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Arkadien


 

Die englische Bourgeoisie entdeckte in den Bauten Palladios jene diskrete Magie des Geometrischen, die erst im Kontrast zur Unregelmäßigkeit des umgebenden Parks ihre volle Wirkung entfaltet (Schloß und Park von Stowe - zum Vergrößern anklicken).

"Paradise lost"

Der Sensualismus als Wegbereiter des Landschaftsgartens

Es blieb England vorbehalten, das arkadische Motiv aus der zweidimensionalen Fläche des Gemäldes in die dritte Dimension des Gartens überzuführen. Der Einfluß Venedigs und der "villegiatura" war dabei beträchtlich. Vor allem entdeckte die englische Bourgeoisie in den Bauten Palladios jene diskrete Magie des Geometrischen, die erst im Kontrast zur Unregelmäßigkeit des umgebenden Parks ihre volle Wirkung entfaltet.

Anders als das morbide Venedig befindet sich England im 17. Jahrhundert auf dem aufsteigenden Ast. Schon in den Rosenkriegen von 1455 bis 1485 hatte sich der alte Adel gegenseitig ausgerottet und der neuen, bürgerlich geprägten Gentry Platz gemacht. Die Versuche Karls I., das Rad der Geschichte zurückzudrehen, blieben erfolglos. Sie führten zum Bürgerkrieg von 1642 bis 1649, aus dem die Gentry mit dem Puritaner Cromwell als Sieger hervorging. Schon eineinhalb Jahrhunderte vor der französischen Revolution wurde in England der König hingerichtet und die Republik proklamiert. Mit der "Glorreichen Revolution" von 1688 sicherte sich das englische Bürgertum endgültig die Teilhabe an der politischen Macht und einen Klassenkompromiß, der in der Folge immer mehr zugunsten der bürgerlichen Kräfte verschoben wurde. Besser gesagt: Die Kämpfe zwischen Whigs und Tories, Bürgertum und Adel, Kapital und Grundbesitz nahmen systemimmanenten Charakter an. Die Ablösung der alten feudalen Abhängigkeitsverhältnisse durch die neuen Ware-Geld-Beziehungen sorgte von selbst dafür, daß die Tories verbürgerlichten und die Whigs feudale Allüren annahmen.

Vor diesem historischen Hintergrund entwickeln sich in Englands Kunst, Literatur und Philosophie frühzeitig die Züge eines Bewußtseins, das auf dem Kontinent in dieser Form unbekannt ist. Schon im perpendicular style tritt ein protestantisch-nüchternes Element zutage, das der Spiritualität der Gotik buchstäblich die Spitze nimmt. Spätgotik und Renaissance erlebt England nur in den manierierten Formen des Tudorstils. Die Malerei, die auf dem Kontinent im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht, ist in England fast bedeutungslos. Noch geringer sind der Einfluß des Barock und des Rokoko. Das englische Bürgertum findet vielmehr seinen genuinen Stil und den stärksten künstlerischen Ausdruck der erreichten gesellschaftlich Emanzipation im Klassizismus; in der Aufnahme und Weiterentwicklung jener Formen, die Palladio einst aus dem Geist der italienischen Renaissance geschöpft hatte.

In der englischen Literatur bezeugt Miltons Elegie vom Paradise lost (1667) das neue Bewußtsein, das mit den neuen bürgerlich-kapitalistischen Handels- und Produktionsverhältnissen einhergeht. Miltons "Verlorenes Paradies" ist nur der Form nach ein religiöses Poem. Psychologisch hat es mehr die Qualität Arkadiens und des Goldenen Zeitalters als des religiös verstandenen Paradieses. Es kann auch nicht mit dem Paradies in Dantes "Göttlicher Komödie" gleichgesetzt werden. Bei Dante bleibt das Paradies als Teil des Universums dialektisch mit der Hölle und dem Berg der Läuterung verbunden. Bei Milton dagegen nimmt - wie Hegel später kritisiert - der Konflikt und die Katastrophe des "verlorenen Paradieses" eine Wendung gegen den dramatischen Charakter hin. Es seien hier der Zwiespalt des Inhalts und der Reflexion des Dichters, aus welcher er die Begebenheiten und Zustände beschreibt, nicht zu verkennen. Man finde hier ganz die Gefühle, Betrachtungen einer modernen Phantasie und der moralischen Vorstellungen seiner Zeit. 1

In der Philosophie finden diese "moderne Phantasie" und "moralischen Vorstellungen", die Milton in Verse kleidet, ihren Ausdruck und ihre Weiterentwicklung in den Schriften John Lockes (1632 - 1704). Bei Milton entsteht die Welt daraus, daß Gott seinen Willen aus einem Teil seiner selbst zurückzieht und diesen sich selbst überläßt. Locke präzisiert diesen Deismus dahingehend, daß die dingliche Umgebung des Primäre sei und sich die Seele erst unter dem prägenden Einfluß der Außenwelt mit Inhalt erfülle. Indem Locke die scholastische These von den angeborenen Ideen zurückweist, leugnet er aber zugleich eine unmittelbare göttliche Inspiration der Seele. Eine solche kann allenfalls auf dem Umweg über die göttlich intendierte Natur zustandekommen.

Lockes Zögling Shaftesbury (1671 - 1713) geht noch einen Schritt weiter. Für ihn hat sich das Göttliche nicht aus der Natur zurückgezogen, sondern bleibt untrennbar mit der Natur verbunden. Das heißt aber, daß auch alle sittlichen Gebote und Wertvorstellungen, die ehemals mit der Autorität Gottes begründet wurden, in die Natur übergehen und dingliche Gestalt annehmen. Shaftesbury gelangt so zu einer Ästhetik, in der sich das Natürliche, Tugendhafte und Schöne gegenseitig bedingen und ergänzen. Er verwirft die egoistischen Konsequenzen aus Lockes Sensualismus und verwandelt diesen in einen moralischen Sensualismus.

Im Grunde ist Shaftesburys Ästhetik, die oft als "neuplatonisch" charakterisiert wird, eine Variante des Pantheismus. Der englische Pantheismus unterscheidet sich vom kontinentalen Pantheismus durch eine starke Neigung, die Widersprüche in Natur und Gesellschaft zu negieren bzw. zu harmonisieren. Der Grundwiderspruch zwischen Sein und Bewußtsein, der in Spinozas "Ethik" (1677) zwischen dem leidenden Geist und dem handelnden Geist aufscheint, ist Shaftesbury und seinen Nachfolgern unbekannt. Ihr Pantheismus ist nicht zerrissen zwischen Sein und Bewußtsein, sondern betont gerade die Harmonie von Dinglichem und Geistigem. Selbst das unleugbare Übel erscheint in dieser Sichtweise noch als Ausdruck eines größeren Guten. Mit unübertroffener Deutlichkeit formulierte diese psychologische Konsequenz des englischen Pantheismus der Dichter Alexander Pope in seinem 1733 veröffentlichten Essay on man: 2

Alle Natur ist doch nur Kunst, die du nicht wahrnimmst,
Ein jeder Zufall doch nur Richtung, die du nicht verfolgst;
Ein jeder Zwieklang unerhörte Harmonie;
Und alles kleine Übel nur ein großes Gutes.
Und allem Stolz zum Trotz, zum Trotz auch irrender Vernunft,
nur eine Wahrheit gilt: Was ist, hat seine Richtigkeit.

Der Schlußsatz dieses Poems (im Original: whatever is, is Right) gelangte im 18. Jahrhundert zu großer Berühmtheit und hat heftigen Widerspruch ausgelöst. Oberflächlich erinnert er an die noch berühmtere Sentenz Hegels aus dem Jahr 1821: Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. Dem Satz von Pope fehlt jedoch die dialektische Doppelbödigkeit, mit der Hegel einerseits das Bestehende rechtfertigt und andererseits im Namen des Vernünftigen zum Untergang verurteilt. Pope unterstellt vielmehr, daß alles kleine Übel nur ein großes Gutes sei. Eine so beschaffene Welt bedarf keiner Veränderung. Sie will lediglich anders gesehen werden. Sie will "alles kleine Übel" - etwa die sozialen Widersprüche der neuen bürgerlichen Gesellschaft - als unvollkommene Erkenntnis einer umfassenden großen Harmonie relativieren. Sie wird so zu einer Apologie des Bestehenden.

Eine solche Sichtweise entsprach viel zu sehr den gesellschaftlichen Verhältnissen Englands, um auf dem Kontinent, wo das Bürgertum die Macht des Feudalismus noch nicht gebrochen hatte, widerspruchslos hingenommen oder auch nur verstanden zu werden. Der Candide, in dem Voltaire den unerschütterlichen Glauben an die beste aller möglichen Welten verspottet, nimmt deshalb die prästabilisierte Harmonie des Leibniz-Schülers Christian Wolff eher als Vorwand und willkommenden Anlaß, um letzten Endes Popes "Reim des Jahrhunderts" zu treffen und ins Lächerliche zu ziehen:

Es ist bewiesen, läßt Voltaire die Philosophen-Karikatur Pangloss zu Candide sagen, daß die Dinge nicht anders beschaffen sein können. Sintemalen nämlich alles zu einem Zweck geschaffen ist, dient alles notwendigerweise dem besten Zweck. Beachtet wohl, daß die Nasen zum Brillentragen gemacht sind; drum haben wir Brillen. Die Beine sind sichtbarlich zum Schuheanziehen eingerichtet; und so tragen wir denn Schuh' und Strümpfe. Die Steine sind geschaffen, daß man sie schneide und daraus Schlösser baue; deshalb haben Seine Gnaden ein wunderschönes Schloß. 3

Der ästhetisch-moralische Gleichklang von Tugend, Schönheit und Natur, den Shaftesbury und Pope postulieren, wiederholt sich bald darauf in der liberalen Gesellschafts-und Wirtschaftstheorie. Bei Adam Smith (1723 - 1790) verwandelt er sich in die prästabilisierte soziale und wirtschaftliche Harmonie des freien, nicht durch staatliche Eingriffe behinderten Wettbewerbs. Smith verweist so am deutlichsten auf die Wurzeln dieser Harmonisierung aller Widersprüche: Früher als auf dem Kontinent tritt in England an die Stelle der feudalen Ordnung die bürgerliche Gesellschaft und an die Stelle der einfachen Warenproduktion die kapitalistische Ware-Geld-Beziehung.

Diderot hat Shaftesburys Untersuchung über Tugend und Verdienst, die 1699 erschien, 1745 ins Französische übertragen. Dabei verstand er ihn so, daß er die Grundlagen des Schönen im Nützlichen sehe:

Wenn Sie ihn fragen, was ein schöner Mensch sei, wird er Ihnen antworten, das sei ein Mensch, dessen wohlproportionierte Glieder am glücklichsten zusammenwirken, um die Lebensfunktionen des Menschen zu erfüllen (...) Von hier aus steigt er dann bis zu den gewöhnlichsten Gegenständen, den Stühlen, Tischen, Türen und so weiter hinab und versucht, Ihnen zu beweisen, daß uns die Form dieser Gegenstände nur in dem Maße gefalle, in dem sie sich für den Gebrauch eignen, für den sie bestimmt sind. 4

Diderot hat sich nachdrücklich gegen diese Ableitung des Schönen aus dem Nützlichen gewandt. Damit tat er Shaftesbury zugleich recht und unrecht. Denn so explizit, wie Diderot unterstellt, findet sich diese These bei Shaftesbury gar nicht. Sie ist allerdings als psychologische Konsequenz in seinem Gleichklang von Natur, Schönheit und Tugend bereits angelegt. Diderot hat so frühzeitig die utilitaristische Auslegung geahnt, die der Sensualismus später in den Theorien von John Stuart Mill (1806 - 1874) finden wird.

Vor dem hier skizzierten Hintergrund entstehen die Englischen Gärten. Sie sind Kunstwerk, moralische Anstalt und psychologisches Labor zugleich. Im Unterschied zum Barockgarten wollen sie den Besucher nicht nur symbolisch läutern und ins Goldene Zeitalter führen. Der Barockgarten setzt das Vorhandensein der symbolisierten Ideen voraus. Für die Sensualisten gibt es aber keine angeborenen Ideen. Die Seele ist für sie eine tabula rasa und erfüllt sich erst unter dem prägenden Einfluß der Außenwelt mit Inhalt. Je vollkommener diese dingliche Matritze ist, desto vollkommener sind auch die dadurch geprägten Ideen. Deshalb muß auch Arkadien, ehe es zum vollkommenen Einklang des Natürlichen, Tugendhaften und Schönen kommt, erst einmal in dinglicher Gestalt verwirklicht werden.

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