PresseBLICK-Rezensionen Natur- und Geisteswissenschaften



Christel Zahlmann (Hg.)

Kommunitarismus in der Diskussion

Berlin 1992/94: Rotbuch Verlag, 153 S., DM 18.90


Auch in den USA, also am grünen Holz der Marktwirtschaft, herrscht heute eine beträchtliche Skepsis hinsichtlich der Harmonie von Profit und menschlichen Bedürfnissen, die unter dem Schlagwort "Kommunitarismus" bekannt geworden ist. Dieser Kommunitarismus entstand als eine Art sozialphilosophische Strömung in den achtziger Jahren und läßt sich zum Teil als Reaktion auf die Reagan-Ära begreifen. Sein Credo lautet in der simpelsten Fassung, daß der zügellose Egoismus des einzelnen auf die Zerstörung der Gesellschaft hinausläuft und deshalb im Allgemeininteresse in die Schranken verwiesen werden muß.

Der vorliegende Sammelband geht auf eine Diskussion im Forum Humanwissenschaften der "Frankfurter Rundschau" zurück. Aus sozialdemokratisch-gewerkschaftlicher Sicht hat der Kommunitarismus mit seinem schlichten Pragmatismus einen besonderen Charme, da die alten Paradigmen der Linken arg notleidend geworden sind. So richtet man mit einer Mischung aus Skepsis und Erwartung den Blick auf jenes Land, das noch immer als Schrittmacher des Zeitgeistes gilt.

Der Kommunitarismus entspricht im Grunde einer verbreiteten Stimmung in Europa. Zugleich ist er aber in seiner geistigen Genügsamkeit typisch amerikanisch. Mit Begriffen wie Entfremdung und Warenfetischismus (siehe die obige Rezension) vermögen in den USA auch Intellektuelle kaum etwas anzufangen. Dieses Konstrukt der europäischen Philosophie verträgt sich nicht mit der pragmatisch-schlichten Denkweise der neuen Welt. Die scheinbar entsprechenden Begriffe "alienation" oder "estrangement" stehen in der amerikanischen Literatur eher für ein Gefühl subjektiven Unbehagens, das sich - falls es überhaupt objektiv bedingt sein sollte - nicht aus grundsätzlichen Mängeln, sondern aus partiellen und damit behebbaren Defiziten der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erklären läßt. So hat der Sozialwissenschaftler Amitai Etzioni schon Ende der fünfziger Jahre ein "concept of basic human needs" aufgestellt, dessen Nichterfüllung beim Individuum das Gefühl von "alienation" zur Folge habe.

Kritik an moralischer Erosion

Derselbe Amitai Etzioni hat rund dreißig Jahre später ein Buch unter dem Titel "The Moral Dimension" veröffentlicht. Er kritisierte darin die Sichtweise des Menschen als eines bloßen "homo oeconomicus" und warnte vor der Erosion der moralischen Infrastrukturen (Familie, Religion, nachbarschaftliche Solidarität, innere Sicherheit) durch eine reine Marktgesellschaft. Er schrieb damit das "einflußreichste Manifest, das in den Sozialwissenschaften die kommunitarische Bewegung auslöste", wie Otto Kallscheuer in seiner kenntnisreichen Literaturübersicht am Ende des vorliegenden Sammelbandes feststellt.

In einem weiteren Beitrag vertritt Kallscheuer die Ansicht, daß der Kommunitarismus weniger eine philosophische Schule als eine "politische Auseinandersetzung um das Selbstverständnis der Sozialwissenschaften in den USA heute" sei. Er warnt vor dem Mißverständnis, im Kommunitarismus einen überseeischen Verwandten konservativer Kulturkritik zu sehen. Es gehe vielmehr um eine "Selbstkritik des demokratischen Liberalismus" - sozusagen um eine Art von geistigem New Deal nach der Krise, in die das hemmungslose "Enrichissez-vous" der Reagan-Ära geführt hat.

Von allen deutschen Autoren des Sammelbandes kann Kallscheuer dem Kommunitarismus noch am meisten abgewinnen. Dagegen wirft Wolfgang Fach den Kommunitarismus vor, daß er die scheinbar heile Welt der Vormoderne als Modell heutiger Gesellschaften beschwöre, wie dies seinerzeit schon Tocqueville getan habe (womit er allerdings weder dem Kommunitarismus noch Tocqueville gerecht werden dürfte). Irene Albers widmet gleich ihren ganzen Beitrag den "kommunitaristischen Anleihen bei Tocqueville". Sie stellt dabei fest, daß sich Tocquevilles geniale Deutung der US-Gesellschaft vor 150 Jahren "am Ende moderner und aufgeklärter als die Kommunitaristen von heute" erwiesen habe. Beate Rössler kritisiert den Kommunitarismus aus der Sicht einer Feministin, weil er "den für die feministische Kritik zentralen Werten von Rechten, Autonomie und individueller Freiheit keinen angemessenen Platz in der Theorie mehr einräumen" könne. Für Holmer Steinfath "markiert der gegenwärtige Kommunitarismus - wie die meisten seiner historischen Vorläufer - einen unverkennbar konservativen Trend, der seit längerem auch das intellektuelle Klima hierzulande beherrscht". Andere Autoren wie Micha Brumlik oder Thomas Ziehe ergehen sich in recht abgehobenen Reflexionen über die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens, wobei der Kommunitarismus zwar vordergründig das Stichwort liefert, aber gar nicht der eigentliche Gegenstand der Betrachtungen zu sein scheint.

Absage an die "Tyrranei des Marktes" und Suche nach neuem Paradigma

Unter den insgesamt 13 Beiträgen findet man nur einen einzigen, der von Kommunitaristen selbst verfaßt wurde, nämlich den von Robert N. Bellah et al. über "Die Tyrannei des Marktes". Er dürfte vielleicht der lesenswerteste sein, da er authentisch Auskunft gibt, in welcher Weise die Kommunitaristen argumentieren: Das Prinzip sofortiger Gewinnmaximierung mache die Wirtschaft kaputt und schwäche alle Bereiche des Zusammenlebens, heißt es da. Wörtlich: "Die Amerikaner haben die Logik der Ausbeutung so ziemlich bis zum Äußersten getrieben. Es sieht so aus, als führte das nicht nur zum Scheitern auf den höchsten Ebenen, wo der Druck auf Wirtschaft und Regierung, kurzfristig Gewinne zu erzielen, die Fähigkeit zerstört, vorausschauend zu denken, gleich ob auf nationaler Ebene oder in der Metropole, sondern auch zum persönlichen und familiären Zusammenbruch im Leben unserer Bürger. Die Zeit ist reif für ein neues Paradigma..."

Das hier beschworene neue Paradigma soll die "Wiedergewinnung von Sinn und Zielen in unserem Zusammenleben" ermöglichen. Es soll auf "Kultivierung" statt auf "Ausbeutung" zielen. Im übrigen bleibt aber alles genauso vage wie es eben diese Wörter sind. Wo sich die Verfasser in theoretische Unkosten stürzen, argumentieren sie ausgerechnet mit Adam Smith, der als Moralphilosoph viel Menschenfreundliches gesagt hat, was aber aus heutiger Sicht mit seiner ökonomischen Lehre nicht unbedingt vereinbar zu sein scheint. Smiths Glauben an die prästabilisierte Harmonie der freien Wirtschaft wird jedenfalls nicht problematisiert. Stattdessen glauben Bellah et al. den geistigen Sündenfall für die weniger schönen Begleiterscheinungen der Marktwirtschaft in John Lockes "Ideal des autonomen Individuums" finden zu können.

Nach der Lektüre dieses Buches könnte man geneigt sein, sowohl den amerikanischen Kommunitaristen als auch manchen ihrer deutschen Interpreten doch lieber einen Klassiker wie Tocqueville vorzuziehen...

(PB 9/94/*leu)