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Der arme Chatterton (Büste) |
Die Geschichte des dichtenden Knaben Chatterton und wie er die Bürger der Stadt Bristol narrte, ist nicht bloß eine skurrile Begebenheit des 18. Jahrhunderts. Sie enthält und enthüllt "in nuce" bereits Gesetze des modernen Zeitgeistes und seiner Vermarktung. Sie ist ein frühes Paradigma für die dubiosen Seiten des Literatur- und Wissenschaftsbetriebs. Sie macht verständlich, weshalb ein Zeitgenosse, auf den wir gleich noch zu sprechen kommen, nämlich der Schotte Macpherson, die grandioseste Literaturfälschung des Jahrhunderts lancieren konnte.
Angesichts der Knausrigkeit seiner Gönner in Bristol richtet Chatterton den Blick erwartungsvoll auf einen Mann, der weithin als feinsinniger Freund der Kunst und Kenner des Altertums bekannt ist, nämlich den bereits erwähnten Horace Walpole. Möglicherweise gibt er sich dabei der Hoffnung hin, daß Walpole als Experte die vorgelegten Texte ebenso als Fälschungen erkennen wie auf das dichterische Genie des wahren Urhebers aufmerksam werden würde. Jedenfalls schickt er Walpole am 25. März 1769 eine Auswahl seiner Werke. Dieser erkennt die Fälschungen aber keineswegs. Er dankt vielmehr postwendend schon am 28. März und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, daß Chatterton es ihm gestatten werde, künftig seinen sachverständigen Rat einzuholen. Chatterton schickt daraufhin sofort eine zweite Auswahl. Unter anderen enthält sie eine Geschichte der Malerei in England aus der Feder des fiktiven Priesters Thomas Rowley. Auch jetzt wird der Kunstkenner Walpole, dessen besondere Passion die englische Malerei ist, nicht stutzig. Er antwortet vielmehr wieder sofort und erbittet sich nähere Angaben über die Werke des Thomas Rowley.
Nun macht der sechzehnjährige Knabe einen verhängnisvollen Fehler: Überwältigt von soviel freundlichem Entgegenkommen schüttet er Walpole sein Herz aus. Er schreibt ihm, daß er der Sohn einer armen Witwe sei und bei einem Advokaten in die Lehre gehe. Zugleich bittet er Walpole, ihm bei der Entfaltung seines Talents und Überwindung seiner mißlichen Existenz behilflich zu sein. Für Walpole ist damit klar, daß er es nicht, wie angenommen, mit einem Gelehrten, sondern mit einem Minderjährigen aus ärmlichen Verhältnissen zu tun hat. Er übergibt das übersandte Material den Dichtern Gray und Mason, seinen Freunden, welche die angeblichen alten Gedichte auf Anhieb für gefälscht erklären. Walpole teilt Chatterton dieses Ergebnis mit und gibt ihm den Rat, sich erst einmal ein Vermögen zu erwerben, um seinen künstlerischen Neigungen nachgehen zu können.
Chatterton antwortet auf diesen niederschmetternden Bescheid zunächst in ruhigem, bescheidenem Ton und gibt sich als bloßer Übermittler der Falsifikate aus. Zwischen den Zeilen klingt allerdings der bittere Vorwurf, daß Walpole den poetischen Wert des Materials nicht erkannt habe. Es klingt wie ein Hilferuf, wenn er damit droht, die Texte zu vernichten: Obzwar ich erst sechszehn Jahre alt bin, habe ich doch lange genug gelebt, um zu erkennen, daß Armut die Gefährtin der Literatur ist. Ich danke Ihnen, geehrter Herr, für Ihren Rat und will noch ein wenig darüber hinausgehen, indem ich meinen ganzen unnützen literarischen Kram vernichte und meine Feder hinfort ausschließlich in juristischen Dingen gebrauche.
Gemeinsam mit seinem Gönner Barrett, der weiterhin von der Echtheit der Schriften überzeugt ist, entwirft Chatterton dann einen weiteren Brief an Walpole, in dem er die Rückgabe der Rowley-Gedichte verlangt: Mr. Barrett, ein tüchtiger Altertumsforscher, der jetzt die Geschichte der Stadt Bristol schreibt, hat sie von mir verlangt, und es täte mir leid, ihn oder die Welt dieser wertvollen Kuriosität zu berauben, in der er ein authentisches Denkmal des Altertums erkannt hat.
Der düpierte Walpole, offenbar verärgert, von einem armen Jungen aus Bristol derart hinters Licht geführt worden zu sein, antwortet jedoch nicht. Chatterton gibt daraufhin seinem Unwillen und seiner Gekränktheit unverhüllten Ausdruck. Am 4. August packt Walpole alles überlassene Material zusammen und schickt es Chatterton kommentarlos zurück.
Walpole ahnt nicht, daß er nur zehn Jahre später sein Verhalten zu rechtfertigen haben wird - gegenüber einer literarischen Öffentlichkeit, die Thomas Chattertons phantastische Schriften inzwischen tatsächlich als Erzeugnisse eine einmaligen Genius erkannt hat. Walpole muß sich sogar den Vorwurf gefallen lassen, den genialen Knaben durch seine Abweisung in den Tod getrieben zu haben.
Chatterton überspielt die erlittene Kränkung zunächst. In einem Brief an seinen Vetter Stephens in Salisbury prahlt er noch immer mit seiner Beziehung zu Walpole und tut so, als hätten sich zwei Fachleute entzweit, weil sie sich wegen des mutmaßlichen Alters eines Manuskriptes nicht einigen konnten: Vielleicht fechten wir es öffentlich in einer Zeitschrift aus, obzwar ich nicht weiß, wer den Angriff eröffnen wird.
Insgeheim gibt er jedoch seiner wahren Stimmung in einem Schmähgedicht An Horace Walpole Ausdruck:
Walpole! Nie glaubt' ein Herz ich zu erspähen,
So niedrig, wie ich deines nun gesehen!
Du, den nur Glück und Wohlsein stets umgaben,
Verschmähst den freund- und vaterlosen Knaben,
Der zu dir rief. Betrüger nennst du mich?
Wer schrieb "Otranto"? Doch ich will nicht schelten,
Verachtung mit Verachtung nur vergelten.
Fahr fort, Kapitel wortereich zu dehnen,
Geschwätzige Briefe schreibe einer Schönen,
Die Hohen preise, schmeichle nur voll List,
Wo Freundschaft nützlicher als Feindschaft ist,
Verschmäh' den unbedachten Toren, der -
- - - - - - - - - - - - - - - - - -
Wär' ich nur reich, Geringen nicht entstammt,
Du hättest nicht gewagt, mich so zu schmähen!
Allein ich werde neben Rowley stehen
Und leben, wenn du tot bist und verdammt!
Diese Verse klingen wie eine Verfluchung Walpoles. Chatterton verflucht zugleich sein eigenes Schicksal, das ihn nicht mit "Glück und Wohlsein stets umgeben" hat. Er erkennt, daß auch im Parnaß, den er für eine klassenlose Gesellschaft gleichgesinnter, erhabener Geister gehalten hat, durchaus soziale Unterschiede herrschen. Und in einer Trotzreaktion beschließt er, sich erst recht zu Rowley zu bekennen, diesem fiktiven Priester aus dem 15. Jahrhundert, in dessen Texte er all das hineingelegt hat, was der Gegenwart abgeht.
Chatterton verbringt nach dieser Enttäuschung noch ein Jahr in Bristol. Die Aussicht, noch weitere vier Jahre in der Lehre bei dem Advokaten aushalten zu müssen, wird ihm aber immer mehr zur unerträglichen Belastung. Da er bei Bruch des Lehrvertrags straffällig würde, greift er zu einem Trick: Er spielt dem Advokaten ein fingiertes Testament in die Hände und wird als potentieller Selbstmörder sofort entlassen.
Am 24. April 1770 schwingt sich Chatterton mit fünf Pfund und einem Bündel Manuskripte in der Tasche auf die Postkutsche nach London. Der 17jährige ist mit verzweifelter Inbrunst entschlossen und überzeugt, in der Hauptstadt endlich sein Glück zu machen; wenn nicht mit Rowley-Gedichten, so doch mit Gelegenheitsarbeiten. Er glaubt inzwischen zu wissen, nach welchen Gesetzen Literatur Erfolg hat. In einem Brief an seine Mutter vom 6. Mai 1770 schreibt er: Kein Schriftsteller kann arm sein, der die Kunst des Buchhändlers versteht. Ohne diese notwendige Kenntnis kann das größte Genie verhungern, und mit ihr lebt der größte Dummkopf in Pracht. In diese Kenntnis bin ich ziemlich tief eingedrungen.
Die Blasiertheit des 17jährigen ist jedoch mehr Attitüde. Er pflegt einen demonstrativen Zynismus, gegen den sein Herz opponiert. Wenn er etwa in dem Gedicht Die Kunst der Reklame ("The Art of Puffing") die jungen Autoren lehrt, den Gewinn als das höchste Ideal zu betrachten, so ist dies weniger eine Anleitung zum Opportunismus als ein Protest gegen das herrschende gesellschaftliche System. Auch für sich selbst vermag er aus der Einsicht, daß geistige Produkte nur als Ware zu reüssieren vermögen, wenig praktischen Nutzen zu ziehen. Chatterton gleicht eher dem Julien Sorel aus Stendhals "Rot und Schwarz", der trotz aller Kompromisse die "rote" Seite seines Wesens nicht verleugnen kann. So ist es wohl auch kein Zufall, daß er sich auf seiten der Whigs in die tagespolitische Auseinandersetzung stürzt. Von den zahlreichen Manuskripten, die er in die Redaktionen trägt, bleiben jedoch die meisten liegen. Zwei liberale Redakteure, auf die er gesetzt hat, werden in Haft genommen. Seine Geldnöte werden immer schlimmer. Er nagt am Hungertuch, während er in seinen Briefen an die Mutter den Eindruck erweckt, er befände sich unablässig auf dem Weg nach oben. Da winkt ihm plötzlich doch die Chance, als Laureat des Londoner Bürgermeisters William Beckford in die Reihe der anerkannten Schriftsteller vorzustoßen. Aber Beckford stirbt überraschend, ehe der Durchbruch erfolgen kann. Vier Wochen später, am 24. August 1770, vergiftet sich Chatterton mit Arsenik, stirbt einen qualvollen Tod und wird in einem Armengrab beigesetzt.