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Gothic Revival |
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Royal Pavilion in Brighton |
"Ägyptisches Haus" in Penzance |
Das Abgeschmackte, das Hegel am englischen Landschaftsgarten störte, war durchaus noch steigerungsfähig. Es fand seinen extremen Ausdruck in den zahlreichen follies, shams und eyecatchers, die sich entsprechend betuchte Engländer bis ins 19. Jahrhundert errichten ließen. Dabei handelte es sich um rein dekorative Bauten, die als Lieferanten psychischer Stimuli dienen sollten. Entscheidend war dabei weniger die Schönheit des Bauwerks als seine Fähigkeit, auf assoziativem Wege ein nostalgisches Erlebnis zu vermitteln, das entweder in die Vergangenheit oder in exotische Gefilde entführte. Zum Beispiel ließ sich der Postmeister von Bath 1762 in Sichtweite seines Hauses auf einem Hügel ein sham castle errichten, das eine mittelalterliche Ritterburg vortäuschte, in Wirklichkeit aber lediglich aus einer gemauerten Kulisse bestand. Andere "shams" gaukelten verfallene Kirchen und sonstige romantische Bauwerke vor. Den Charakter des Unechten, Vorgetäuschten hatten auch solche "follies", die allen drei Dimensionen genügten, wie jener riesige Palast im "gotischen" Stil, den sich William Beckford von 1796 bis 1812 mit Fonthill Abbey errichten ließ. Es ist bezeichnend, daß Beckford für die Verwirklichung dieser maßlosen, alle gewohnten Dimensionen sprengenden Phantasmagorie das palladianische, maßvolle Schloß seines Vaters abreißen ließ. Nicht minder symbolisch war die mangelhafte Statik dieses Architekturtheaters, die schon nach wenigen Jahren den riesigen Turm zusammenstürzen und den Palast unter sich begraben ließ.
Zur grandiosesten aller "follies" geriet der Palast, den der englische Thronfolger und König Georg IV. zwischen 1786 und 1823 in Brighton errichten ließ. Die Geschichte dieses Palastes zeigt mustergültig, wie die ursprüngliche Sehnsucht nach Arkadien vom Bedürfnis nach immer stärkeren Reizen abgelöst wurde, wie eine noch klassizistisch geprägte Empfindsamkeit der fortschreitenden Verdinglichung des Bewußtseins zum Opfer fiel und wie im Zeichen der französischen Revolution die Nostalgie eine reaktionäre Färbung annahm.
Die Stelle des späteren Royal Pavilion war ursprünglich - sinnigerweise - der Schauplatz eines königlichen Schäferspiels: Der Kronprinz, der 1783 zum ersten Mal nach Brighton kam, hatte dort eine junge Witwe namens Maria Fitzherbert kennen und lieben gelernt. Maria war allerdings so sittsam, daß sie die Vereinigung nur im Wege der Ehe gewähren wollte. Außerdem war sie katholisch, was eine Heirat mit dem Thronfolger von vornherein ausschloß. Schäfer und Schäferin übersprangen diese Hürden jedoch leichtfüßig, indem sie 1785 heimlich heirateten. Um seiner Geliebten möglichst nahe zu sein, mietete der Thronfolger ein Bauernhaus am Strand des Fischerstädtchens. Insoweit entsprachen die Akteure und die Staffage vollkommen dem Zeitgeschmack am pastoralen, naturverbundenen Leben. Von den Schäferspielen, mit denen sich zur selben Zeit Marie-Antoinette als Gemahlin Ludwigs XVI. im Park von Versailles amüsierte, unterschied sich die Inszenierung in Brighton lediglich durch die perfektere Illusion, die ja auch der englische Landschaftsgarten dem Arkadien auf der Leinwand voraus hatte.
Schon bald aber fand der Prinz an der ländlichen Idylle keinen Geschmack mehr. Im Jahr 1787 beauftragte er den Architekten Henry Hollc?and mit dem Umbau und der Erweiterung des Hauses. Das Ergebnis war ein symmetrischer Marine Pavilion von vornehmer Zurückhaltung im neoklassizistischen Stil. Im Innern des Hauses ging es weniger zurückhaltend zu. Es wird von prunkvollen und oft zügellosen Festen berichtet, zu denen auch französische Gäste kamen - anfangs als Aristokraten des ancien régime, später als Vertriebene der französischen Revolution, die nur durch Flucht dem Schicksal Marie-Antoinettes entronnen waren.
Als Prinz hatte Georg IV. anfangs mit den Whigs sympathisiert. Der von dem Whig-Architekten Henry Holland erbaute "Marine Pavilion", dem die gebogenen Fensterfronten und eisernen Balkone eine gewisse französische Eleganz und die ersten Merkmale des regency-Stils verliehen, bekundete mit seinem vornehmen Neoklassizismus zugleich einen bestimmten politischen Geschmack.
Ein Tory-Kritiker schmähte die Schöpfung des Whig-Architekten Holland damals als unbestimmbares bauliches Ungetüm, das wie ein Tollhaus aussieht oder wie ein Haus, das verrückt geworden ist. So ungerecht dieses Urteil war, so zutreffend wurde es für das spätere Aussehen des Baues, nachdem Georg IV. unter dem Eindruck der französischen Revolution zunehmend konservativen Ansichten zuneigte.
Es begann damit, daß ab 1801 die Inneneinrichtung des Palastes im "chinesischen Stil" erneuert, pompöse Pferdeställe im "indischen Stil" errichtet und weitere Anbauen hinzugefügt wurden. Auch äußerlich sollte der neoklassizistische Bau ein exotisches Aussehen bieten. Ein Entwurf sah vor, ihn ebenfalls im "chinesischen Stil", mit pagodenartigen Dächern, zu verändern. Schließlich entschied sich Georg IV. jedoch für den "indischen Stil". Von 1815 bis 1822 wurde der ursprüngliche Bau von dem neuen Architekten Johnc? Nash bis zur Unkenntlichkeit verändert. Mit zahlreichen baldachinartigen oder zwiebelförmigen Kuppeln, minarettartig emporschießenden Türmchen und einem reichhaltigen filigranen Dekor explodierte das Gebäude zu einem architektonischen Feuerwerk, zu einer einzigartigen Phantasmagorie, die irgendwo zwischen dem Tadsch Mahal und der Alhambra angesiedelt schien. Es glich nun tatsächlich einem "Haus, das verrückt geworden ist". 1
In der englischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sah es ähnlich aus wie in der Architektur oder im Landschaftsgarten: Auch hier führte der Spazierweg entlang der "beauty line" rund um den Teich der Vergangenheit, über den geheimnisvolle Nebelschwaden zogen und der empfindsamen Seele die märchenhaftesten Ausblicke auf Tempel und Ruinen einer fernen Vorzeit eröffneten. Da die fortschreitende Verdinglichung des Bewußtseins nach immer stärkeren psychischen Reizen verlangte, entstanden bald auch in diesem literarischen Landschaftsgarten die verrücktesten "follies", die angebliche Texte aus dem Mittelalter und grauer Vorzeit darstellten, während sie bei genauerem Hinsehen leicht als Fälschung zu erkennen gewesen wären.
Allgemein bahnt sich im England der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine nostalgische Verklärung des Mittelalters an. Parallel zum Klassizismus, diesen überlagernd und ablösend, macht sich das gothic revival breit: An die Stelle des Rationalen, Klaren, Symmetrischen, Harmonischen, Wohlgeordneten treten das Irrationale, Bizarre, Ungleichmäßige, Disharmonische, Ungeordnete. Es scheint, als sei das englische Bürgertum geistig obdachlos geworden, als dringe der metaphysische Katzenjammer durch alle Ritzen seiner rationalen, das Leben nach Pfund, Shilling und Penny taxierenden Weltanschauung. Weder die anglikanische Staatskirche noch die puritanischen Sekten vermögen offenbar die Sehnsucht zu stic?llen, die aus der Öde des kapitalistischen Kalküls erwächst. Das gilt sowohl für die Begüterten, die ihr Leben in Überfluß und Müßiggang verbringen können, wie auch und erst recht für jene, die vom Joch der neuen Ausbeutung bedrängt und erdrückt werden.
Zu denen auf der Sonnenseite gehört Horace Walpole (1717 - 1797), Sohn des berühmten Robert Walpole, der die englische Politik unter Georg I. und Georg II. maßgeblich bestimmte. Schon in jungen Jahren hat Walpole mit einem Freund, dem Dichter Thomas Gray, eine ausgedehnte Reise durch Italien und Frankreich unternommen. Durch Herkunft und hochdotierte Sinekuren der Regierung ist es ihm möglich, seine künstlerischen und gelehrten Neigungen mit einem aristokratischen Lebensstil zu verbinden. Er gilt als feinsinniger Kunstfreund und hervorragender Kenner des Altertums.
Dieser Horace Walpole erwirbt gegen Ende der vierziger Jahre eine Villa in Twickenham an der Themse, die er von 1751 bis 1796 in mehreren Abschnitten und für über 20 000 Pfund in einem eigenwilligen Stil umbauen läßt, den er für gothic bzw. mittelalterlich hält. Das Ergebnis ist weitaus mehr Wunschtraum als reale Kopie mittelalterlicher Bauformen. Aber gerade deshalb entspricht Walpoles Villa Strawberry Hill dem Geschmack des Zeitgeistes und kann zum Vorbild für zahlreiche ähnliche Bauten im gothic style werden. 2
Ähnlichen Erfolg hat Walpole im Bereich der Literatur, als er 1765 seinen Roman Das Schloß von Otranto veröffentlicht. Das Buch erscheint zunächst als angebliche Neuausgabe eines spätmittelalterlichen Romans, der von einem gewissen Onuphrio Muralti verfaßt und 1529 in Neapel gedruckt worden sei. Erst der über Erwarten große Beifall, den die ersten 500 Exemplare fanden, veranlaßt Walpole, sich ab der zweiten Auflage als Verfasser zu bekennen. Sein "Schloß von Otranto" wird zum Muster der gothic novel und begründet so das Genre des neuzeitlichen Ritter-, Schauer- und Gespensterromans.