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Gothic Revival |
Ähnlichen Charakter wie die englischen shams und follies hatten in Deutschland der Wiederaufbau von Burgruinen am Rhein, die Errichtung der Burg Hohenzollern, des "Märchenschlosses" Neuschwanstein oder der Hohkönigsburg im Elsaß. In allen diesen Fällen verlor die Architektur ihre gesellschaftliche Verbindlichkeit. Sie wurde Vehikel eines persönlichen Spleens, der freilich seinerseits gesellschaftlich bedingt und insoweit doch repräsentativ für das herrschende Bewußtsein war. Die Vorformen finden sich bereits in den Parkanlagen des 18. Jahrhunderts mit ihrer Fülle pittoresker, exotischer, nostalgischer, rein auf die sensation zielenden Bauten.
Die Burgenromantik kam mit einiger Verspätung aus England, wo das gothic revival gegen Ende des 18. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreicht hatte. 1822 erkundigte sich der preußische Prinz Friedrich Wilhelm Ludwig über Ankaufsmöglichkeiten von Burgruinen am Rhein. Unter Mitwirkung Schinkels wurde zunächst der Plan für den Wiederaufbau von Rheinstein entworfen und von 1825 bis 1829 verwirklicht. Das Ergebnis hatte mit einem mittelalterlichen Bau ungefähr soviel Ähnlichkeit wie bei Horace Walpoles Villa Strawberry Hill in Twickenham. Es war ein romantischer Traum mit Zinnen, Söllern, Toren, Wehrgängen, Zugbrücke usw. Über dem Tor prangte der Wahlspruch des preußischen Herrscherhauses: Gott mit uns. Bedeutende Besucher wurden mit Böllerschüssen begrüßt. Nahe der Burg fanden Ritterspiele statt. Bei festlichen Anlässen wurde das Rheintal illuminiert. 1
Die neuerbaute Burg Rheinstein war als Sommerfrische und Jagdaufenthalt geplant. Wenn die Burg nicht benutzt wurde, stand sie zur Besichtigung offen. In der Eingangshalle lag ein Gästebuch aus und wurden Lithographien für wohltätige Zwecke verkauft. Auch darin glich die Burg "Strawberry Hill", das besichtigt werden konnte und von vornherein als stilbildendes Muster gedacht war. Als Carl Gustav Carus 1835 Rheinstein besuchte, sah er jede Menge von alten Waffen und Harnischen, Geschütze, Pickelhaufen, Streitäxte und Morgensterne. Der Führer deutete auf einen pseudo-altertümlichen Knappenrock und sagte: Wenn der Prinz da ist, gehen wir alle im Mittelalter.
Die vier Söhne des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. bekundeten einen ähnlichen Geschmack wie ihr Cousin. Dies galt besonders für Prinz Friedrich Wilhelm, den Thronfolger. Schon früh berauschte er sich an einer immensen Flut romantischer Lektüre, zu der namentlich der Ossian und die Romane Fouqués gehörten. Seine erste Begegnung mit dem Rhein im Jahre 1815 geriet ihm zum sakralen Erlebnis: Ich tauchte meine Rechte in den Rhein und bekreuzigte mich. Nachdem ihm die Stadt Koblenz bereits 1823 untertänigst die Ruine Stolzenfels angetragen hatte, nutzte Friedrich Wilhelm die Gelegenheit, seinem Cousin endlich nachzueifern und die Burg ab 1836 im Stile eines Märchenschlosses wieder aufbauen zu lassen. Die Einweihungsfeier am 14. September 1842 wurde zur Freiluft-Oper: Ein Fackelzug der Bauleute, alle in mittelalterliche Tracht gekleidet, füllte unter Musikbegleitung allmählich den Burghof und verteilte sich malerisch über die verschiedenen Treppen. Ein Chor sang das Lied der Bauleute vom Stolzenfels. Die benachbarte Festung Ehrenbreitstein wurde bengalisch beleuchtet, ebenso die Marksburg und Ruine Lahneck.
Bei einer Rheinfahrt anläßlich der Einweihung von Stolzenfels faßte Friedrich Wilhelm, der seit 1840 als König amtierte, mit seinen Brüdern Wilhelm, Carl und Albrecht den Beschluß, auch die bereits 1834 angekaufte Ruine Sooneck gemeinsam wiederaufbauen zu lassen. Wilhelm neigte allerdings mehr zum modisch-englischen Geschmack, den er 1835 in Schloß Babelsberg bei Berlin verwirklichte. Albrecht übertrug seinen Anteil an Sooneck schon 1850 auf den König, um sich ganz dem Bau seines von Schinkel entworfenen Schlosses Kamenz zu widmen. Der Aufbau von Sooneck zog sich dann von 1843 bis in die sechziger Jahre hin. Die erste Bauphase wurde durch die Revolution von 1848/49 beendet. Nach vierjähriger Unterbrechung kamen die Bauarbeiten nur sehr schleppend voran, da sich Friedrich Wilhelm seit 1853 verstärkt dem Ausbau von Hohenzollern widmete und ab 1856 infolge einer Serie von Schlaganfällen zunehmend unzurechnungsfähig wurde. Im Oktober 1858 mußte sein Bruder Wilhelm - der nachmalige Kaiser Wilhelm I. - offiziell die Regierungsgeschäfte übernehmen.
Friedrich Wilhelm IV. war aber nicht "geisteskrank" im psychiatrischen Sinne, wie es oft dargestellt wird. 2 Es wäre deshalb irreführend, seine frühen mystischen Neigungen, sein Verschlingen romantischer Literatur oder die Begeisterung für mittelalterlichen Mummenschanz in Zusammenhang mit seiner späteren "geistigen Umnachtung" zu bringen.
Gleiches gilt für den bayerischen König Ludwig II., der offiziell für geisteskrank erklärt wurde, nachdem er durch seine pompösen Nostalgie-Schlösser die Staatsfinanzen ruiniert hatte. Ludwig II. war vermutlich ein hochgradiger Neurotiker im klinischen Sinn, zeigte aber keine nachweislichen Symptome für psychiatrisch relevanten Realitätsverlust. 3 Seine angebliche Geisteskrankheit wurde durch den Arzt Prof. Gudden aufgrund zweifelhafter Zeugenaussagen per Ferndiagnose festgestellt. Persönlich bekam Gudden den König erstmals in der Nacht vom 11. auf den 12. November 1866 zu Gesicht, in der beide unter bis heute ungeklärten Umständen den Tod im Starnberger See fanden.
Bei Friedrich Wilhelm waren der persönlichen Nostalgie auch deutlich Züge von Staatsräson beigemischt. Seine Vorliebe für frühchristlich-mittelalterliche Kunst war zugleich Transportmittel zur Veranschaulichung eines staatspolitischen Modells, das der König und sein konservativer Kreis realisieren wollte. In diesem staatstragenden Modell lauerte - anders als bei dem bayerischen Exzentriker Ludwig II. - bereits der Machtanspruch auf die Führungsrolle in Deutschland. Als Friedrich Wilhelm den Dom am Berliner Lustgarten in einem gigantesken, frühchristlich-"byzantinischen Stil" errichten ließ, baute er ihn erklärtermaßen nicht für die Berliner Domgemeinde, sondern als Primas des Protestantismus. 4 Er antizipierte so die kleindeutsche Reichsgründung unter preußischer Vorherrschaft und Ausschluß des katholischen Österreich. Ludwig II. wußte dagegen mit den zwei Millionen Mark Bestechungsgeld aus dem Welfenschatz, die er von Bismarck für seine Zustimmung zur Reichsgründung bekam, nichts besseres anzufangen, als sie in seinen privaten Bau-Spleen zu stecken.
Namentlich in den Rheinlanden, die nach dem Wiener Kongreß unter preußische Herrschaft geraten waren, regte sich damals vormärzliche Unzufriedenheit wegen des Verlusts der Freiheiten der "Franzosenzeit". Der Wiederaufbau von Stolzenfels war deshalb zugleich ein Akt der Restauration im politischen Sinne. Es entsprach sicher völlig den Absichten Friedrich Wilhelms, wenn ihm der örtliche Bauleiter von Wussow in einem Brief vom 10. April 1836 schrieb:
Und wahrlich gehört von vielem Anderen auch dieses dazu, damit der noch wirrende Sinn der Bewohner der Rheinlande in der ebenso allgemeinen als vagen Vorstellung eines höheren historischen Lebens einen festen Erhalt finde, um sich in persönlicher Liebe und Verehrung, Anhänglichkeit und Hingebung an S. M. dem Könige, an E. K. H. und an das Königliche Haus nach und nach so verkörpern, daß solche den wahren Prüfstein treuer Diener und Untertanen bestehen können. 5
Äußerst sinnfällig machten den restaurativen Charakter der Burgenbauten ihre zum Teil tatsächlich fortifikatorischen Bauelemente. Diese traten allerdings erst nach 1848/49 auf. Das Mauerwerk von Rheinstein sollte vor allem verfallen-romantisch aussehen. Dagegen diente die zweifach von Ringmauern umschlossene Burg Sooneck mit ihren Mauern, Rampen, Terrassen und kompletten Wegeverbindungen offenbar auch bestimmten, wenngleich bescheidenen Verteidigungszwecken. Die Burg Hohenzollern wurde 1822/23 zunächst als malerische Teil-Ruine wiederaufgebaut. Noch während die badisch-pfälzische Revolutionsarmee verzweifelten Widerstand gegen die preußische Übermacht leistete und sich schließlich in der Festung Rastatt verschanzte, wurde dann im Juni 1849 der Beschluß gefaßt, die Burg Hohenzollern als Festung weiterzubauen. Entsprechend kam die Bausumme von 283 500 Talern zu 51,9 Prozent aus der Kasse des preußischen Kriegsministeriums. Ebenfalls wegen des Festungscharakters wurden die Bauakten im Potsdamer Heeresarchiv verwahrt, wo sie 1945 verbrannten. 6
Freilich blieben die fortifikatorischen Elemente bloße Zutat. Sie waren allenfalls zur vorübergehenden Abwehr revolutionären "Pöbels" geeignet. Dem Stand der Militärtechnik, wie ihn die Festungen Ehrenbreitstein oder Rastatt darstellten, genügten sie keinesfalls. Die Burgen waren so in erster Linie ideologische Bollwerke der Restauration.
Während die englischen "shams" und "follies" von der fortgeschrittenen Verdinglichung des Bewußtseins der englischen Gesellschaft zeugten, widerspiegelte sich in diesen Burgenbauten eher die relative Zurückgebliebenheit Deutschlands, das mit einem halben Jahrhundert Verspätung das englische gothic revival entdeckte und nachzuahmen versuchte. Während sich der englische König Georg IV. in durchaus bürgerlicher Manier am Exotisch-Pittoresken seines Royal Pavilion in Brighton ergötzt hatte, flüchtete nun der bayerische König Ludwig II. aus einer ihm verhaßten bürgerlichen Gegenwart in die Phantasmagorien des Mittelalters und eines noch unerschütterten ancien régime. Im Arbeitszimmer seiner Münchener Residenz stand eine Büste Ludwigs XIV., der ihm Inbegriff der Poesie des Königtums war. 1866 richtete der bayerische Souverän gar an die römisch-katholische Kurie das Ansinnen, ihn durch Einführung eines für ihn bestimmten Gebetes in die tägliche Messe mit den Kaisern in Wien und Paris auf eine Stufe zu stellen. - Aber gerade mit solchen Träumen wurde er ein Opfer jener bürgerlichen Geistesverfassung, der er zu entrinnen vermeinte. Richard Wagner hat diese Träume zeitgerecht auf der Opernbühne inszeniert. Sein Gönner Ludwig II. übertrug sie ins Maßlose der Architektur, als wollte er wenigstens auf diese Weise ein letztes Mal die Macht eines absoluten Monarchen demonstrieren, der bis zum Ruin über sein Land gebieten kann. 7
Die Nostalgie der preußischen Herrscher verdankte sich ebenfalls jener durchaus bürgerlichen Ideologie, die Ludwig II. aus Walter Scotts Ivanhoe, Gustav Freytags Bilder aus deutscher Vergangenheit oder zahlreichen Bildbänden schöpfte. Sie trug aber hier zugleich Züge der Staatsräson. Sie wollte, durch das persönliche Beispiel der Herrschenden, ein ideologisches Paradigma setzen. Dies ist ihr zum großen Teil auch gelungen.