PresseBLICK-Rezensionen Natur- und Geisteswissenschaften



Wilhelm Korff (unter Mitarbeit von Stephan Feldhaus, Otto Gremm, Max Hillerbrand)

Die Energiefrage - Entdeckung ihrer ethischen Dimension

Trier 1992: Paulinus-Verlag, 380 S., DM 24.-


Hermann Henssen

Energie zum Leben - Die Nutzung der Kernkraft als ethische Frage

München 1993: Verlag Bonn Aktuell, 220 S., DM 24.80


Es wäre wohl gewagt, Deutschland noch als christliches Land bezeichnen zu wollen. Die Mehrheit der Bundesbürger hat, wenn überhaupt, ein eher distanziertes Verhältnis zur Kirche. In säkularisierter Form entfalten protestantische wie katholische Glaubenselemente jedoch noch immer eine beträchtliche Langzeitwirkung. Und im allgemeinen Bewußtsein verbleibt auch so etwas wie eine dunkle Erinnerung an die ursprünglich religiöse Fundierung der allgemein akzeptierten Wertvorstellungen. Deshalb wird den Kirchen, trotz aller Kirchenmüdigkeit, noch immer eine besonders hohe Kompetenz in ethischen Fragen zuerkannt.

Vor diesem Hintergrund verdienen die beiden vorliegenden Bücher Beachtung. Sie befassen sich mit der Nutzung der (Kern-)Energie aus ethischer Sicht. Im einen Fall ist der Autor ein katholischer Theologe, der einen Lehrstuhl für Sozialethik innehat. Im anderen ist es ein Physiker, der über 30 Jahre lang bei der Planung und beim Bau von Kernreaktoren mitgewirkt hat und sich als evangelischer Christ versteht.

Unterschiedliche Haltung der Kirchen

Die katholische Kirche hat es bisher vermieden, sich ex cathedra für oder gegen die Kernenergie auszusprechen. Sie neigt allerdings dazu, die ethische Verantwortbarkeit der Kernenergie zu bejahen. Das Buch des katholischen Moraltheologen Korff kann insofern als einigermaßen repräsentativ für die Konfession des Autors gelten. Etwas anders verhält es sich mit dem Buch von Hermann Henssen, dem als evangelischer Christ und Anhänger der Kernenergie der Wind innerhalb der eigenen Konfession eher ins Gesicht bläst: Nahezu alle protestantischen Verlautbarungen zur Energiepolitik fordern einen mittel- oder gar kurzfristigen Ausstieg aus der Kernenergie.

Von der Argumentationweise her sind beide Bücher sehr ähnlich. Sie heben darauf ab, daß derjenige, der den Verzicht auf Kernenergie fordert, erst einmal einen anderen gangbaren Weg aufzeigen muß, wie sich der unerläßliche Energiebedarf der Menschheit anderweitig sichern läßt. Die erneuerbaren Energien seien dazu nach dem Stand der Dinge nicht in der Lage. Die fossilen Energien seien nur beschränkt verfügbar und verstärkten den Treibhauseffekt. Die Autoren machen geltend, daß alle Arten der Energieerzeugung ihre besonderen Risiken haben. Bei Abwägung aller Umstände seien die Risiken der Kernenergie durchaus kalkulierbar und zu verantworten. Korff dreht den Spieß sogar explizit um: Eine prinzipielle und kategorische Ablehnung der friedlichen Kernenergienutzung müsse als "ethisch unverantwortlich qualifiziert" werden.

"Grammatik der Zustimmung"

Henssen kennt das Buch von Korff bereits. Er stellt fest, daß dessen Ausführungen "in wesentlichen Punkten die gleichen wie bei mir" seien. Dennoch unterscheiden sich beide Bücher in der Form erheblich. Korffs Buch ist vom Geist der Kasuistik geprägt: Den größten Teil der insgesamt 380 Seiten bildet eine Bestandsaufnahme zu Technik, Ergiebigkeit und Risiken der verschiedenen Energiebereiche, die von den Ko-Autoren Otto Gremm und Max Hillerbrand erarbeitet wurde. In einem weiteren Teil gibt Stephan Feldhaus einen Überblick über Stellungnahmen der beiden Konfessionen zur Kernenergie. Diese Beiträge liefern gleichsam die Basis, auf der Korff dann eine "Grammatik der Zustimmung" (zur Kernenergie) gründet. - Insgesamt eine recht schwierige Lektüre, der sich kaum ein Leser unterziehen dürfte, der nicht als Theologe oder aus einem anderen Grund ein ausgeprägtes Interesse an dieser Thematik mitbringt.

Henssens Buch ist dagegen einfacher und lesbarer gehalten. Der Autor spricht gleichsam als evangelischer Laie, der auch da, wo er sich als Wissenschaftler auskennt, auf Allgemeinverständliches beschränkt. Er ist um eine moderate Sprache bemüht, welche die bereits vorhandenen Gräben nicht noch weiter aufreißt. In der Sache selbst, um die es ihm geht, macht er freilich keine Kompromisse. Wer mit der Kernenergie sympathisiert, wird hier gutes Argumentationsmaterial finden. Gleiches gilt für evangelische Christen, die durch die vorherrschende Tendenz innerhalb ihrer Konfession verunsichert sind. Ob sich Gegner der Kernenergie auf diese Weise überzeugen lassen, scheint weniger gewiß.

"Verantwortungsethik" versus "Gesinnungsethik"

Bemerkenswert ist, daß beide Autoren auf Max Webers Unterscheidung zwischen "Gesinnungsethik" und "Verantwortungsethik" rekurrieren, um ihre Sichtweise verständlich zu machen. Wilhelm Korff ist ein Schüler des Bonner Moraltheologen Werner Schöllgen, der die "Verantwortungsethik" Webers bereits in der katholischen moraltheologischen Tradition antizipiert sieht. In der Tat kennt die katholische Theologie seit Thomas von Aquin keine Dichotomie zwischen Schöpfungs- und Heilsordnung. Oder, wie es Korff formuliert: "Fortschritt ist keine unchristliche Vokabel. Gott will die Welt und steht für ihren Sinn ein." Auch die Kernenergie ist in dieser Sichtweise kein Teufelswerk, sondern ein kasuistisches Problem, dessen Vor- und Nachteile sorgsam abgewogen werden müssen.

Die protestantische Theologie lehnt dagegen die Kasuistik ab. Für sie entspringt Ethik der freien, unbedingten Gewissensentscheidung des einzelnen in einer konkreten Situation. Ihren säkularisierten Ausdruck hat diese Haltung in Kants kategorischem Imperativ gefunden. Sie läuft im wesentlichen auf das hinaus, was Weber als "Gesinnungsethik" bezeichnet hat. Sie ist naturgemäß eher "fundamentalistisch".

Diese Unterschiede sind noch heute virulent, sowohl in theologischer wie in säkularisierter Form. Man merkt es, wenn sich Korff indigniert gegen den protestantischen Theologen und Öko-Aktivisten Günter Altner wendet, für den eine Güterabwägung "unterhalb des Anspruchs der Ethik" liegt. Oder wenn sein Mitarbeiter Stephan Feldhaus gegen den prominenten protestantischen Theologen Helmut Thielicke polemisiert, für den sich christlicher Glaube nicht mit einer "Ethik des Kompromisses" verträgt.

Auch in säkularisierter Form wirken diese Unterschiede fort. Zum Beispiel ist es kein Zufall, daß die Hochburgen der Umweltbewegung in Ländern mit protestantischer Tradition liegen, die - ebenfalls nicht ganz zufällig - an der Spitze des industriellen Fortschritts stehen. Dagegen konnten sich "grüne" Bewegungen in romanischen Ländern mit katholischer Tradition erst wesentlich später und schwächer entwickeln. Man braucht nur den Blick von Deutschland nach Frankreich zu richten.

Haben "utopistische Gesinnungsethiker" eine "hysterische Neurosenstruktur"?

Als katholischer Moraltheologe ist Korff in thomistischer Tradition der Güterabwägung verpflichtet. Er muß deshalb an die ethische Seite der "Energiefrage" anders herangehen als ein protestantischer Theologe, für den die Unbedingtheit des Glaubens die conditio sine qua non seines Christseins bedeutet und der deshalb auch in ethischen Fragen zu einer vergleichsweise kompromißlosen Haltung neigt. Es läßt sich allerdings nicht ganz einsehen, weshalb Korff bei seiner Güterabwägung unbedingt auch die "neurotischen Anteile" an der Ablehnung der Kernenergie ergründen muß. Zum Beispiel ist er der Meinung, daß sich "im Typus des Fundamentalisten das Schizoide mit dem Zwanghaften verbindet" oder daß eine eindeutige "Zuordnung von utopistischer Gesinnungsethik und hysterischer Neurosenstruktur" möglich sei. Dies könnte leicht als Denunziation mentaler Haltungen empfunden werden, deren besondere Affinität zur protestantischen Ethik an anderer Stelle desselben Buches deutlich gemacht wird. Nach demselben Muster ließe sich Max Webers "Veranwortungsethik", von der Korff sichtlich etwas hält, als Produkt eines neurotischen Geistes deuten. Immerhin litt der Nestor der deutschen Soziologie unter derart schweren psychischen Störungen, daß er jahrelang arbeitsunfähig war.

Generell kommt selten etwas Vernünftiges dabei heraus, wenn das Vokabular der Psychiatrie und Psychotherapie, das an sich schon reichlich prekär ist, bei solchen Gelegenheiten strapaziert wird. Wenn Korff sich dann auch noch auf "Neurosenstrukturen der Psychoanalyse" und "die bereits von Freud entdeckte zwanghafte Neurosenstruktur" beruft, hat das etwas leicht Komisches: Er scheint nicht zu wissen, daß Freud seinerseits mit "wissenschaftlichem" Anspruch versucht hat, die Religion und besonders die Riten der katholischen Kirche als "kollektive Zwangsneurose" zu deuten...

Der Schauplatz der seit Jahren mal tobenden, mal schwelenden Auseinandersetzung um die Kernenergie erinnert inzwischen ein bißchen an den Stellungskrieg im ersten Weltkrieg: Die Gegner haben sich eingegraben, kein Baum ist heil geblieben, das unterirdische Stollensystem wird immer raffinierter und jeder Meter Geländegewinn gilt bereits als Erfolg. In dieser Situation können die beiden Bücher von Korff und Henssen zumindest deutlich machen, daß sich aus der christlichen Ethik, wie sie die beiden großen Konfessionen verstehen, keine eindeutige Stellungnahme zur Kernenergie ableiten läßt. Weder die katholische Kasuistik noch die protestantische Situationsethik können von einer der Parteien, die sich in dieser Frage gegenüberstehen, hundertprozentig in Beschlag genommen werden. Und auch da, wo eine der Parteien auf moraltheologischem Gebiet im Vorteil zu sein glaubt, kann sich die Waffe schnell als zweischneidig erweisen.

(PB 2/93/*leu)