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Arkadien |
In Großmutters Schlafzimmer hing es noch: Ein monströses, rechteckiges Tafelbild, auf dem ein Schäfer seine Herde hütete, während späte Sonnenstrahlen den "Abendfrieden" in rosig-warmes Licht tauchten. Das gute Stück gehörte zum kleinbürgerlichen Interieur wie die gestickten Sinnsprüche und die Delle im Sofakissen. Die pastorale Augenweide hatte ihren Platz genau in der Mitte über dem ehelichen Doppelbett und ließ ahnen, wie aufregend Opa und Omas Schäferstündchen darunter gewesen sein mochten.
Die spießige Idylle war abgesunkenes Kulturgut.
Sie war ein letzter Abglanz Arkadiens, das als poetische Variante des Paradieses
die christliche Religion über fast zwei Jahrtausende begleitet hat.
Seinen Höhepunkt erreichte der Traum von Arkadien aber erst mit Beginn
der Neuzeit, als sich die religiösen Mythen zu verdinglichen begannen.
Der Name Arkadien leitet sich von der griechischen Landschaft gleichen Namens ab, ein von Bergen umschlossenes Hochland in der Mitte des Peloponnes. Das reale Arkadien kann allerdings nicht als besonders idyllisch gelten. Das Hirtenvolk, das hier lebte, führte auch in der Antike ein eher beschwerliches Dasein. Es mußte deshalb wohl einen anderen Grund haben, daß ausgerechnet dieser karge Landstrich zum Inbegriff bukolischer Poesie und friedvoller Idylle werden konnte.
Aber die alte unverdorbene Sitte und mit ihr Kraft, Wohlsein und Frohsinn erhielten sich und herrschten noch in Arkadien, als das üppige Griechenland bereits moralisch untergegangen war, glaubte Meyers Konversationslexikon von 1902 zu wissen. So kam es, daß die Dichter Arkadien als das Land der Unschuld und des stillen Friedens priesen.
Das Lexikon irrte. In Wirklichkeit waren es andere Gründe, welche die eher herbe griechische Landschaft zum Inbegriff der Sehnsucht werden ließen. Arkadien war von Anbeginn eine Fiktion, ein poetisches Traumland, das im Kopf des römischen Dichters Vergil entstand, als er um das Jahr 42 v. Chr. an seinen Hirtengedichten schrieb.
Hirtengedichte waren an sich nichts neues. Schon der griechische Dichter Theokrit, der etwa von 300 bis 260 v. Chr. lebte, ließ in seinen Gedichten Hirten auftreten. Es handelte sich dabei um Hirten seiner sizilianischen Heimat, die realistisch-ironisch in ihrem alltäglichen Milieu geschildert wurden.
Die Hirten Vergils waren jedoch von anderer Natur. Sie führten ein abgehobenes, entrücktes, verklärtes Dasein. Sie waren keine realen Hirten mehr, sondern mythische Gestalten, Symbole der Sehnsucht nach einer friedvollen, heiteren Welt.
So erwartet auch Vergil, in frappanter Übereinstimmung mit der christlichen Heilslehre, in der 4. Ekloge seiner Hirtengedichte von der Geburt eines Knaben den Anbruch einer neuen seligen Zeit. - Umgekehrt klingt es wie eine Szene aus seinen Hirtengedichten, wenn die biblische Überlieferung den Jesusknaben im Stall, als Kind in der Krippe, zur Welt kommen und die Hirten auf dem Felde sich zu seiner Begrüßung einfinden läßt.
Vergils Hirten waren Spiegelbild der geistig-moralischen Krise, die das römische Reich auf dem Höhepunkt seiner Machtenthaltung befiel und seinen Untergang einleitete. Der Bürgerkrieg und Cäsars Ermordung waren noch frisch in Erinnerung. Die alten Götter hatten ihre Überzeugungskraft verloren. Sie waren ins Metaphorische entrückt, zu bloßen Symbolen geworden. Die geistige Krise offenbarte sich im Kaiserkult, der mit der Apotheose von Cäsar und Augustus begann und ab Commodus die Kaiser zu Göttern in menschlicher Gestalt erhob. - Götter der Staatsräson, die die Verbreitung anderer Kulte, darunter das Christentum, nicht aufzuhalten vermochten.
Die damalige Endzeit-Stimmung nährte sich aus der antiken Vorstellung von den Weltperioden: Der alte Äon schien am Ende zu sein und der Anbruch eines neuen Goldenen Zeitalters bevorzustehen. Auch die christliche Verheißung war noch nicht ins Jenseits verschoben. Wenn Christus davon sprach, daß sein Reich nicht von dieser Welt sei (Johannes 18, 36), mußte diese Botschaft im Ohr der Zeitgenossen wie die Ankündigung eines neuen Goldenen Zeitalters klingen. Nach Überzeugung von Ernst Bloch war die Botschaft ursprünglich auch so zu verstehen. Erst das paulinische Christentum habe den irdischen Chiliasmus ins Überirdische entrückt. 1
Die Hirten Vergils waren ebenfalls nicht von dieser Welt. Sie erfreuten sich zeitloser Jugend in einer zeitlos-schönen Landschaft. Als poetische, profane Variante des verlorenen und wiederzugewinnenden Paradieses zehrten sie von derselben Sehnsucht nach einer neuen goldenen Zeit, auf der auch die christliche Religion Wurzeln schlagen und ihren Siegeszug antreten konnte. Mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit hatten sie nur insoweit zu tun, als sie deren desolate Verfassung im Wunschbild einer besseren Welt spiegelten. Deshalb konnten die Hirten auch nicht, wie noch bei Theokrit, einfach in Sizilien angesiedelt werden, wo die realen Hirten längst ein unfreies Dasein im Dienst der römischen Großgrundbesitzer führten.
Wohin also mit den Hirten? - Als belesener Mann wußte sich Vergil zu helfen. Aus den Schriften des Historikers Polybios kannte er Arkadien als ein Land der Hirten. Vor allem wußte Polybios zu berichten, daß sich die Bevölkerung Arkadiens von Jugend an im Gesang übe und mit großen Eifer musikalische Wettbewerbe veranstalte. Diese musischen Hirten paßten hervorragend ins bereits vertraute Repertoire der Hirtendichtung. Schon bei Theokrit üben sich die Hirten in musikalischen Wechsel- und Wettgesängen. So kam es, daß Vergil das Land in der Mitte des Peloponnes, das er weder kannte noch jemals zu Gesicht bekam, zum Schauplatz seiner Eklogen erkor.
Dieses Arkadien gehörte erklärtermaßen zur Welt des schönen Scheins. Es war nicht einmal eine Utopie, sondern eine bukolische Phantasie. Da es keinen Anspruch auf Realität erhob, war es auch über jeden Verdacht erhaben, mit der christlichen Heilslehre konkurrieren zu wollen. So konnte es über eineinhalb Jahrtausende ungefährdet neben dieser bestehen. Als günstiger Umstand kam hinzu, daß Vergil dem Mittelalter aufgrund der erwähnten Weissagung in der 4. Ekloge als Wegbereiter des Christentums galt.
Arkadien lag so fern, daß es mit dem Römischen Stuhl und dem Heiligen Römischen Reich so wenig in Konflikt zu kommen brauchte wie mit dem Reich des Augustus, meinte der Altphilologe Bruno Snell. Gefährlich wurde für Arkadien erst die Zeit, als die europäischen Völker ein Ungenügen an tradierten Gütern empfanden und sich auf ihren eigenen Geist besannen, - und das ist zugleich die Zeit, als man sich wieder auf das echte Griechenland besann. 2
Die Renaissance, auf die hier angespielt wird, verlieh dem Arkadien Vergils nicht nur neues Leben, sondern einen neuen Stellenwert. Es war jener neue Stellenwert, den die Kunst grundsätzlich erhielt. Die Kunst trat nun nämlich aus dem Schatten der Religion heraus. Sie hatte jetzt nicht mehr bloß dienende Aufgabe, indem sie Kirchenbauten schmückte oder religiöse Legenden illustrierte, sondern übernahm die Erzeugung illusionärer Scheinwelten ganz unmittelbar.
Damit verließ auch das arkadische Motiv sein angestammtes Reservat der Lyrik, das es seit Vergil innehatte und in dem sich noch die Pastourelles der provencalischen Troubadours bewegt hatten. Es entwickelte sich aus der neulateinischen Ekloge der Humanisten zum volkssprachlichen Schäferroman. Es eroberte sich als Schäferspiel und Schäferoper die Bühne, als arkadische Landschaft die Malerei, als Meierei oder Hameau die Architektur und in Gestalt des Englischen Gartens schließlich sogar die reale Landschaft. Das arkadische Motiv beflügelte die Naturbegeisterung ganz allgemein, die mit Shaftesbury und Rousseau ihre ersten Interpreten fand. Es war noch in der Figur des edlen Wilden enthalten, den die Literatur des 18. Jahrhunderts in den Wäldern Amerikas oder in der germanisch-keltischen Vergangenheit des eigenen Kontinents zu finden vermeinte.
Ihren Höhepunkt erreichte die Schäferei im Barock und Rokoko. Für die höfischen Kreise und das nacheifernde Bürgertum wurde arkadischer Mummenschanz zum Gesellschaftsspiel. Aus der höfischen Etikette schlüpfte man zur allzugern in das ungezwungene Gewand von Daphne und Chloe. Man zelebrierte und genoß den unschuldig-naiven Naturzustand im bewußten Kontrast zur Morbidität des ancien régime. Im Schäferstündchen hat sich diese psychologische Ambivalenz aus Unschuld und Laszivität bis heute erhalten. In den fürstlichen Parks sorgen idyllische Meiereien für das erforderliche Ambiente.
In die Malerei drang das arkadische Motiv, ausgehend von Venedig, erstmals zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein. Bis dahin war die Landschaft allenfalls Kulisse und Beiwerk. Bei Malern wie Giorgione, Tizian und Campagnola wurde sie zur Hauptsache des Bildes. Es handelte sich freilich um keine naturgetreue Abbildung, sondern um eine geistig überhöhte, eben arkadische Landschaft. Diese Landschaften waren so idealisiert wie ihre Staffage, die wahlweise aus Schäfern, Schafen, Philosophen, Satyren und Nymphen bestand.
Anfangs wurden oft noch biblische Motive in das Bild mit hinein genommen, die jedoch nur noch beigeordnete, verblassende Bedeutung hatten. So malte Carracci um 1604 eine Landschaft mit See, Wasserfall, Burg, Schäfern und Fährmann, wobei im Vordergrund - schon etwas aufgesetzt wirkend - die Heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten zu sehen war. Drei Jahrzehnte später imitierte Domenichino dieses Motiv bis in Einzelheiten, besetzte aber den Vordergrund mit einem malerisch gelagerten Pärchen, das die heilige Familie aus dem Bild verdrängte...
Durch Claude Lorrain (1600 - 1682) gelangte die arkadische Landschaft zur klassischen Vollendung. Sie wurde zum perfekten Stimmungsgemälde, in dem sanftes Licht die friedvolle Szenerie beleuchtet. Oft waren auf den Bildern auch antike Ruinen zu sehen, die ikonographisch für Arkadien standen, psychologisch aber auch eine längst verflossene, heroischere Vergangenheit signalisierten und durch diesen Kontrast die friedvolle Pastorale noch akzentuierten.
In der Literatur waren es zunächst Humanisten wie Petrarca und Boccaccio, die das Arkadien Vergils wieder aufgriffen. Ihre neulateinischen Eklogen setzten allerdings entsprechende Bildung voraus. Die Verbreitung beschränkte sich deshalb auf gelehrte Kreise und literarische Zirkel. Größere Wirksamkeit erlangten erst die volkssprachlichen Schäferdichtungen wie Sannazaros Arcadia, die in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts in italienischer Sprache entstand und 1504 gedruckt wurde. Die "Arcadia" bestand aus zwölf Eklogen herkömmlichen Inhalts: Liebesklagen in monologischer und dialogischer Form, Lobgesängen auf eine Schäferin, Preis eines Verstorbenen, einer schöneren Vergangenheit oder einer verlorenen Heimat. Dabei wurden die einzelnen Eklogen bereits durch eine Rahmenerzählung verbunden, die den Übergang von der Lyrik zur epischen Form des Schäferromans vorbereitete.
Parallel zum Schäferroman entstand, vor allem in der Literatur Spaniens, Frankreichs und Englands, die Gestalt des irrenden Ritters als wehmütige Beschwörung vergangener Zeiten und Tugenden. Der Schäferroman verband sich mit dieser nostalgischen Beschwörung des Rittertums. Montemayors Schäferroman Diana, der um das Jahr 1558 gedruckt wurde und als eigentliche Begründerin des Genres gilt, sollte ursprünglich ein Ritterroman werden. In Sidneys Roman Arcadia, der 1590 erschien, verkleidet sich ein Ritter als Schäfer, um seiner Geliebten unerkannt nahe sein zu können.
Es hat den Anschein, als habe sich die geistig-moralische Krise des römischen Reiches, der Vergils Eklogen ihre Entstehung verdankten, in der neuen Schäferei wiederholt. Die literarischen Schäfer und Ritter am Ende der Renaissance kündeten von der Auflösung des anfänglichen Selbstbewußtseins in Zweifeln, Ängsten und Wunschträumen von einer besseren Welt. Sie waren ein Bestandteil des manieristischen Lebensgefühls, das sich freilich nicht im Eskapismus erschöpfte, sondern bereits den barocken Wirklichkeitssinn vorbereitete. Sie waren deshalb zugleich Zielscheibe des Spotts. 1653 erschien in Frankreich die Komödie Le berger extravagant von Thomas Corneille, die Andreas Gryphius zehn Jahre später als Der Schwermende Schäffer ins Deutsche übersetzte: Der Titelheld der Komödie, Lysis, war eigentlich für die höhere Beamtenlaufbahn bestimmt, ehe er sich durch die Lektüre von Ritter- und Schäferromanen in eine poetische Traumwelt hineinsteigerte. Ein Schäferspiel gibt ihm den Rest, und er beschließt, selber Schäfer zu werden. Er treibt also seine Schafe unter süßlichen Lyrismen aufs Feld, kleidet sich unmöglich, liegt stets auf der Erde, wimmert die verehrte Schäferin um Gegenliebe an und kann an keinem Wald vorbeigehen, ohne das Echo zu versuchen. Am Ende fällt er in einen hohlen Baum, was er zum Anlaß nimmt, um sein Leben, wie Daphne, als Baumgottheit zu beschließen. 3
Ähnliche Verspottung erfuhr um diese Zeit der Ritter-Kult. In Spanien war die Kluft zwischen dem massenhaft grassierenden Ritter-Ideal des "Hidalgos" und der gesellschaftlichen Realität besonders groß. Sie begründete den sprichwörtlichen, antiquierten Stolz des Spaniers. In seinem "Don Quijote" kontrastierte Cervantes Schein und Sein dieses Ritter-Ideals in satirisches Weise.