PresseBLICK-Rezensionen Natur- und Geisteswissenschaften



Günter Altner

Naturvergessenheit - Grundlagen einer umfassenden Bioethik

Darmstadt 1991: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 319 S., DM 29.80


Die mittelalterlichen Scholastiker unterschieden spitzfindig zwischen der schaffenden Natur ("natura naturans") und der geschaffenen Natur ("natura naturata"), die aus der ersteren hervorgehe. Mit der Aufklärung erhielt diese Unterscheidung eine subversiv-ketzerische Tendenz: Denker wie Spinoza benutzten die "natura naturans" zur Einkleidung und notwendigen Tarnung eines pantheistischen Weltbildes, das die Trennung zwischen Schöpfer und Schöpfung aufhebt und die Natur in jeglicher Gestalt als selbstschöpferisches Prinzip begreift.

Solche Implikationen des Begriffs Natur sollte man im Kopf haben, wenn man das vorliegende Buch zur Hand nimmt. Denn obwohl der Titel "Naturvergessenheit" voll im Trend von Umweltbewußtsein und Lebenshilfe-Literatur zu liegen scheint, handelt es sich um eine ziemlich schwer verdauliche, anspruchsvolle Lektüre. Günter Altner unternimmt den Versuch, aus protestantischer Sicht die "Grundlagen einer umfassenden Bioethik" abzuleiten. Altner ist nicht nur Theologe, sondern auch ein namhafter Vertreter des christlich-protestantischen Spektrums der Umweltbewegung. Er ist ferner designiertes Mitglied der "Ueberhorst-Kommission", die einen neuen Konsens in der Energiepolitik finden soll. Dies macht seinen Versuch in jedem Fall interessant.

Altner unterzieht sich keiner leichten Aufgabe. Die protestantische Ethik ist, wie wir spätestens seit Max Weber wissen, eher in Kategorien der Psychologie als in klaren Handlungsanweisungen zu fassen. Der Protestant wird allein durch den Glauben selig. Er kann bei der Zwiesprache mit Gott auf die institutionelle Vermittlung der Kirche verzichten, muß aber auch Fragen der Ethik letzten Endes allein mit sich, der Bibel und seinem Gewissen abmachen. Eine strikte Wegweisung in ethischen Fragen durch unumstößliches "Naturrecht" oder päpstliche Enzykliken, wie in der katholischen Kirche, wäre mit der protestantischen Denkfreiheit unvereinbar.

Kritik am kartesianischen Naturverständnis

Altner beginnt sein Buch mit einem Kapitel über "Die Entsinnlichung im Mensch-Natur-Verhältnis durch die Naturwissenschaften." Er meint, daß der Sündenfall des technizistischen Denkens mit einer "ausbeuterischen" Haltung gegenüber der Natur bereits im kartesianischen Naturverständnis zu suchen sei. Die Vision des Philosophen Descartes, daß der Mensch mittels naturwissenschaftlicher Erkenntnis zum Herrn und Meister der Natur werde, sei heute auf eine zutiefst ambivalente Weise eingelöst: "Einerseits sind wir zu Siegern über die Natur geworden, andererseits drohen wir uns totzusiegen." An anderer Stelle formuliert er noch härter: "Die menschliche Vernunft, der Evolution einst entsprungen, läßt die irdische Lebenswelt und alles, was durch Jahrmillionen wurde, im Zuge eines fehlorientierten Wachstums in kürzester Zeit über die Klinge springen."

Deshalb werde heute von vielen eine "geläuterte und systematisch erweiterte Naturwissenschaft gefordert, die über die harten Formen des klassischen Erkenntnisgewinns hinaus weiche und integrative Erfahrungsansätze eröffnet". Das verbreitete Unbehagen am kartesianischen Naturverständnis kulminiere "in der Suche nach einem Ökologie-Verständnis, das die Biosphäre nicht mehr auf ihre Systembausteine reduziert, sondern sie - unter Einschluß des Menschen - von ihren komplexeren Einheiten her ganzheitlich zu interpretieren versucht".

Es handelt sich hierbei wohl um das wichtigste Kapitel des Buches, weil die Forderung nach einer neuen, "ganzheitlichen" Sichtweise auch den Grundtenor der nachfolgenden Ausführungen bildet. Altner stellt dem rationalistischen Philosophen Descartes den romantischen Maler Caspar David Friedrich gegenüber, dem die von ihm gemalte Landschaft zur "Membran subjektiver Erfahrungen und Leiden" wurde. Mit unverhohlener Sympathie zitiert er dazu den Romantiker Schelling: "Das höchste Verhältnis der Kunst zur Natur ist dadurch erreicht, daß sie diese zum Medium macht, die Seele in ihr zu versichtbaren."

"Ehrfurcht vor dem Leben"

Im zweiten Kapitel sucht Altner Ansätze zur Begründung einer Bioethik. Er findet sie vor allem in Albert Schweitzers "Ehrfurcht vor dem Leben". Den gordischen Knoten der protestantischen Ethik löst er mit einer fast existentialistisch anmutenden Formulierung: Die Bioethik beginne mit dem "Ich" des betroffenen Menschen. Dieses Ich sei "Ergebnis eines Bedingt- und Angesprochenseins", das "außerhalb der Möglichkeiten menschlicher Selbstbestimmung liegt".

Erst im dritten Kapitel setzt sich Altner mit dem biblischen Begriff der Schöpfung auseinander. Er stellt klar, daß dieser mit der selbstschöpferischen "natura naturans" unvereinbar ist, wirbt aber zugleich um Verständnis für pantheistische Denkansätze, die in der christlichen Traditionsgeschichte abgedrängt und verworfen wurden. Im vierten Kapitel befaßt er sich mit den Herausforderungen, die der wissenschaftlich-technische Komplex für eine Bioethik bereithält. Dabei geht es ihm hauptsächlich um die kognitive Seite, also um die Art der Wahrnehmung dieser Herausforderung, von der Theorie der Selbstorganisation über Fulguration und Gestaltwahrnehmung bis zum anthroposophischen Weltverständnis.

Für sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie

Im fünften und letzten Kapitel folgen dann "aktuelle Handlungsfelder der Bioethik", von der Gentechnik über die Haltung von Heimtieren bis zu Klimakrise und Energiepolitik. Altner erneuert hier seine Forderung nach sofortigem Ausstieg aus der Kernenergie, drastischer Reduktion der Verbrennung fossiler Energieträger, verstärkter Nutzung der Sonne und anderer erneuerbarer Energien sowie konsequenten Energie-Sparmaßnahmen. Denn: "Menschengeschichte und Naturgeschichte sind Teil eines umfassenden Prozeßgeschehens. Die schnelle Dynamik der Menschengeschichte droht, die unerläßlichen und verläßlichen Verbindungen zu der langsamer verlaufenden Naturgeschichte zu zerreißen. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als im Versagen der nationalen und internationalen Energiepolitik."

Der Verlust transzendenter Wertvorstellungen

Altner scheint die moderne "Naturvergessenheit" letzten Endes als Folge der Säkularisierung der christlichen Religion zu sehen. Sie entspringt für ihn einer Denkweise, die kein transzendentes Wesen mehr gelten läßt, sondern nur noch die kartesianische Unterscheidung zwischen "res extensa" (ausgedehntes Wesen bzw. Materie) und "res cogitans" (denkendes Wesen bzw. Vernunft).

Diese Sichtweise ist für einen Theologen naheliegend, dürfte aber den historischen Tatsachen nicht standhalten: Das christliche Mittelalter war in seinem Umgang mit Wäldern und anderen Ressourcen mindestens ebenso "naturvergessen" wie die Gegenwart. Wenn wir heute nicht, wie Spanier oder Griechen, in einer weitgehend erodierten Landschaft leben müssen, so ist dies hauptsächlich der Gunst des Klimas zu verdanken.

Ein weiterer - etwas maliziöser - Einwand könnte lauten, daß sich die Säkularisierung bereits im Protestantismus abzeichnete und daß der Protestantismus seinerseits die Säkularisierung entscheidend vorantreiben half. Hat Rousseau, der gewissermaßen den Urschrei gegen die "Naturvergessenheit" ausstieß, nicht gegen ein zutiefst calvinistisch-protestantisches Milieu rebelliert?

Hoffnung auf Paradigmenwechsel

Grundsätzlich hat der Theologe Altner aber sicher recht, wenn er das kartesianische Naturverständnis als unzureichend kritisiert. Bei der Zurückweisung des Glaubens an eine objektive Naturerkenntnis und der Forderung nach einem neuen "ganzheitlichen" Denken darf er sogar mit Beifall von der naturwissenschaftlichen Seite rechnen. So weiß er sich zum Beispiel mit dem Physiker Hans Peter Dürr darin einig, daß wissenschaftliches Denken "nicht die Natur als solche abbildet, sondern so, wie sie unter der Voraussetzung experimenteller Zurichtung und mathematischer Beschreibung erscheint". Altner hofft deshalb auf die "Eröffnung eines neuen Naturverhältnisses durch Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften".

"Es sind in Deutschland die Theologen, die dem lieben Gott ein Ende machen - on n'est jamais trahi que par les siens" - so spottete einst Heinrich Heine. Heute sind es in ähnlicher Weise vor allem Naturwissenschaftler, die dem Glauben an die Naturwissenschaft ein Ende bereiten. Die moderne Physik hat dem Wissenschaftsglauben jedenfalls mehr zugesetzt als alle religiösen Traktate. Es scheint deshalb, als könnten sich Theologen und Naturwissenschaftler auf den Trümmern alter Glaubenssätze treffen und neue Gemeinsamkeiten entdecken ...

(PB 11/92/*leu)