PresseBLICK-Rezensionen | Natur- und Geisteswissenschaften |
Der Begriff "Energie" hat erst vor relativ kurzer Zeit seine heutige Bedeutung erhalten. Die Unterscheidung zwischen potentieller und kinetischer Energie geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Noch jünger ist das Verständnis von Energie als Äquivalent von Masse, das Einsteins "Weltenformel" E = mc2 zugrunde liegt.
Man sollte meinen, daß die Entwicklung des Energie-Begriffs zu den spannendsten Themen überhaupt gehört. Um so mehr erstaunt es, wenn der Gießener Physik-Didaktiker Wilfried Kuhn im Vorwort zu der vorliegenden Arbeit seines Schülers Norbert Schirra feststellt, daß es bisher weder eine "wissenschaftstheoretisch reflektierte kohärente Darstellung der historischen Genese des Energiebegriffs" noch eine "durchgehende wissenschaftstheoretische Analyse dieser Thematik bezüglich der Evaluierung der Wissenschaftsent-wicklung" gebe.
Schirra entledigt sich der offenbar bislang versäumten Aufgabe mit großer Sachkenntnis und Akribie. Allerdings läßt die Art seiner Darstellung zu wünschen übrig. Die Gedankenführung ist wenig konzis, der Stil reichlich spröde. Auch "eine historische, wissenschaftstheoretische, didaktische Analyse", wie er sein Werk im Untertitel nennt, dürfte lesbarer geschrieben sein. Der Verfasser hätte gut daran getan, sich auf die doppelte Bedeutung des Wortes Didaktik zu besinnen, das nicht nur für die Theorie der Bildungsinhalte steht, sondern ursprünglich die Kunst ihrer Vermittlung bedeutet. Dem durchgängigen Dissertationsstil der Arbeit entspricht, daß sie lediglich als Typoskript gedruckt wurde.
Das interessante Thema und die beachtliche Sachkenntnis des Autors entschädigen jedoch zum großen Teil für die didaktischen Mängel (im pädagogischen Sinn), zumal das Werk außer einem ausführlichen Literaturverzeichnis auch Sach- und Namensregister enthält. So läßt sich die Entwicklung des Energiebegriffs bis zu den vorsokratischen Naturphilosophen zurückverfolgen, die den Urgrund der "arche" teils als Seiendes (Parmenides), teils als Bewegung (Heraklit) begriffen. Bei Aristoteles taucht erstmals das Wort "energeia" auf. Es steht für den quasi göttlichen Geist, der dem bloß Möglichen zur Gestalt verhilft. Diese "energeia" ist Seele, Erkenntnis, Leben. Alles Geschehen ist Übergang aus dem Zustand des Vermögens ("dynamis") in den der Wirklichkeit und Wirksamkeit ("energeia") durch die Tätigkeit einer Form ("eidos").
Seine naturwissenschaftliche Bedeutung erhielt der Begriff erst im 19. Jahrhundert. 1802 schlug der Engländer Thomas Young vor, ihn zur Bezeichnung des Arbeitsvermögens von Maschinen zu verwenden. Als Fähigkeit zur Verrichtung physikalischer Arbeit definierte ihn erstmals 1829 der Franzose Jean V. Poncelet. Noch lange allerdings gebrauchten auch Wissenschaftler das Wort "Kraft", wenn eigentlich die Energie bzw. das Arbeitsvermögen gemeint war. Einen besonderen Widerwillen hegten manche Physiker gegen den Begriff der "potentiellen Energie", da ihm in ihren Augen etwas Metaphysisches anzuhaften schien.
Parallel zum "Kraft und Stoff"-Denken der Vulgärmaterialisten blieb die metaphysische "energeia" des Aristoteles bis ins 19. Jahrhundert virulent. Noch Wilhelm von Humboldt sprach ganz im aristotelischen Sinne von der Energie als "erster und einziger Tugend des Menschen". In der Wissenschaft überlebte die metaphysische "energeia" bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in der vitalistischen Auffassung von einer besonderen Lebenskraft, welche angeblich Menschen, Tiere und Pflanzen beseelt. Das änderte sich erst, nachdem Helmholtz und andere Forscher nachgewiesen hatten, daß der Organismus seine Energie von außen schöpft und alle Lebewesen wie Maschinen als Energiewandler wirken.
Undenkbar wäre unser heutiger Energie-Begriff ohne die Thermodynamik, welche die Vorstellung eines besonderen "Wärmestoffs" überwand. Sämtliche Arten der Wärme, von der Dampfmaschine bis zur Körpertemperatur, wurden als Form der Energie erkannt. Vor allem die Elektrizität setzte der Erkenntnis buchstäblich ein Licht auf. Eindringlicher als durch den elektrischen Strom konnte gar nicht demonstriert werden, wie sich Energie wahlweise und sogar reversibel in Bewegung, Licht, Wärme oder chemische Reaktionen verwandeln läßt. So gelangte man schließlich zu jenem umfassenden Energiebegriff, über den Max Planck 1913 (nicht 1870, wie es im Text heißt) schrieb, daß er "für alle naturwissenschaftlichen Spekulationen ... den solidesten Ausgangspunkt" biete.
Schirra ist freilich kein Hoimar von Ditfurth, und so liest sich alles schwerfälliger, als es in dieser Raffung den Anschein haben könnte. Außerdem blendet er alle Aspekte aus, die eher wissenssoziologischen als wissenschaftstheoretischen Charakter haben könnten. Schirra liegt es fern, die Entwicklung des Energie-Begriffs im gesellschaftlich-geistigen Kontext darzustellen. Er beschränkt sich auf den abstrakten Werdegang des Energiebegriffs aus formal-didaktischer Sicht. So hält er es nicht für nötig, neben der Entwicklung des Energie-Begriffs die des Materie-Begriffs we-nigstens zu skizzieren, obwohl beide Begriffe - wie an manchen Stellen durchaus anklingt - eng miteinander verbunden sind und die ursprüngliche "arche" der Vorsokratiker heute im "Materie-Energie-Substrat" der Kernforscher wieder zum Vorschein kommt. Er übergeht auch solche Signaturen des wissenschaftlichen Zeitgeistes, wie sie Ludwig Büchner mit seinem 1855 erschienenen Buch "Kraft und Stoff" setzte - sozusagen die Bibel des Vulgärmaterialismus, um die keiner herumkommt, der das herrschende Verständnis von Naturwissenschaft um die Mitte des vorigen Jahrhunderts begreifen möchte. Ernst Haeckel und Gustave Le Bon werden immerhin flüchtig erwähnt, doch klingt die beiläufige Bemerkung, daß Haekkel "dem materialistischen Monismus nahestand" etwas seltsam, als würde von einem Bischof gesagt, daß er der Kirche nahesteht. Erst recht entfallen solche hochinteressanten Bezüge, wie sie sich von dem (ebenfalls beiläufig erwähnten) Neo-Vitalismus Eduard von Hartmanns zu pseudo-wissenschaftlichen Travestien der alten "Lebenskraft" ergeben. Neben der "Od"-Lehre des Paraffin-Entdeckers Reichenbach wären hier vor allem die "Libido" Sigmund Freuds und der schon von Hartmann strapazierte Begriff des "Unbewußten" anzuführen, den Max Planck als "Scheinproblem der Wissenschaft" charakterisiert hat.
Am Ende seiner Darlegungen glaubt Schirra feststellen zu können, daß sich die Herausbildung des Energiebegriffs durchaus kontinuierlich vollzogen habe. Er liefere keine Anhaltspunkte für einen revolutionären "Paradigmawechsel" im Sinne jener Theorie von Thomas S. Kuhn, wonach wissenschaftlicher Fortschritt in einer Abfolge inkommensurabler, revolutionärer, diskontinuierlicher Leitvorstellungen entsteht. Das Energiekonzept erweise sich vielmehr als ein "permanent evolutionäres Thema", das die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Denkens von der Antike bis in die moderne Elementarteilchenphysik entscheidend geprägt habe.
Diese Behauptung ist nun freilich gar nicht so evident, wie Schirra anzunehmen scheint. Im Gegenteil: Liest man Thomas S. Kuhns einschlägige Ausführungen - etwa "Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung" - so wirkt das um einiges überzeugender. Zum Beispiel bringt Kuhn sehr deutlich die überragende Rolle der Elektrizität zum Ausdruck, ohne die der Paradigmawechsel vom traditionellen "Kraft-" zum "Energie"-Begriff nicht möglich gewesen wäre. Bei Schirra ist zwar auch von Volta, Faraday, Galvani oder Oersted die Rede, aber eben doch nur als Wissenschaftlern, die neben vielen anderen ihr Scherflein zur Entwicklung des Energiebegriffs beigetragen haben. Es fehlt der sprichwörtliche rote Faden, den Kuhn auf den Begriff des "Paradigmawechsels" gebracht hat.
Oder anders gesagt: Wenn für Schirra die evolutionäre Entwicklung des Energie-Begriffs aus seinen eigenen Darlegungen hervorzugehen scheint, so liegt dies an seiner persönlichen Herangehensweise an das Thema, an seiner didaktischen Optik.
Als Beispiel, wie Schirra das qualitative Moment das "Paradigmawechsels" bei der Entwicklung des Energie-Begriffs durch seine rein quantitative Sichtweise ausblendet, kann der Übergang zur Relativitätstheorie dienen. So erwähnt er zwar Philipp Lenard, der durch seine Forschungsergebnisse die neue Physik maßgeblich vorbereiten half und 1905 den Nobelpreis erhielt. Er hält es aber offenbar nicht für mitteilenswert, daß derselbe Lenard zum erbittertsten Gegner der Relativitätstheorie wurde und in seiner ideologischen Fixierung auf das alte Paradigma sogar eine "Deutsche Physik" kreieren wollte.
Ebenso blendet Schirra die Auseinandersetzung um die "Energetik" Wilhelm Ostwalds aus. Zu Recht erkennt er in ihr eine Wegbereiterin der Relativitätstheorie. Er erwähnt aber nicht, daß die Energetik von dem russischen Intellektuellen W.I. Uljanow - besser bekannt unter dem Namen Lenin - scharf zurückgewiesen wurde. In seiner erkenntnistheoretischen Polemik gegen den "Empiriokritizismus" schmähte Lenin den Naturphilosophen Ostwald als "großen Chemiker und kleinen Philosophen". Lenin startete diesen Angriff aus gutem Grund: Ostwald negierte nämlich das alte Paradigma des Materialismus, indem er die "Energie" anstelle der "Materie" verabsolutierte und zum letzten Realitätsbegriff erhob. Er half so einerseits die Relativitätstheorie vorbereiten, die Masse und Energie jenseits aller Verabsolutierung als Äquivalente begreift. Andererseits stieß er damit auf den heftigen Widerstand von Anhängern des alten Paradigmas, das inzwischen auch in seiner marxistisch-dialektischen Version eher zur Ersatzreligion als zur Erweiterung des wissenschaftlichen Horizonts taugte.
Mit Kuhns Theorie vom "Paradigmawechsel" ist sicher Unfug getrieben worden. Sie erlebte eine inflationäre Verbreitung, wurde zum modischen Schlagwort. Am ärgsten trieb es die "new age"-Bewegung, die aus Kuhns Einsicht in die erkenntnismäßige Verwandtschaft von Mythos und Wissenschaft einen Freibrief für Obskurantismus zu machen versuchte. Auch handelt es sich bei Kuhns Theorie, ihrer eigenen Logik gemäß, keineswegs um eine zeitlose Offenbarung. Sie ist ihrerseits lediglich ein neues Paradigma der Wissenschaftstheorie. Dennoch dürfte sie nicht so schnell ausgedient haben, wie der in eher älteren Paradigmata befangene Verfasser des vorliegenden Werkes zu glauben scheint.
(PB 1/92/*leu)