall der "außerparlamentarischen Opposition" nach 1968 diverse politische Sekten, vorwiegend studentischen Ursprungs, die als nostalgische Kopien der Thälmann-KPD auftraten und dabei auch den Stalinismus bis zur tragikomischen Lächerlichkeit kopierten. Mit der alten KPD, als deren Fortsetzung sie sich ausgaben, hatten diese Sekten nicht das geringste zu tun. Sie machten jedoch aus dieser Not eine Tugend, indem sie der DKP als der tatsächlichen Fortführung der KPD den Vorwurf des "Revisionismus" entgegenschleuderten. - Hier hatte sich die psychologische Seite des Stalinismus als kollektive Neurose von ihren ursprünglichen historischen Voraussetzungen gelöst und zu einem bewußtseinsmäßigen Versatzstück verselbständigt, das unter ganz anders gearteten gesellschaftlichen Verhältnissen eine neue Rolle zu spielen vermochte.

Unter den gesellschaftlichen Bedingungen für die Entstehung stalinistischen Denkens erwähnt Hofmann die Rückständigkeit der Sowjetunion, die sich ihre eigene neue Intelligenz erst "treibhausmäßig" heranziehen mußte. Ähnliches gelte für die Ausbreitung der stalinistischen Macht im Gefolge des Zweiten Weltkriegs über andere Länder, in denen eine breitere Intelligenz überhaupt erst sich im Zeichen des Marxismus entwickelt oder sich an die Stelle einer bürgerlich gebundenen Intelligenz gesetzt habe. Die stalinistische Neigung, an alle praktischen wie theoretischen Fragen unter dem Aspekt der Machtbehauptung und Machterweiterung heranzutreten, habe deshalb Systemcharakter gewinnen können, weil sie in allen Fällen auf gering entwickelte Kräfte der Kritik und der Korrektur gestoßen sei. Für lange Zeit hätten in der UdSSR und den ihr angeschlossenen Gesellschaften die Bedingungen einer sachverständigen Kontrolle gefehlt, welcher in einer entwickelteren Gesellschaft die Angehörigen der Intelligenz sich gegenseitig unterziehen und der sie allesamt vor einer breiteren aufgeschlossenen Öffentlichkeit unterliegen. So habe an die Stelle der wissenschaftlichen die Gesinnungskontrolle treten können, die nicht nach der Sache, sondern nach den Absichten der Person fragt.

Der Stalinismus verwandele den dialektischen Materialismus aus einer weltoffenen Denkhaltung in eine geschlossene Weltanschauung, zu der man sich parteimäßig bekennt, heißt es bei Hofmann weiter. Der Marxismus erscheine darin als ein fertiges philosophisches System, dessen Begriffe und Lehrsätze hinfort, abgetrennt von den konkreten Gegenständen des wirklichen Lebens und der positiven Wissenschaft, zur Sache einer abstrakten Sondergelehrsamkeit würden. Die Fakten des wirklichen Lebens sänken schließlich zum bloßen wechselnden Illustrationsmaterial der unveränderlichen Lehrsätze ab. Entsprechend trete die Forderung nach "Parteilichkeit" in einen unlösbaren Widerspruch zur Objektivität. Die schlichte Redlichkeit des allseitig und gründlich Prüfenden werde als "Objektivismus" gebrandmarkt. In der Wissenschaft wirke sich das in einer Vermengung von feststellenden, deutenden und wertenden Urteilen aus, gepaart mit stereotypen Emotionen, Wort-Fetischismus und einem moralisierenden Subjektivismus, der objektive Verhältnisse persönlich zurechenbar machen möchte.

Die entscheidende theoretische Verdrehung des Marxismus erkennt Hofmann im stalinistischen Verhältnis zur Dialektik. An die Stelle des dialektischen Widerspruchs der Erscheinungen setze der Stalinismus den starren Gegensatz. Das Denken falle damit aus der Dialektik wieder in den Dualismus, also in Formen des vormarxistischen Denkens zurück. Die Anerkennung der dialektischen Einheit der Gegensätze weiche einem starren Freund-Feind-Verhältnis, geistigem Immobilismus und ängstlichem Festhalten an dem einmal formelhaft Gesicherten. Die Dialektik verliere ihre Erkenntnisfunktion. Sie verkomme letzten Endes zu einer opportunistischen Methodik, um das vorgefaßte Dogma in scheinbare Übereinstimmung mit der Realität zu bringen.

Hofmann charakterisiert den Stalinismus als eine extreme Steigerung des menschlichen Entfremdungsverhältnisses. Es vollende sich im Terror, in Furcht und Mißtrauen aller gegenüber allen. Das Totschweigen Kafkas, des Schriftstellers der Entfremdung, durch die stalinistischen Kulturfunktionäre sei bezeichnend. Auf der Ebene dieser Entfremdung treffe sich die stalinistische Diktatur auch mit inhaltlich grundverschiedenen Diktaturen anderen Typs.

Hofmann warnt zugleich davor, die fortwirkenden Formen der Entfremdung mit dem objektiven Inhalt der neuen Gesellschaft in der Sowjetunion zu verwechseln, den sie so lange Zeit verdunkelt hätten. Er konstatiert, daß der Marxismus selbst in seiner stalinistischen Entstellung noch die geschichtliche Rolle von Aufklärung übernommen habe. Er prophezeit, daß der "Infantilismus" der stalinistischen Meinungslenkung in dem Maße wirkungslos werde, wie die Massen selbst im Prozeß der kulturellen Revolution ihm entwachsen würden. Die Engstirnigkeit und der Rückstand des Denkens würden schließlich zur Bedrohung für die weitere Entwicklung und den Fortbestand der Gesellschaft selbst. Die seitherige Entwicklung scheint Hofmann recht gegeben zu haben.

Herbert Wehner findet vom Kreml zur richtigen Kirche

Die zutiefst anti-intellektuelle, dogmatische Haltung des Stalinismus läßt sich noch bei zahlreichen Renegaten feststellen, die weder vor noch nach ihrem Abfall ein tieferes Verständnis für marxistische Denkweise entwickelt haben. Zum Beispiel war Herbert Wehner bei seinem Bruch mit dem Stalinismus im schwedischen Exil von marxistischer Philosophie fast so unbeleckt wie bei seinem Eintritt in die KPD 1927. Folgerichtig empfand Wehner seinen Bruch mit dem Stalinismus noch 1964 in einem Interview mit Günter Gaus als Bruch mit dem "Kommunismus schlechthin" (324). Und durchaus glaubwürdig klingt aus dem Mund des ehemaligen stalinistischen Funktionärs jene Ansprache, die er am 18. Oktober 1964 in der Hamburger Michaeliskirche hielt:

"Ich kenne die Situation des Menschen, der versucht, ohne die Kirche zu leben und meint, er vermöge ja dennoch (oder gar gerade so) mit dem Evangelium zu leben. In Wirklichkeit hält er die Spannung nicht aus. Sie geht über seine Kraft. Entweder zerbricht er an ihr, oder sein Glaube und seine Hoffnung zerbrechen. Mit dem Verstand vermag ich zu begreifen, wie man aus Protest oder aus Trotz gegen Formen, Personen oder Verhaltensweisen, in denen einem die Kirche entgegentritt, sogar den Glauben und die Hoffnung verlieren und zum Strohhalm des Atheismus greifen kann." (325)

Es ehrt Wehner durchaus, daß er die stalinistische Ersatz-Kirche mit der richtigen Kirche vertauschte. Gewisse humanistische Grundwerte sind bei dieser mit Sicherheit besser aufgehoben. Ansonsten ist diese Hamburger Rede ein intellektuelles Armutszeugnis. Sie steht in einem schwer begreiflichen Gegensatz zu Wehners politischem Scharfsinn und seinem Instinkt für Machtverhältnisse. Man könnte deshalb vermuten, daß sich Wehner als angehender Architekt der großen Koalition aus Union und SPD zu einem opportunistischen "sacrificium intellectus" entschlossen habe, das gar nicht seiner persönlichen Überzeugung entsprach. Einer solchen Vermutung widersprechen allerdings seine sonstigen bekannten Äußerungen und Lebensumstände. Wehners geistiger Habitus war wohl in der Tat nicht anspruchsvoller als der eines Walter Ulbricht oder Konrad Adenauer, die gerade deshalb so erfolgreiche Politiker waren, weil es ihnen an jeder tieferen Reflexion ihres Handelns mangelte. In diesem Sinne glaubte Erich Kuby bei Konrad Adenauer nachweisen zu können, "daß er eigentlich gar kein politischer Kopf ist" (326). Herbert Wehner erblickte dagegen in seinem Kontrahenten Adenauer "politisches Urgestein". Vermutlich hatten auf ihre jeweilige Weise beide recht.

"Darüber spricht man nicht" - wie Johannes R. Becher die Verbrechen Stalins verdrängte

Psychologisch ergiebiger sind die Fälle von Intellektuellen, die sich zeitweilig oder dauernd dem stalinistischen Kurs verschrieben hatten. Diese Intellektuellen wurzelten fast alle, biographisch zwangsläufig, in einer durchaus bürgerlichen Herkunft, Sozialisation und Bildung. Dieser Ausgangspunkt hat ihr Verhältnis zur kommunistischen Partei entscheidend geprägt, in der Hinwendung wie in der später vielfach erfolgten Abwendung. Hier liegt auch die Gemeinsamkeit so unterschiedlicher Charaktere und Schicksale wie bei Georg Lukács, Ernst Bloch, Bert Brecht, Anna Seghers, Johannes R. Becher, Arthur Koestler, Manès Sperber oder Alfred Kantorowicz. Sie standen, ob sie es wahrhaben wollten oder nicht, in der Tradition jener bürgerlichen Aufklärung, die der Stalinismus allenfalls in Worten gelten ließ, während er sie faktisch negierte. Der unlösbare Widerspruch zwischen dem humanistischen Ausgangspunkt des Marxismus und seiner Pervertierung im Stalinismus mußte zu einem mehr oder minder ausgeprägten Widerspruch zwischen Denken und Handeln führen - und zu Lösungsversuchen wie im philosophischen "Partisanenkampf" bei Lukács, in der literarischen List bei Brecht oder im radikalen Bruch mit der Partei wie bei Koestler, Sperber oder Kantorowicz.

Inzwischen wissen wir, daß auch Johannes R. Becher, der seinerzeitige Kulturminister der DDR, bewußter mit diesem Widerspruch lebte, als es den Anschein hatte. Im vierten Band seiner theoretischen "Bemühungen" mit dem Titel "Das poetische Prinzip" hat er sich mit dem 20. Parteitag und der Rolle Stalins auseinandergesetzt. Bevor das Buch 1957 erschien, hat Becher den Text um sieben Absätze gekürzt, die erst über dreißig Jahre später veröffentlicht wurden (327). Diese unterdrückten Passagen sind höchst aufschlußreich. Sie veranschaulichen den mächtigen Druck, den der Stalinismus als kollektive Neurose auf das Bewußtsein des einzelnen wider besseres Wissen auszuüben vermochte. - Ein Druck, der auch nach dem 20. Parteitag nur begrenzt wich und deshalb die Selbstzensur dieses Rechenschaftsversuchs bewirkte.

Becher gesteht in diesem Text, von den Verbrechen unter Stalin gewußt zu haben. Dies habe ihn jedoch nicht daran gehindert, Stalin für ein Genie der Menschheit zu halten und "wie keinen unter den Lebenden" zu lieben und zu verehren:

"Beides, die Verehrung zu diesem Mann und das Entsetzen vor dem Grauen, hat sich in meiner Dichtung ausgedrückt, wobei ich das eine nicht in Zusammenhang brachte mit dem anderen. Beides stand wie voneinander getrennt, einander wesensuneins, fremd gegenüber. [. . .] In dieser Frage war ich uneins mit mir selber, war mein Wesen gespalten."

Das Entsetzen vor Stalin gründet sich bei Becher auf besseres Wissen und Einsicht. In Schach gehalten und übertroffen wird dieser Impuls jedoch durch die Angst, bei konsequentem Festhalten an dieser Einsicht psychisch, politisch, sozial oder gar physisch vernichtet zu werden. Der individuell-neurotische Konflikt wird so zwar nicht völlig verdrängt, aber doch immer wieder überlagert und überwältigt von der kollektiven Neurose. Das Ergebnis dieser Ambivalenz ist ein Gefühl der "Spaltung" seines Wesens in zwei sich fremd gegenüberstehende Teile.

Becher bekennt, daß er sich nicht einmal auf ein "aufgezwungenes" Schweigen berufen könne, denn er habe sich zu wenig ernsthaft bemüht, dieses Schweigen zu durchbrechen. "Erst als die Erde bebte und die Gräber sich öffneten, habe ich mich auch zu denen bekannt, die anklagend aus der Tiefe stiegen." Er schwieg somit nicht unter dem unmittelbaren Einfluß physischer Gewalt, sondern bereits im Vorfeld der psychischen Gewalt, wobei er als politischer Mensch freilich wußte, daß diese in letzter Instanz auf brutale Repression gegründet war.

Die erzwungene Tabuisierung bestimmter Themen, ihr Nichtvorhandensein im mündlichen oder schriftlichen Austausch mit anderen Menschen, minderte ihre grauenhafte Präsenz allmählich zur Scheinwirklichkeit, zu einem dumpfen Rest an Unbehagen:

" 'Darüber spricht man nicht', lautete eine unausgesprochene gesellschaftliche Regel, man könnte auch sagen, daß dies unsere gesellschaftliche Heuchelei war. Zunächst sprach man wohl noch darüber im eng vertrauten Kreise, dann nur noch mit dem oder jenem Menschen, der einem besonders nahestand, dann nur noch mit sich selbst, um späterhin auch diesen Monolog abzubrechen als unbehaglich, unheimlich."

Wie jede kollektive Neurose bewirkte der Stalinismus bei seinen Anhängern die Ausblendung zahlreicher Aspekte der Wirklichkeit, die seinen Dogmen und seiner Idolatrie widersprachen. Im Unterschied zur Masse der Gläubigen konnte Becher aber die Verbrechen Stalins, die ihm nur zu gut bekannt waren, nicht einfach als infame Verleumdungen des Klassenfeinds abtun. An die Stelle des Ignorierens trat deshalb ein psychisch entlastender Prozeß auf der intellektuellen Ebene, der aus der Verhaltenspsychologie als "kognitive Umstrukturierung" bekannt ist:

"Ich ahnte nicht nur, oh, ich wußte! Ich habe mir dieses Entsetzliche allerdings erklärt, und zwar damit, daß der Sozialismus in einem rückständigen Land zur Macht gekommen war und daß die Methoden, derer er sich zu seiner Machterhaltung bediente, ebenfalls in gezählten Fällen rückständige, wenn nicht barbarische waren. Dazu kam, daß dieser in einem rückständigen Lande zur Macht gelangte Sozialismus sich zu wehren hatte gegen die Nazibarbarei, welche der Menschheit in ihrer Verbindung von höchster technischer Perfektion und raffiniertestem, rücksichtslosestem Verbrechertum neue Rätsel zu lösen aufgab. Diese geschichtliche Situation also machte mir manches erklärlich, und manches schien mir auch dadurch begründet zu sein. [. ..] So nahm das Entsetzen gewissermaßen eine neutrale, abstrakte Gestalt an, ein Jenseits von Gut und Böse, etwas wie eine geschichtliche, unausweichbare Notwendigkeit, die unserem Willen entzogen war."

Der in diesem Selbstzeugnis beschriebene Konflikt Bechers war zunächst der Konflikt eines einsamen Wissenden, der seine intellektuelle und künstlerische Integrität zu wahren versuchte. Er wurde aber spätestens nach den Enthüllungen des 20. Parteitags und dem Rückschlag, der auf Chruschtschows Entstalinisierung folgte, zu einem allgemeinen Problem der Intelligenz in den sozialistischen Ländern. Eine entsprechende Verbreitung und Bedeutung erfuhren psychische Entlastungsversuche im Wege der kognitiven Umstrukturierung des "Phänomens" Stalin: Aus dem Henker einer ganzen Generation von Revolutionären, dem sogar mehr Mitglieder des letzten Politbüros der deutschen Kommunisten zum Opfer gefallen sind als den faschistischen Verfolgern, wurde ein objektiv notwendiger Finsterling der Geschichte.

Merleau-Ponty ästhetisiert die Moskauer Prozesse zum Historien-Gemälde von schauriger Größer und Erhabenheit

In der Sichtweise verwandt damit, nicht aber in der Motivation, ist die Interpretation der Moskauer Prozesse, die der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty in einer 1946 erschienenen Artikelserie der "Temps modernes" vertrat (328). Merleau-Ponty wendet sich darin gegen den Essay "Der Yogi und der Kommissar" (1942), in dem Arthur Koestler aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen mit dem stalinistischen Regime vor der völligen Aufgabe moralischer Grundsätze in der Politik warnt. Merleau-Ponty setzt Koestler eine im Grunde sozialdarwinistische und macchiavellistische Sichtweise entgegen, die auf die Verteidigung, ja Glorifizierung der Moskauer Prozesse hinausläuft. Philosophisch freilich - und hier tritt der Prozeß der kognitiven Umstrukturierung auf einer sehr abstrakten Ebene auf - schlüpft Merleau-Ponty ins Gewand des Marxismus, den er mit Anleihen bei Husserls Phänomenologie auf eine Verherrlichung des Setzens historischer Fakten reduziert und so seines humanistischen Gehalts beraubt. Dieser verqueren Philosophie zufolge haben den Gipfel marxistischen Denkens jene unglücklichen Opfer der Moskauer Prozesse erreicht, die sich aus eigener Überzeugung für objektiv schuldig im Sinne der Anklage erklärten:

"Staatsanwalt wie Angeklagte sprechen im Namen der universalen, wenngleich unvollendeten Geschichte, weil sie diese im marxistischen Absoluten der untrennbar subjektiv-objektiven Aktion zu erreichen glauben. Die Moskauer Prozesse sind nur unter Revolutionären verständlich, das heißt unter Menschen, die überzeugt sind, die Geschichte zu machen, und die infolgedessen die Gegenwart bereits als Vergangenheit und die Zögernden als Verräter betrachten."

Auf diese Weise ästhetisierte Merleau-Ponty den stalinistischen Terror. Er verlieh ihm eine scheintiefsinnige und scheinrevolutionäre Rechtfertigung, die noch einem niederträchtigen Subjekt wie dem Ankläger Wyschinski zur Gloriole eines objektiven Vollstreckers der Geschichte verhalf. Den perversen Konsens zwischen Ankläger und Angeklagten mag es teilweise gegeben haben. Er erinnert aber mehr an den Konsens zwischen Menschenopfer und Priester bei den Azteken als an das humanistische Wesen der Philosophie von Marx und Engels. Merleau-Pontys Verständnis des Stalinismus und der Moskauer Prozesse entsprang letztlich weniger dem Marxismus, auf den er sich vordergründig berief, als der Faszination, die jegliche Art von Macht - anstelle der stalinistischen könnte da genauso die faschistische treten - auf die zynisch-nihilistischen Strömungen der bürgerlichen Philosophie ausübt. Obwohl Merleau-Ponty selber weder Stalinist war noch als Beteiligter der Repression unter Rechtfertigungszwang stand, geriet ihm so das Blutbad Stalins zum existentialistischen Historien-Gemälde von schauriger Größe und Erhabenheit.

Pierre Hervé über die Psychologie des stalinistischen Funktionärs

Als Vertreter der stalinistischen Orthodoxie taucht in der Artikelserie Merleau-Pontys der französische KP-Politiker Pierre Hervé auf, der wenig später zu den Renegaten zählte. Auch Hervé gehört insoweit zu den interessanteren Fällen, als er tatsächlich über sein Innenleben und über die Vereinbarkeit von Stalinismus und marxistischer Theorie nachgedacht hat:

"Meine Interessen, meine Neigungen, meine Sorgen, meine Sehnsüchte und sogar meine Neugierde sind grundsätzlich schuldhaft, da sie die Quelle zahlloser Meinungsverschiedenheiten und Abweichungen bilden; ich befinde mich so ständig in einem Zustand der Sünde." So beschreibt Hervé die psychische Situation des Stalinisten, der es sich noch immer nicht abgewöhnen konnte, mitunter selbständig zu denken.

Demgegenüber steht in makelloser Reinheit der Funktionär, der nichts mehr weiter sein will als die Sprechhülse der jeweils gültigen Doktrin. Hervé ironisiert ihn in einer fiktiven Gestalt, der er den Namen Amadeus (= "liebe Gott!") verleiht:

"Amadeus beginnt seinen Satz mit dem Adverb 'politisch' oder 'objektiv' oder 'konkret', und das, was schwarz war, wird weiß. Amadeus liebt nicht den Singular. 'Ich befinde mich, sagt er, immer in Übereinstimmung mit der Partei.' Er sieht in dieser Übereinstimmung das unwiderlegbare Zeichen seiner politischen Einsicht. Er wundert sich: 'Unser Zentralorgan l'Humanité schreibt immer das, was ich denke.' Alles, was Amadeus denkt, sagt oder ausführt, geschieht stellvertretend, sogar ohne direkte Anweisung. Alles ist bei ihm wohlüberlegt, einschließlich der Kumpelhaftigkeit, vor allem der Kumpelhaftigkeit. Aber er vermag auch ernst zu sein, mit heiterer Würde daherzukommen und sich zu Worte melden wie ein Mensch, vor dessen Stimme alles schweigen muß. Wenn er in eine Diskussion eingreift, scheint er immer zu Kindern zu sprechen: Er leidet weder Widerrede noch Meinungsverschiedenheiten. [. . .] Er beschwört gerne den gesunden Menschenverstand, gebraucht stehende Redewendungen und scheint tiefgründige Wahrheiten auszusprechen, wenn er uns, mit nachdenklicher und wohlwollender Miene, anvertraut, daß es regnet oder daß zwei und zwei vier ergibt. [. . .] Wenn jemand die Kühnheit aufbrächte, ihm zu widersprechen, so gliche dies einem Majestätsverbrechen. Denn nicht Amadeus würde damit in Frage gestellt, sondern die Partei, der Sozialismus, die Zukunft der Menschheit. Man würde dann die finstere und gereizte Seite zu sehen bekommen, die Amadeus sonst verbirgt. Wehe dem, der nicht mit ihm übereinstimmt!"

Hervé wirft dann die Frage auf, wie sich die rückschrittliche Orthodoxie des Bürokraten mit dem dialektischen Materialismus vereinbaren lasse und gibt folgende Antwort:

"Dies geschieht, indem man mit den Widersprüchen so hantiert, daß sich die marxistische Philosophie unmerklich verändert. Man sagt nicht mehr: Was wahr ist, ist wirksam, sondern: was wirksam ist, ist wahr. Man sagt nicht mehr: Die Arbeiterklasse verteidigt die Wissenschaft, weil ihre Interessen der Wahrheit entsprechen, sondern: Dies ist die Wahrheit, weil die Arbeiterklasse sie verteidigt. Das Abgleiten zu einem klassenmäßigen Pragmatismus und Subjektivismus geht einher mit dem Bemühen, die Theorie zu simplifizieren, sie auf ein unerläßliches Minimum zu beschränken und alles daraus zu verbannen, was Probleme aufwirft oder gewisse geistige Ansprüche stellt. Dank der Widerspiegelungs-Theorie und einiger physiologischer Überlegungen wird der Materialismus zum 'Vulgärmaterialismus'. Von der Dialektik bleibt nichts übrig als die Möglichkeit, die Zusammenhanglosigkeit oder die brüsken, unvorhergesehenen Wechsel einer Politik zu rechtfertigen, über die woanders entschieden wird. Die Hoffnung auf eine gerechte Zukunft wird ersetzt durch den Kult der Macht, der vollendeten Tatsachen und der Überlegenheit des Staates. Neue Kallikles und Protagoras tauchen auf, die den Marxismus zur Rhetorik und Sophisterei herabwürdigen." (329)

Man braucht nicht alle Punkte dieser Kritik zu teilen, um sie im Prinzip für eine zutreffende Charakteristik der stalinistischen Psyche zu halten. Vor allem der Vorwurf Hervés, daß der Stalinismus seinem Wesen nach eher eine Neuauflage des Vulgärmaterialismus darstelle, trifft im Kern zu. Daß Hervé in diesem Zusammenhang die Theorie der Widerspiegelung anführt, läßt sich wohl mit der stalinistischen Deformierung auch dieses Bestandteils der marxistischen Theorie erklären, der indessen schon bei Engels auftaucht und gerade einer der Punkte ist, in dem sich der dialektische Materialismus von der vulgärmaterialistischen Versimpelung des Bewußtseins unterscheidet.

Der Ex-Stalinist Louis Althusser endet im Wahnsinn

Die konsequente Verdrängung aller psychologischen Aspekte läßt marxistische Dogmatiker um so hilfloser in der Psychologie versinken, wenn ihr vermeintlich wissenschaftliches Weltbild zusammengebrochen ist. Ein eindrucksvolles Beispiel bietet der französische Philosoph Louis Althusser, der sich vom gläubigen Katholiken zum gläubigen Stalinisten wandelte. Nach der offiziellen Verurteilung Stalins wurde Althusser von einer schweren Depression befallen, die ihn praktisch wie theoretisch in Berührung mit der Psychoanalyse brachte. Sein Therapeut war Jacques Lacan, der in Frankreich einen zweifelhaften Ruf als Hohepriester der psychoanalytischen Kultgemeinde genoß. Althusser sah in Lacan den "wissenschaftlichen" Interpreten der Theorien Freuds und entwickelte - nach zeitweilig liberaleren Ansätzen - einen "strukturalistischen" Neo-Dogmatismus, der mit der Rolle des Subjekts den humanistischen Inhalt der marxistischen Philosophie eliminierte. Diesem "Strukturalismus" zufolge wären die Menschen den gesellschaftlichen Verhältnissen etwa so ohnmächtig ausgeliefert wie es das Bewußtsein in der Vorstellung der Psychoanalytiker gegenüber dem "Unbewußten" ist. Allerdings wurden Althussers Positionen ab Mitte der siebziger Jahre immer widersprüchlicher. Er übte nun sogar scharfe Kritik an den autoritären Strukturen der FKP, die ihn bis dahin zu ihren Renommiermitgliedern zählte und deretwegen ihn der Bannstrahl der orthodox-kommunistischen Kritik lange verschont hatte. Nach den Worten eines Freundes bezeichnete er nun "mit denselben Worten und manchmal denselben Sätzen als weiß, was zuvor schwarz war; wie einer, der auf seinen eigenen unsichtbaren Spuren zum Gegenteil gelangen möchte" (339). So wurde er von der Dialektik, die er lange genug verkannt hatte, schließlich in der Widersprüchlichkeit des eigenen Werkes eingeholt. Der intellektuellen Selbstzerstörung folgte der emotionale Amoklauf: In einem Anfall geistiger Umnachtung erwürgte Althusser 1980 seine Frau Helène und wurde als unzurechnungsfähig in eine Klinik eingewiesen.

Infantile Abhängigkeit von der "Mutter der Massen"

Anschaulich kommt die intellektuelle und emotionale Verkrüppelung des Stalinisten in der Hymne auf "die Partei" zum Ausdruck, die Louis Fürnberg 1949 abgeliefert hat (330):

Ton-Wiedergabe (MP3)

Sie hat uns alles gegeben,
Sonne und Wind, und sie geizte nie,
und wie sie war, war das Leben,
und was wir sind, sind wir durch sie.
Sie hat uns niemals verlassen,
wenn die Welt fast erfror, war uns warm.
Uns führte die Mutter der Massen,
es trug uns ihr mächtiger Arm.

(Refrain:)

Die Partei, die Partei, die hat immer recht,
Genossen, es bleibt dabei!
Denn wer für das Recht kämpft, hat immer recht
gegen Lüge und Heuchelei!
Wer das Leben beleidigt, ist immer schlecht.
Wer die Menschheit verteidigt, hat immer recht,
denn aus Leninschen Geist wächst, von Stalin* geschweißt,
die Partei, die Partei, die Partei!

* später durch "Lenin" ersetzt

Die Partei ist hier eine allmächtige und allwissende, allgegenwärtige und immer rechthabende Autorität. Sie ist die "Mutter", die einem alles gegeben hat, die einen niemals verlassen hat und einen immer warm gehalten hat, wenn außen herum alles fror. Genaugenommen ist sie Mutter und Vater zugleich, und das nicht nur metaphorisch. Sie tritt auf als übermächtige Elterninstanz, zu der sich das einzelne Mitglied in einem infantilen Abhängigkeitsverhältnis befindet. Dieses Verhältnis ist so vor-bewußt, so existentiell, daß mit dem Verlust von Zuwendung und Schutz der "Mutter" zugleich der Lebensinhalt des Individuums erlischt. "Wie sie war, war das Leben" - ohne die Partei und die durch sie vorgegebene Sichtweise ist ein Leben schon gar nicht mehr vorstellbar. Sogar "Sonne und Wind" hat sie gegeben. "Was wir sind, sind wir durch sie" - ein durchaus wörtlich zu nehmender Hinweis auf die Sozialisation der Kader, die geistig wie materiell an der Nabelschnur des Apparats hängen, der sie erzeugt. Im Refrain wird dann die Anmaßung wiederholt, daß "die Partei" immer recht habe. Logisch folgt daraus, daß "die Partei" etwas anderes ist als die Gesamtheit ihrer Mitglieder und zu diesen in einem total entfremdeten Verhältnis stehen muß. Erst dann kommen einige moralische und rationale Begründungsversuche für das Rechthaben der Partei, die jedoch so allgemein und unverbindlich bleiben wie etwa das bürgerliche Bekenntnis zum "Guten, Wahren und Schönen". Auch die Nennung Lenins kann unter diesen Umständen nicht mehr als programmatischer Hinweis aufgefaßt werden. Sie hat die Funktion jener großformatigen Porträts, die als moderne Ikonen über den Häuptern der einfachen, zur Statisterie befohlenen Parteimitglieder schweben.

So paradox es klingt: Gerade dadurch, daß der Stalinismus den marxistischen Denkansatz in wesentlichen Teilen verzerrt, bestätigt er ihn zugleich. Das stalinistische System ist eine historische Illustration der marxistischen Grundthese, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt. Dieses Verhältnis von Sein und Bewußtsein gilt selbstverständlich auch für das Sein einer Partei oder eines Staates im Verhältnis zum Bewußtsein der Mitglieder oder Staatsbürger. Dieses Sein wird aber eher durch Politiker, durch Praktiker der Macht, als durch tiefschürfende Analysen der politisch-sozialen Wirklichkeit im Lichte philosophischer Maximen bestimmt. Im Extremfall kommt noch dem "Chefideologen" lediglich die Rolle des römischen Auguren zu, der aus dem Flug der Vögel gefälligst das herauszulesen hat, was die Cäsaren gerne hören möchten. Die stalinistische Verzerrung einer ursprünglich anti-metaphysischen Denkweise zur staatsbürgerlichen Religion beweist so letztlich nur, daß auch hinsichtlich des Verhältnisses von Politik und Ideologie der Hund mit dem Schwanz wedelt und nicht umgekehrt. Eine Gestalt wie Lenin, der gleichzeitig Denker und Politiker in höchster Vollendung war, gehört zu den Ausnahmen. Keiner seiner Nachfolger hat dieses Niveau wieder erreicht. Sie lagen teilweise sogar sehr tief darunter. Erst mit Juri Andropow und danach Michail Gorbatschow kamen an die Spitze des von Lenin gegründeten Sowjetstaates wieder Männer, die politische Durchsetzungsfähigkeit mit außergewöhnlichem intellektuellem Format verbanden.

Bestandteil von Gorbatschows Erneuerungspolitik ist erklärtermaßen auch ein Revirement der sozialistischen Ideologie, die erst jetzt, dreißig Jahre nach der Verurteilung des "Personenkults", von wesentlichen Verkrustungen befreit werden soll, die auf das Konto Stalins gehen. "Die theoretischen Vorstellungen vom Sozialismus blieben in vielerlei Hinsicht auf dem Niveau der 30er-40er Jahre, als die Gesellschaft gänzlich andere Aufgaben löste", rügte Gorbatschow Anfang 1987 vor dem Zentralkomitee der KPdSU. "Der sich entwickelnde Sozialismus, die Dialektik seiner Triebkräfte und Widersprüche sowie der reale Zustand der Gesellschaft wurden nicht zum Gegenstand tiefschürfender wissenschaftlicher Forschungen. Die Ursachen für diese Lage liegen weit zurück. Sie wurzeln noch in jener konkreten historischen Situation, in der aufgrund bekannter Umstände aus der Theorie und der Gesellschaftswissenschaft die lebendige Situation und schöpferisches Denken verschwanden und autoritäre Einschätzungen und Betrachtungen zu unantastbaren Wahrheiten wurden, die man nur noch kommentieren konnte." (331)

Die Erfindung "nichtantagonistischer Widersprüche" dient als Deckmantel für schlichtes Freund-Feind-Denken

Dieses "scholastische Theoretisieren" (Gorbatschow) gründete vor allem in der auf Stalin zurückgehenden Umformung der Dialektik. Aus einem Instrument der Erkenntnis wurde sie zur erkenntnishemmenden Ideologie. Die Dialektik war nicht mehr dem Erkenntnisprozeß immanent, wie sie es bei Marx, Engels und auch Lenin noch war, sondern diente als begrifflich erstarrtes Prokrustesbett, in das sich die Erkenntnis zu zwängen hatte.

An sich ist es legitim, die ihrem Wesen nach komplexe, unteilbare Dialektik unter verschiedenen Aspekten zu betrachten. Schon Engels tat dies, als er vom Umschlagen der Quantität in Qualität, von der Durchdringung der Gegensätze und der Negation der Negation sprach. Diese "Gesetze" der Dialektik waren jedoch nur Annäherungs- und Anwendungsversuche ein und desselben Grundgedankens der Einheit und des Kampfes der Gegensätze. Dagegen dienten unter Stalin solche "Gesetze" als dogmatische Fuchtel, um beispielsweise bestimmte Probleme als "Haupt-" und andere als "Nebenwidersprüche" deklarieren zu können. Die Dialektik wurde zur Pseudo-Dialektik, zu einer Art Theologie, besser gesagt Teleologie, um die Realität im Sinne vorgefaßter Meinungen interpretieren zu können. Noch der Vorwurf des "Dogmatismus" diente in diesem System lediglich dazu, eine Kritik an den oft willkürlichen und sprunghaften Entscheidungen der stalinistischen Parteiführung verhindern und gegebenenfalls als "dogmatisch" verdammen zu können.

Kodifiziert wurde diese Verdrehung der Dialektik in der auf Stalin zurückgehenden Unterscheidung zwischen "antagonistischen" und "nichtantagonistischen" Widersprüchen, die praktisch auf nichts weniger als auf die Beseitigung der Dialektik hinauslief. Es wurde unterstellt, daß kapitalistische und sozialistische Gesellschaften einer jeweils eigenen Dialektik unterliegen. Die sozialen Widersprüche in der kapitalistischen Welt sind demnach unversöhnlich, nur auf revolutionäre Weise zu lösen. Die der sozialistischen Welt sind dagegen evolutionärer, friedlicher Natur. In den sozialistischen Staaten werden angeblich "die von der alten, antagonistischen Gesellschaft ererbten und in Jahrhunderten angehäuften Widersprüche in der Form gelöst, daß man die Gegensätze allmählich in Unterschiede verwandelt und dann alle Überbleibsel der alten Gegensätzlichkeit beseitigt" (332).

In den Lehrbüchern wurde diese Vorstellung von der grundsätzlich harmonischen, heilen Welt des Sozialismus zwar mit vielen intellektuellen Kautelen und salvatorischen Klauseln versehen. Es war auch weiterhin von "Widersprüchen" die Rede. Praktisch bedeutete dies aber: "Die soziale Struktur der Gesellschaft wurde schematisch als frei von Widersprüchen, als frei von Dynamik in den vielfältigen Interessen ihrer verschiedenen Schichten und Gruppen dargestellt." (333)

Bei Marx und Engels gibt es eine solche systematische Unterscheidung nicht. Sie läßt sich allerdings aus ihrer Erwartung ableiten, daß nach Aufhebung des Privateigentums der gesellschaftliche Antagonismus zwischen herrschenden und unterdrückten Klassen verschwinden werde. "Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses", schreibt Marx im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie. "Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab." (334) - Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Erwartung utopisch ist. Mit Sicherheit hat Marx dabei nicht an die Abschaffung des Privateigentums unter den konkreten Bedingungen der russischen Revolution und ihrer Folgen gedacht. Er ging vielmehr von der allgemeinen Emanzipation der Menschheit gegenüber dem Privateigentum aus.

Auch Lenin hatte in der kurzen Zeit, in der er an der Spitze des neuen Sowjetstaates stand, ganz andere Probleme, als ihm eine harmonische Entwicklung zu attestieren. Die parteioffizielle "Geschichte der marxistischen Dialektik" (russische Ausgabe von 1973) tut sich deshalb äußerst schwer damit, Lenin als den angeblichen Urheber der systematischen Unterscheidung zwischen "antagonistischen" und "nichtantagonistischen" Widersprüchen erscheinen zu lassen. (335) Tatsächlich taucht dieses Dogma erst in der stalinistischen Ära auf. Es wurde mithin von einem Mann entwickelt und verbreitet, der es wahrlich nötig hatte, sein terroristisches Regime, dem unter zahllosen Menschen auch viele Marxisten und engste Kampfgefährten Lenins zum Opfer fielen, als die heile Welt des Sozialismus erscheinen zu lassen.

Das Dogma hat seinen Urheber und den ersten Versuch der Entstalinisierung unter Chruschtschow überlebt. Das war auch der Grund, weshalb sich 1957 der DDR-Kulturminister Johannes R. Becher veranlaßt sah, seine Zweifel an diesem Dogma samt anderen ketzerischen Gedanken der Selbstzensur zu opfern. Becher hatte es als Bestandteil seines Grundirrtums erkannt, "daß der Sozialismus oder auch der Kommunismus Veränderungen revolutionärer Art von vornherein ausschließe und Meinungsverschiedenheiten nur in 'akademischer Form' ausgetragen würden". In Wirklichkeit - so dämmerte es ihm - könne sich aber "auch in unserem neuen Gesellschaftssystem die Möglichkeit einer Entartung ergeben und die Notwendigkeit, diese zu beseitigen, gegebenenfalls unter Anwendung von Druckmitteln". (336)

Es oblag der stalinistischen Scholastik, von Fall zu Fall den "antagonistischen" oder "nichtantagonistischen" Charakter eines Widerspruchs festzustellen. In der Praxis wurde damit zwischen Feinden und bloß Irrenden unterschieden. Zugleich wurde nicht selten über deren Tod oder Leben entschieden. Ganz unmißverständlich bringt dies Mao Tse-tung zum Ausdruck, wenn er - in diesem Fall gelehriger Schüler Stalins - feststellt: "Die Widersprüche zwischen uns und dem Feind sind antagonistische Widersprüche." (337) An anderer Stelle wird Mao noch deutlicher: ". . . wenn die Genossen, die Fehler begangen haben, diese zu korrigieren verstehen, werden sich diese Widersprüche nicht zu antagonistischen entwickeln. [...] Wenn jedoch jene, die Fehler begangen haben, auf diesen beharren und sie vertiefen, dann besteht die Möglichkeit, daß sich diese Widersprüche zu antagonistischen entwickeln." (338)

Mit anderen Worten: Die stalinistische Unterscheidung zwischen antagonistischen und nichtantagonistischen Widersprüchen ist rein utilitaristisch. Sie entspringt nicht einer Weiterentwicklung der marxistischen Dialektik, sondern untergräbt diese. Sie ist schlichtes Freund-Feind-Denken, das sich einen philosophischen Anstrich zu geben versucht.

Der materialistischen Dialektik sind solche scholastischen Konstruktionen ursprünglich fremd. Der äußerste Rahmen, den sie kennt, ist die Natur. Er ist also globaler, wenn nicht gar kosmischer Art. Im Rahmen dieser Ganzheit vollziehen sich die Widersprüche der irdischen Natur, von denen die der menschlichen Kultur einen Teilaspekt und die der jeweiligen Gesellschaftsformationen weitere, nachgeordnete Teilaspekte darstellen. Die Behauptung, eine bestimmte Gesellschaftsformation sei in ihrem Außenverhältnis zu anderen Gesellschaftsformationen antagonistisch und zugleich in ihren inneren Verhältnissen nichtantagonistisch, ist unter diesem Blickwinkel ein Widerspruch in sich. Sie unterstellt, daß der dialektische Prozeß bereits abgeschlossen sei, daß die real-sozialistische Antithese zur kapitalistischen Gesellschaft bereits die wie immer geartete Synthese darstelle.

In Wirklichkeit müssen sich auf dem Wege zur Synthese beide Gesellschaften verändern - nicht im Sinne der "Konvergenztheorie", wonach sich die Lager paritätisch annähern und irgendwann im Unendlichen verschmelzen, sondern im Sinne der Aufhebung des Widerspruchs zwischen den antagonistischen Gesellschaftsformationen samt ihrer internen - durchaus antagonistischen - Widersprüche. Daß in diesem Prozeß die sozialistische Gesellschaft die historische Antithese und somit die zukunftsweisendere Seite darstellt, dürfte für Marxisten freilich evident sein.
 

Der Absatz über Louis Althusser wurde von anderer Stelle des Buches (S. 47) in den jetzigen Kontext eingefügt