PresseBLICK-Rezensionen Natur- und Geisteswissenschaften



David Lindley

Das Ende der Physik - Vom Mythos der Großen Vereinheitlichten Theorie

Basel 1994: Birkhäuser Verlag, 293 S., 58 DM


Vom Ende der Physik wurde zuletzt im vorigen Jahrhundert geträumt, als die klassische Mechanik noch unumschränkte Gültigkeit zu haben schien. Man war damals der Ansicht, daß sich im Prinzip alle Naturvorgänge aus dem Zusammenwirken von "Kraft und Stoff" erklären ließen. Man erwartete nichts grundlegend Neues mehr, sondern nur noch Detailarbeit. Sogar die Theorie des Elektromagnetismus hat diese Ansicht zunächst nicht erschüttert, sondern wurde ihr durch Erfindung des "Äthers" einverleibt. Erst die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik haben die Begrenztheit der klassischen Physik offenkundig werden lassen.

Eine "Allumfassende Theorie" soll die vier fundamentalen Kräfte vereinigen

Durch den Vorstoß in den Mikrokosmos der Elementarteilchen sehen sich die Physiker heute vier fundamentalen Kräften gegenüber, die scheinbar unabhängig voneinander existieren: Die starke und die schwache Kernkraft, die elektromagnetische Kraft und die Schwerkraft. Sie stellen sich diese Kräfte als Wechselwirkungen zwischen den Materieteilchen vor, die durch die andere Hauptgruppe der Elementarteilchen, die "Bindungsteilchen", vermittelt wird. Demnach geht die elektromagnetische Wechselwirkung vom Photon aus, die starke Wechselwirkung von Gluonen, die schwache Wechselwirkung von intermediären Bosonen und die Gravitation vom (vorläufig noch hypothetischen) Graviton.

Mit Hilfe der "Quantenflavourdynamik" ist es inzwischen gelungen, die schwache Kernkraft und die elektromagnetische Kraft zur elektroschwachen Kraft zu vereinigen. Der nächste Schritt wäre die sogenannte Große Vereinigung, welche die elektroschwache Kraft mit der starken Kernkraft vereinigt. Der Traum vieler Physiker bleibt schließlich die Vereinigung aller Kräfte unter Einschluß der Gravitation in einer Allumfassenden Theorie zu einer einzigen Urkraft (Supergravitation). Damit wäre das "Ende der theoretischen Physik in Sicht", wie der englische Physiker Stephen Hawking 1979 formulierte.

Wissenschaftsglauben in neuem Gewand?

Es scheint indessen, als lebe in dieser Erwartung ein Stück jener alten Wissenschaftsgläubigkeit wieder auf, die einst die Lösung der "Welträtsel" mit den Mitteln der Newtonschen Mechanik propagierte. Vermutlich liegt auch hier der Grund, weshalb die Suche nach einer Allumfassenden Theorie inzwischen eine etwas fragwürdige Popularität erlangt hat. Sie ist fast schon ein Illustrierten-Thema geworden - personalisiert durch den unglücklichen Stephen Hawking im Rollstuhl, dessen leidvolles Schicksal die Medien effektvoll mit der prometheischen Verheißung einer Weltformel kontrastieren.

Das vorliegende Buch des amerikanischenWissenschaftsjournalisten David Lindley hilft, den nötigen Abstand zu solcher Mythenbildung zu gewinnen. Lindley gibt zu bedenken, daß eine Allumfassende Theorie auf ein mathematisches Kunstgebilde hinausläuft, das vielleicht ästhetischen Reiz besitzt, praktisch aber ziemlich nutzlos und experimentell nicht überprüfbar ist. Zum Beispiel seien die Versuche, die Supergravitation mittels der sogenannten "Superstrings" zu begründen (siehe PB 3/92), nur unter der Voraussetzung von 26 Dimensionen frei von Überlichtgeschwindigkeitsphänomenen. Und auch bei der Reduzierung auf zehn Dimensionen sei die String-Theorie noch weit entfernt von den vier Dimensionen unserer normalen Welt aus Raum und Zeit, denen alles genügen muß, was sich praktisch handhaben läßt.

Für Lindley entfernt sich eine rein mathematisch betriebene Physik von der erforderlichen experimentellen Überprüfbarkeit. Sie gemahnt ihn an den Versuch der Phytagoräer, die Welt aus Zahlen-Harmonien zu erklären. Ähnlich verführen die Numerologen, die physikalische Daten allein daraufhin abklopfen, ob sich damit irgendwelche mathematischen Bezüge herstellen lassen. Speziell erwähnt Lindley die sogenannte Titius-Bodesche Reihe, welche die Abstände der Planeten im Sonnensystem in eine mathematische Formel zu kleiden versucht. Trotz ihrer nur unscharfen Übereinstimmung mit der Realität und ihres ehrwürdigen Alters von über zweihundert Jahren fasziniert die Titius-Bodesche Reihe noch heute viele Zahlengläubige und pseudo-wissenschaftliche Sektierer (siehe PB 1/95).

Für Lindley führt solch blindes Vertrauen in reine Mathematik zurück zu Platon oder Aristoteles, welche die ganze Welt - von der Bewegung fallender Körper bis zur Existenz Gottes - durch boßes Nachdenken zu verstehen versucht haben und der Empirie keine Beachtung schenkten. In Wahrheit lasse sich aber Naturwissenschaft weder von Grundprinzipien ohne empirischen Inhalt ableiten noch allein aus einer unkritischen Faktenbetrachtung. Die angestrebte allumfassende Theorie entbehre des notwendigen empirischen Inhalts. Sie sei insofern ein Mythos, als man sie experimentell weder bestätigen noch widerlegen könne. Damit allerdings markiere sie in gewisser Weise tatsächlich das Ende der Physik - "nicht etwa, weil die Physik endlich in der Lage wäre, alles im Universum zu erklären, sondern weil die Physik am Ende all dessen angekommen ist, was sie erklären kann".

Im Mikrokosmos versagen die gewohnten Vorstellungen von Realität

Den größten Teil des Buches bildet ein Streifzug durch die Welt der Elementarteilchen, die noch milliardenfach kleiner ist als jene Welt, die sich mit Hilfe des Elektronenmikroskops erahnen läßt. In diesem Mikrokosmos versagen die Gesetze der Mechanik. Im Zusammenhang damit versagen auch unsere gewohnten Vorstellungen von Realität. Alle physikalischen Modelle können deshalb nur der Versuch sein, etwas anschaulich zu machen, was sich prinzipiell nicht veranschaulichen läßt.

So hat man sich ursprünglich die Elektronen als winzige Kugeln vorzustellen versucht, die den aus Protonen und Neutronen bestehenden Kern des Atoms umkreisen. Im Lichte der Quantentheorie ist die Annahme einer solchen Kreisbahn aber unsinnig. Inzwischen stellt man sich die Elektronen als Hülle oder Schale um den Kern des Atoms vor, wobei jeder Schale ein bestimmtes Energieniveau zukommt. Die Energie des Elektrons verändert sich demnach nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft mit dem Wechsel von einer Schale zur anderen. Auf derselben quantenmechanischen Voraussetzung basiert das sogenannte Bändermodell der Festkörperphysik, das den Elektronenfluß in Halbleitern oder Supraleitern zu erklären versucht.

Statt der erhofften Vereinfachung eine Vielzahl von neuen Elementarteilchen

Zunächst ging es in der Welt der Elementarteilchen verheißungsvoll einfach zu. Man kannte nur Protonen und Neutronen, die als Nukleonen den Kern des Atoms bilden, sowie die dazugehörigen Elektronen in der Hülle des Atoms. Die Physiker waren deshalb in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts noch zuversichtlich, die rund hundert Elemente des Periodensystems auf diese Grundbausteine des Atoms zurückführen und so wesentlich reduzieren zu können. In Wirklichkeit trat aber das Gegenteil ein: Neben den drei Grundbausteinen des Atoms entdeckte man unablässig weitere Elementarteilchen, deren Anzahl bald die der Elemente übertraf. Die ersten fanden sich in der kosmischen Strahlung. Später gelang die künstliche Erzeugung, indem man Protonen oder Elektronen in einem Synchrotron bis nahe an die Lichtgeschwindigkeit beschleunigte und mit anderer Materie zusammenprallen ließ. Inzwischen hat man über zweihundert Elementarteilchen entdeckt und braucht ein Dutzend Begriffe, um sie zu klassifizieren. Um die Eigenschaften eines Teilchen zu beschreiben, bedarf es ferner einer ganzen Reihe von teilweise exotisch klingenden Merkmalen wie Masse, Ladung, Lebensdauer, Spin, magnetisches Moment, Isospin oder Strangeness.

Der "Urknall" wird im Labor simuliert

Die allermeisten dieser Elementarteilchen sind nicht stabil, sondern zerfallen praktisch im Augenblick ihrer Entstehung. Sie sind extrem flüchtige Formen der Materie, die in unserer Welt keinen Bestand haben können. Wahrscheinlich aber - so eine interessante Überlegung der Forscher - dominierten sie einmal kurz nach dem "Urknall", als vor vielen Milliarden Jahren die Expansion des Universums begann und einen Moment lang ähnliche Bedingungen herrschten, wie sie heute der Zusammenprall im Synchrotron erzeugt.

"Quarks" als noch elementarere Bausteine

Wenn aber die vielen Elementarteilchen nur wechselnde Erscheinungsformen derselben Materie sind, liegt es nahe, weitere Grundbausteine anzunehmen, aus denen sie sich zusammensetzen. Solche Grundbausteine glaubt man für jene Gruppe der Materieteilchen, die als "Hadronen" bezeichnet werden, in den "Quarks" gefunden zu haben. Ihren seltsamen Namen haben sie von einem schemenhaften Wesen aus einem Roman des irischen Dichters James Joyce. In der Tat bleiben die Quarks völlig schemenhaft, weil sie der Theorie zufolge nur in Verbindungen auftreten können. Es gibt keine "freien" Quarks, was den Nachteil (oder auch Vorzug) hat, daß ihr experimenteller Nachweis nicht möglich ist. Diese hypothetischen Quarks bilden demnach die Grundbausteine aller Hadronen: In Dreiergruppen ergeben sie die sogenannten Baryonen und in Zweiergruppen die sogenannten Mesonen. Zu den Baryonen gehören vor allem die Protonen (zwei up-Quarks und ein down-Quark) und die Neutronen (zwei down-Quarks und ein up-Quark). Das Elektron gehört hingegen zur Gruppe der Leptonen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Theorie bestünde gewöhnliche Materie aus up- und down-Quarks sowie aus Leptonen.

Selbst das Quark-Modell erfordert aber bei aller Vereinfachung noch eine erhebliche Zahl von Teilchen. Zunächst einmal mußten, um die zahllosen instabilen Elementarteilchen erklären zu können, neben den up- und down-Quarks noch vier weitere Arten unterschieden werden (strange, charm, bottom und top). Da jede der sechs Quark-Typen in drei "Farben" auftritt und jedes dieser farbigen Quarks ein entsprechendes Anti-Quark besitzt, kommt man also auf die stattliche Anzahl von 36 Quark-Teilchen. - Für Lindley Anlaß zu der Vermutung, "daß die Physiker bei ihrer Suche nach wirklich elementaren Teilchen selbst mit den Quarks noch nicht ans Ziel gelangt sind".

"Praktische Bedeutung der Grundlagenphysik ist im wesentlichen gleich null"

Aber worin besteht dieses Ziel eigentlich? - Für Lindley ist die Suche nach den Grundlagen der Physik "vor allem eine intellektuelle Angelegenheit". Für jene Wissenschaftler, die oberhalb der subatomaren Ebene arbeiteten, sei die praktische Bedeutung der Forschung auf diesem Gebiete "im wesentlichen gleich Null". Der Begriff "Grundlagenphysik" sei insoweit mißverständlich, als er die Abhängigkeit der übrigen Physik von der Teilchenforschung suggeriere. Selbst wenn es den Teilchenphysikern eines Tages gelänge, alle vier Wechselwirkungen in einer einzigen Formel zur "Supergravitation" zu vereinigen, würde dadurch die Arbeit der Chemiker, der Biologen und auch der großen Mehrheit der Physiker nicht einfacher werden. Für die praktische Nutzanwendung von Wissenschaft bleibe das Atom die unterste Sprosse der Leiter.

US-Kongreß stoppte Teilchenbeschleuniger

So hat es wohl auch der amerikanische Kongreß gesehen, als er im Herbst 1993 den Bau eines "Superconducting Supercollidor" in der Nähe von Dallas stoppte. Dieser Teilchenbeschleuniger hätte es den Physikern ermöglicht, noch ein kleines bißchen tiefer in den Mikrokosmos einzudringen und die Geschichte des Universums noch ein Stück weiter in Richtung "Urknall" aufzurollen. Allerdings wären kaum praktisch verwendbare Erkenntnisse zu erwarten gewesen. Sogar die reichen USA wollten es sich unter diesen Umständen nicht mehr leisten, Milliarden Dollar für reine Grundlagenforschung auszugeben.

Mit dem amerikanischen Verzicht wird nun wohl Europa führend in der weltweiten Teilchenforschung. Denn im Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik in Genf (CERN) wird am Bau des "Large Hadron Collider" festgehalten, der im ersten Jahrzehnt des nächsten Jahrtausends in Betrieb gehen soll. In einem 27 Kilometer langen Tunnel sollen Hadronen bei Energien von bis zu 14 Billionen Elektronenvolt aufeinanderprallen und so Bedingungen simulieren, wie sie unmittelbar nach dem "Urknall" herrschten.

Lindleys Streifzug durch die Welt der Elementarteilchen ist wie die meisten amerikanischen Sachbücher recht eingängig geschrieben. Sein Buch bietet freilich mehr einen Essay als eine systematische Einführung. Es liest sich deshalb noch leichter, wenn der Leser bereits die Hauptstraßen der Teilchenphysik kennt, die zu jener Sackgasse führen, die nach Lindleys Meinung das ehrgeizige Projekt einer Allumfassende Theorie darstellt.

(PB 6/96/*leu)