PresseBLICK-Rezensionen Natur- und Geisteswissenschaften



Wolfgang Schirmacher

Ereignis Technik

Wien 1990: Passagen Verlag, 245 S.


Als Hegel die "Phänomenologie des Geistes" schrieb, hat er die damals neueste Errungenschaft der Technik, nämlich die Elektrizität, als sinnfälliges Beispiel heranzogen: Die gleichzeitige Einheit und Gegensätzlichkeit von positiver und negativer Ladung diente ihm als Paradigma, um die Dialektik des Absoluten zu veranschaulichen.

Der Verfasser des vorliegenden Buches bringt es dagegen fertig, eine philosophische Betrachtung über das "Ereignis Technik" zu schreiben, ohne daß von Technik die Rede ist. Gewiß: Das Wort taucht viele Male auf. Es bleibt aber ohne Inhalt. Es wird in keiner Weise konkretisiert. Es erweckt den Anschein einer bloßen Worthülse, bestenfalls den eines Synonyms für "Kultur".

"Was heißt Technik? Wir wissen es nicht", schreibt er bedeutungsschwanger, um nicht minder sibyllinisch fortzufahren: "Kein neuer Sachverhalt ist in der Frage nach der Technik angesprochen, sondern ein bisher unbegriffener. Die volle Gestalt der Technik ist gerade in der Zerstörung der Welt gegenwärtig, ruft sie diese doch hervor."

Im Grunde geht es dem Verfasser wohl auch gar nicht um die Technik. Vielmehr geht es ihm um die "Wahrheit", die er als Opfer der Technisierung sieht: "In der postmodernen Welt, am Beginn der totalen Technisierung der Erde, hat sich Wahrheit aus Öffentlichkeit und Politik zurückgezogen." - Wer würde da schon guten Gewissens das Gegenteil behaupten! Aber was ist Wahrheit? Wann hat es sie jemals in Öffentlichkeit und Politik gegeben? Wo liegt hier der philosophische Anspruch bzw. der Unterschied zum gängigen Lamento über die Verderbtheit der Welt?

Manchmal klingt ein Satz recht vielversprechend wie dieser: "Die Trennung von Natur und Technik ist im Hinblick auf den Menschen unsinnig geworden. Denn Technik erweist sich als Natur des Menschen." Der Leser hofft jedoch vergebens auf nähere Ausführungen. Er wird so z.B. im unklaren darüber gelassen, ob der Autor vielleicht die traditionelle Gegenüberstellung von (geistiger) Kultur und (technischer) Zivilisation in Frage stellen möchte oder die Technisierung im Sinne von "Verdinglichung" im Auge hat. Schon gar nicht findet man konkrete philosophische Probleme der Technik angesprochen - etwa die seit Helmholtz strittige Frage, ob und wieweit sich der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, wonach in einem geschlossenen System die Entropie irreversibel zunimmt, auf den Kosmos, das Sonnensystem, irdische Umweltbedingungen oder gesellschaftliche Systeme übertragen läßt.

Aber es liegt wohl am Leser, wenn er mit den Ausführungen des Autors nicht zufrieden sein sollte, denn: "Geduldig und einfühlsam müssen die Worte vernommen werden. Sie bleiben mehrdeutig und sind als solche zu achten. Der Zwang zur Festlegung gilt nicht." - So ähnlich könnte ein Guru im Kreis seiner Jünger sprechen. Und man versteht nun auch vielleicht, weshalb auf dem Einband der Name des Verfassers siebenmal größer gedruckt ist als der eigentliche Titel...

Was dem Leser als schlichtes Unvermögen zur Veranschaulichung von blutleeren Abstraktionen erscheinen mag, erhebt allerdings Anspruch auf Methode: Nämlich auf die von Husserl begründete Methode der "phänomenologischen" Reduktion von Wirklichkeit, die jede realistische Feststellung über das Gegebene aufhebt und dazu führt, das Subjekt als Ursprung des Sinnes zu betrachten. Salopp gesagt läuft das Konzept darauf hinaus, den ganzen Begriffs-, Fakten- und Literaturkram erst mal gründlich zu vergessen, um in der subjektiven Zwiesprache mit dem Objekt - hier dem "Ereignis Technik" - zur Sache selbst zu gelangen.

Der Autor fühlt sich dabei ganz besonders Heidegger verpflichtet, dessen Technikphilosophie er wie eine Monstranz vor sich herträgt. Außerdem beruft er sich auf Husserl, Merleau-Ponty und Sartre sowie auf Spinoza und Hegel. Im Fall der beiden letztgenannten dürften Zweifel angebracht sein, ob solche Berufung nicht reichlich gewaltsam stattfindet. Bei den anderen mögen die Schuhe immer noch zu groß sein, doch stimmt hier die Traditionslinie schon eher. Immerhin bieten sie anschauliche Beispiele für die Tücken, die in der "phänomenologischen" Reduktion von Wirklichkeit liegen. Schon Husserl hat bei seinem Versuch, die Philosophie aus der Faktenhuberei des Positivismus zu befreien, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Seine ganzheitliche Sichtweise genügt sich letzten Endes als Selbstzweck. Er rettet die reine Theorie, indem er das Allgemeine vom Besonderen abkoppelt und insofern hinter Hegel zurückfällt. Die Verbindung zwischen beiden Bereichen wird dadurch mehr oder weniger willkürlich. So gelangte Heidegger bei seiner inneren Wesensschau sogar zur Verklärung des personifizierten Unwesens: Er sah in Hitler den Genius, der dazu bestimmt sei, das deutsche Volk aus der Verkommenheit wurzellosen und ohnmächtigen Denkens herauszuführen. Und Merleau-Ponty ästhetisierte den Terror Stalins, indem er die Mos-kauer Prozesse in ein großartiges Historien-Gemälde von erlesener Tragik umdeutete.

Das existentialistische Lebensgefühl der vierziger Jahre hat aus dem Verlust aller verbindlichen Werte die Freiheit und Notwendigkeit subjektiver Sinngebung abgeleitet. Es war zugleich eine Reaktion auf den dogmatischen Marxismus, den Sartre als die Subjektivität derjenigen erkannte, die sich ihre Subjektivität nicht eingestehen wollen. Heute scheint der bekennende Subjektivismus im Zeichen der Postmoderne eine Neubelebung zu erfahren. Mit dem Glauben an Aufklärung, Wissenschaft und Fortschritt schwindet auch das Vertrauen in die Technik als zentraler Wert der Moderne. Die Technik wird nicht mehr eo ipso als gut, sondern zunehmend als problematisch empfunden. Umstritten sind nicht mehr bloß einzelne Bereiche und Anwendungen, sondern die Technik an sich. Dieses Unbehagen geht offenbar schon so weit, daß man ein Buch mit philosophischem Anspruch über das "Ereignis Technik" schreiben kann, ohne sich dabei konkret auf Technik einzulassen.

(PB 11/91/*leu)