PresseBLICK-Rezensionen | Natur- und Geisteswissenschaften |
Wo "Wissenschaft" draufsteht, muß nicht unbedingt Wissenschaft drin sein. Eindringlich hat das neulich ein Spaßvogel demonstriert, indem er ein renommiertes amerikanisches Wissenschaftsblatt mit einer im schönsten akademischen Kauderwelsch verfaßten, aber völlig abstrusen Abhandlung an der Nase herumführte. Das oben besprochene Buch von Wolfgang Thüne ist ebenfalls ein gutes Beispiel dafür, welche Verwirrung sich mit scheinwissenschaftlicher Argumentation stiften läßt - zumal dann, wenn der Spaßvogel kein solcher sein will, sondern selber an den Unsinn glaubt.
Aber welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen darf man überhaupt noch trauen, wenn nicht einmal die Redakteure eines Wissenschaftsblattes die Spreu vom Weizen trennen können? Wer vermag noch einen speziellen Sachverhalt zu beurteilen, mit Ausnahme von ein paar Experten, die ihrerseits blutige Laien sind, sobald sie sich auf ein anderes Gebiet begeben? Wer überblickt noch eine ganze Disziplin, geschweige denn die ganze Bandbreite der Wissenschaften?
Mit dem vorliegenden Buch unternimmt der Bonner Physiker Klaus Heinloth den Versuch, wenigstens in die "Energiefrage" ein bißchen mehr Klarheit zu bringen. Die Möglichkeit zu dieser Bestandsaufnahme erhielt er durch einen Forschungsauftrag der Heräus-Stiftung. Wie aus dem Geleitwort der Stiftung hervorgeht, hat sie 1995 insgesamt sieben solcher Forschungsaufträge zu gesellschaftlich relevanten Problembereichen ausgeschrieben. In allen Fällen ging es nicht darum, wirklich neues zu erforschen. Vielmehr sollten bereits bekannte und gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse und Lösungsansätze so zusammengefaßt werden, daß sie der Diskussion über gesellschaftlich relevante Probleme wie Arbeitslosigkeit, Bildungsinhalte, Medien, Energie, Wasser, Medizin und Verkehr zu einer "gemeinsamen, sachlichen Mindestbasis" verhelfen können.
Denn bisher herrscht teilweise eine babylonische Sprachverwirrung, sobald "die Wissenschaft" zum Zeugen aufgerufen wird, um diesen oder jenen Streit zu schlichten. Man denke nur an solche Fragen wie die Leistungsfähigkeit regenerativer Energiequellen, die Reichweiten der fossilen Energieträger, die mögliche Gefährdung des Klimas durch Kohlendioxid-Emissionen, die Gefahren radioaktiver Transporte oder die teilweise ins Esoterische abschweifenden Spekulationen über die gesundheitlichen Risiken von elektrischen und magnetischen Feldern der Stromversorgung.
Das zuletzt genannte Reizthema hat Heinloth ausgelassen. Vielleicht deshalb, weil es sich mehr um ein eingebildetes als um ein reales Problem handelt. Ansonsten findet man aber in seinem Buch so gut wie alle Fakten hinsichtlich der Potentiale fossiler, nuklearer und erneuerbarer Energien, der Techniken zur Bereitstellung und Nutzung von Energie, der Effizienz der Energienutzung und der relevanten Umweltprobleme.
Wie schwierig eine solche Bestandsaufnahme ist, zeigt die Tatsache, daß die Heräus-Stiftung bei ihrer Ausschreibung nur drei der insgesamt sieben Forschungsaufträge an geeignete Bewerber vergeben konnte. Heinloth war der erste, der sich seiner Aufgabe entledigte. Er konnte dabei auf die Erfahrungen zurückgreifen, die er sich als wissenschaftlicher Sachverständiger in den beiden Enquête-Kommissionen des Bundestags zum "Schutz der Erdatmosphäre" sowie als deutscher Delegierter in dem von den Vereinten Nationen 1988 gegründeten "Intergovernmetal Panel on Climate Change" erworben hat. Dennoch hatte er noch ein enormes Pensum zu bewältigen. Ein tragfähiges Konzept für die Deckung des künftigen Energiebedarfs setzt schließlich voraus, daß zahlreiche Parameter wie Bevölkerungsgrößen, Wirtschaftsdaten, Energie-Potentiale und Umweltbelastungen nicht nur qualitativ dingfest gemacht, sondern auch quantitativ ausgelotet werden.
Der Aufwand hat sich gelohnt. Man weiß nicht so recht, was an Heinloths Kompendium mehr beeindruckt: Die Breite des Überblicks, die wissenschaftliche Fundiertheit und Konzentration auf das Wesentliche oder die Verständlichkeit, mit der er alle relevanten Fragen behandelt.
Zum Beispiel sind die wesentlichen Fakten zur Klima-Problematik und zum Treibhauseffekt auf zwanzig Seiten zusammengefaßt. Sämtliche Reaktor-Konzepte werden ebenso behandelt wie der Stand der Kernfusion, die Möglichkeiten der einzelnen erneuerbaren Energien, der Stand der Wasserstoff-Technologie, die Batterieforschung oder die Aussichten der Brennstoffzelle. Sehr informativ sind auch die zahlreichen Grafiken und Tabellen. Zum Beispiel findet man einen Vergleich von zwanzig unterschiedlichen Kraftwerksarten, der detailliert Auskunft gibt über die jeweils typische Leistungsgröße, zeitliche Verfügbarkeit, Wirkungsgrad, Erntefaktor, CO2-Emission, Investitionskosten und Stromkosten.
Mitunter läßt Heinloth eher persönliche Wertungen erkennen: So hält er es für eine Fehlentscheidung, daß man den inhärent sicheren und weit fortgeschrittenen Hochtemperatur-Reaktor (PB 2/92) aus wirtschaftlichen Erwägungen dem Leichtwasser-Konzept geopfert habe. Dem Wirken einer einflußreichen Lobby schreibt er es auch zu, daß bei der Kernfusion bisher praktisch alle verfügbaren Mittel in die Tokamak- und Stellarator-Technik fließen, obwohl die Tröpfchen-Fusion mit Schwerionen-Strahlen wahrscheinlich mehr Erfolg verspreche. Oder er merkt zur Klima-Diskussion an, daß diese Problematik von einigen Wissenschaftlern "oft in Unkenntnis der Fakten, oft mit Rückendeckung aus wirtschaftlichen Interessengruppen bestritten" werde.
Der Titel "Die Energiefrage" klingt ein bißchen langweilig, und auch sonst reißt das Buch beim ersten Durchblättern einen durchschnittlich interessierten Leser nicht unbedingt vom Hocker. Bei aller Verständlichkeit ist es eben in keiner Weise auf Unterhaltung angelegt, sondern bleibt ein Fachbuch. Für alle, die wirklich kompetent in der "Energiefrage" mitreden möchten, ist es aber eine wunderbare Fundgrube. Es eignet sich hervorragend zum gezielten Nachschlagen einzelner Fakten und zur schnellen Information über grundlegende Zusammenhänge in allen Bereichen von Energiewirtschaft und Energiepolitik.
(PB 8/98/*leu)