PresseBLICK-Rezensionen | Politik, Zeitgeschehen |
Als die SED zur PDS mutierte, gab es eine ganze Reihe von Altlasten, die sie keinesfalls länger mitschleppen wollte. Neben Erich Honecker oder Egon Krenz gehörte dazu auch der Chefkommentator des DDR-Fernsehens, Karl-Eduard von Schnitzler, der noch kurz vor dem Ende des SED-Regimes die ostdeutschen Demonstranten als "Schreihälse ohne Köpfe" beschimpft hatte und das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking als "Sud von Erfindungen und Verleumdungen" darzustellen versuchte.
In vieler Hinsicht ist Schnitzler aber durchaus typisch für die weniger prominenten Stalinisten, die der PDS weiterhin angehören. Und wo er es nicht ist, besitzt er wenigstens jenen bizarren Unterhaltungswert, der die Wende-Demonstranten zu der Forderung "Schnitzler in die Muppet-Show!" veranlaßte.
Wie sich Schnitzlers Autobiographie entnehmen läßt, begann sein Lebenslauf für einen proletarischen Klassenkämpfer völlig untypisch: Als Kind schaukelte er schon mal auf den Knien des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer, wenn dieser als Präsident des Preußischen Staatsrats in Berlin weilte und dabei aus alter Verbundenheit den Papa besuchte. Die Familie besaß eine hochherrschaftliche Villa im vornehmen Stadtteil Dahlem. Tante Hedwig, die eine Tochter des Lokomotivenkönigs Borsig war, wohnte sogar in einem richtigen Schloß. Er selber habe jedoch nie ein Schloß besessen, dementiert Schnitzler Legenden, die in der DDR über ihn verbreitet worden seien (daher der Titel des Buches). Ersatzweise überrascht er die Leser mit der Enthüllung, daß seine Urgroßmutter außerhalb ihrer Ehe mit dem Magensalz-Fabrikanten Bullrich vom Kronprinzen Friedrich Wilhelm höchstpersönlich geschwängert worden sei. Demnach hätte er echtes blaues Blut in den Adern und wäre der illegitime Urenkel von Kaiser Friedrich III., der nach seiner langen Kronprinzenzeit im Jahr 1888 den Thron bestieg und bis zu seinem Tod nur noch 99 Tage regierte.
Wie man sieht, ging es in der Familie des Geheimen Legationsrats Schnitzler ziemlich großbürgerlich-feudal zu. Kurz vor dem ersten Weltkrieg wurde der Legationsrat für seine Verdienste als Diplomat sogar geadelt und durfte sich seitdem "von" schreiben. Sein jüngster Sohn Karl-Eduard kam 1918 auf die Welt, als die Monarchie zusammenbrach und auch sonst etliches zu Bruch ging. Zum Beispiel verlor der Vater in der Inflation sein Vermögen und mußte die schöne Villa verkaufen. Vielleicht schlug Karl-Eduard deshalb so arg aus der Art: Schon als Jüngling begeisterte er sich für die KPD, trug Plakate für Ernst Thälmann spazieren oder verhalf seiner kommunistischen Jugendgruppe zur Zeltgelegenheit in Tante Hedwigs Schloßpark. "Trotz dieser Sippschaft bin ich Kommunist geworden", schreibt er stolz.
Daß sich Schnitzler junior zum Kommunisten entwickelte, könnte man ihm unter den damaligen Umständen sogar positiv anrechnen. Das ging etlichen anderen Sprößlingen des Bürgertums genauso, von Bert Brecht und Johannes R. Becher bis zu Ernst Bloch, Alfred Kantorowicz oder Hans Mayer. Daß er es geblieben ist, läßt allerdings Zweifel an seinen charakterlichen wie an seinen geistigen Fähigkeiten aufkommen: Weder zählte er zu denen, die sich entschieden von der Pervertierung ihrer sozialistischen Ideale durch den Stalinismus distanzierten, wie dies Bloch, Kantorowicz und Mayer taten, noch hat er den Konflikt wenigstens verdeckt ausgetragen, wie dies beim späten Brecht sehr deutlich und ansatzweise sogar beim DDR-Kulturminister Becher der Fall war. Nein: Karl-Eduard von Schnitzler wurde und blieb ein unverbesserlicher Stalinist.
In der DDR war Schnitzler als "Sudel-Ede" bekannt. Diesen Spitznamen erwarb er sich redlich als langjährige journalistische Stütze des SED-Regimes, von den Anfängen unter Ulbricht bis zum Ende unter Honecker. Zunächst war er Chefkommentator des "Deutschlandsenders". Ab 1960 moderierte er dann fast dreißig Jahre lang im DDR-Fernsehen eine Sendung mit Ausschnitten aus dem West-Fernsehen, die er mit süffisantem Lächeln und klassenkämpferischem Pathos kommentierte. Auf diese Weise wollte die SED den starken Einfluß des Westfernsehens konterkarieren, das fast überall empfangen werden konnte und sich weit größerer Beliebtheit erfreute als die eigenen Programme. Zumindest sollte "Der Schwarze Kanal", wie die Sendung hieß, den eigenen Genossen die propagandistische Marschroute verdeutlichen und Argumentationshilfe leisten. Die normale Bevölkerung reagierte dagegen eher allergisch, wenn Sudel-Ede auf dem Bildschirm erschien. Einem DDR-Witz zufolge hatte Schnitzler einen Nachbarn, der ihn immer nur mit "Herr Schnitz" ansprach. Von Schnitzler auf den richtigen Namen hingewiesen, meinte der Nachbar: "Da sehen Sie, wie schnell ich immer abschalte, sobald ihr Gesicht erscheint."
Auch im Westen war Schnitzler der wohl bekannteste Öffentlichkeitsarbeiter des SED-Regimes. Er soll hier sogar regelrechte Freaks gehabt haben, die den "Schwarzen Kanal" mit einem gewissen perversen Vergnügen genossen - ähnlich wie Kampfhunde-Besitzer, wenn sich ihre Pitbulls zerfleischen. Schnitzler war der rassigste Pitbull im journalistischen Zwinger des SED-Regimes. Wenn er sich etwa mit Gerhard Löwenthal vom "ZDF-Magazin" fetzte, war das ein Schauspiel ganz eigener Art. Außerdem bot Schnitzler nicht nur Hardcore-Demagogie: Gelegentlich trafen seine sarkastischen Kommentare durchaus ins Schwarze.
Die erste Auflage seiner Autobiographie veröffentlichte der alte Kampfhund 1988, also kurz vor dem Ende der DDR. Die zweite, so schreibt er, sei durch den Fall der Mauer "ins christliche Abendland und folglich in den Reißwolf" geraten. Der nunmehr dritten Auflage habe er nur unter der Bedingung zugestimmt, daß kein Wort verändert werde - bis auf ein Nachwort aus heutiger Sicht. Aber Schnitzler wäre nicht Schnitzler, wenn nicht auch dieses Nachwort aus dem Jahre 1995 fast genauso klingen würde, als habe er es noch zu DDR-Zeiten verfaßt: Es ist eine einzige Suada gegen die "Antikommunisten", die nach ihrem Triumph über den "ersten deutschen Friedensstaat" nun erst recht dessen Errungenschaften verleumden und "in ihrem Besatzungsgebiet genüßlich Rache" nehmen würden. Schnitzler entblödet sich nicht einmal, die Etikettierung als "Stalinist", die seinesgleichen ja nun wirklich verdient hat, mit dem Gelben Stern zu vergleichen, den die Juden unter dem Nazi-Regime tragen mußten.
Schnitzler hält sich anscheinend deshalb für keinen Stalinisten, weil er sich natürlich ebenfalls vom "Personenkult" und von der "Verletzung Leninscher Normen" distanziert, wie dies seit der Verurteilung Stalins durch Chruschtschow die allgemeine Parteilinie war. Damit zeigt er aber nur, daß er das eigentliche Wesen des Stalinismus nicht begriffen hat. Ebenso, wenn er dem Ulbricht-Regime zugute hält, daß es "in unserer Republik auf der Grundlage des Stalinschen Personenkults kein Todesurteil" gegeben habe. - Als ob die "Mutter der Massen", wie die SED im berühmt-berüchtigten Parteilied umschrieben wird, ihre schützende Hand wenigstens über die deutschen Genossen gehalten habe. Und als ob der Spitzbart einen Deut besser gewesen wäre als die anderen Statthalter des Kreml.
Das Buch enthält auch etliche Fotos aus dem Familienalbum: So sieht man den Unterschied zwischen der großen Villa in Berlin-Dahlem, in der Schnitzler geboren wurde, und dem eher bescheidenen Reihenhaus, in das seine Eltern nach dem ersten Weltkrieg umziehen mußten. - Soziale Verelendung auf hohem Niveau. Die Depravierung des deutschen Bürgertums durch Krieg, Inflation und Wirtschaftskrise war die wichtigste Ursache für den Aufstieg der NSDAP. Wie Schnitzlers Vita zeigt, hat sie aber auch einige Bürgerliche in die Reihen der KPD geführt.
Eine wichtige Rolle spielte dabei sein älterer Bruder Hans, den Schnitzler selbst als seinen "ideologischen Vater" bezeichnet. Dieser Hans hatte sich noch früher als er für die marxistisch-leninistische Ersatzreligion begeistert. Nach der Schilderung seines jüngeren Bruders muß er ein richtiger Bilderbuch-Kommunist gewesen sein, der nur für die Partei lebte und im kommunistischen Widerstand gegen die Nazis Kopf und Kragen riskierte. - Dennoch wurde Hans von den Sowjets nach Kriegsende beschuldigt, ein Nazi-Kriegsverbrecher gewesen zu sein, und anscheinend sehr übel behandelt. Schnitzler spricht beschönigend von einer "bitteren Dialektik", die sein Bruder habe erleben müssen. Im Unterschied zu vielen anderen deutschen Kommunisten, die im Land ihrer Träume einen Kopf kürzer gemacht wurden, hatte Hans freilich noch Glück: Er wurde rehabilitiert und gesundgepflegt. Und wie viele Opfer des stalinistischen Terrors, die trotz Folter und sicherem Tod verzweifelt nach einem höheren Sinn in den absurden Vorwürfen ihrer Ankläger suchten, sagte er bei seiner Entlassung demütig zum Kommissar: "Wenn ich wirklich derjenige gewesen wäre, für den ihr mich gehalten habt, habt ihr mich noch zu gut behandelt." Und als ihn sein Bruder Karl-Eduard in der Heimat vom Zug abholte, lautete die erste Frage von Hans: "Wie stehst du zur Sowjetunion?"
Mag sein, daß Sudel-Ede auch bei der Schilderung von Bruder Hans ein bißchen nachgeholfen und seine Autobiographie mit einem kräftigen Schuß "sozialistischem Realismus" geschönt hat. Im Prinzip ist aber jenes Verhaltensmuster, wie er es an seinem Bruder beschreibt, für die Psychologie von Stalinisten durchaus typisch. Solche Gläubige kann nichts erschüttern: Selbst wenn sie von den eigenen Genossen aufs Rad geflochten werden, hat das für sie irgendwie seine "objektive" Berechtigung oder ist wenigstens als Mißverständnis entschuldbar. Zum Glück mußte Hans wenigstens nicht mehr erleben, daß sein eigener Sohn Fabian einen Ausreiseantrag stellte und 1988 in den Westen übersiedelte ...
Dem jüngeren Bruder Karl-Eduard blieb derart "bittere Dialektik" erspart. Den Nationalsozialismus überstand er einigermaßen glimpflich. Als Soldat der Wehrmacht wechselte er im passenden Moment die Fronten. Die britische Besatzungsmacht verhalf ihm zu einem einflußreichen Posten als Kommentator beim "Nordwestdeutschen Rundfunk". Der beginnende Kalte Krieg fegte dann alle echten oder vermeintlichen Kommunisten wieder aus ihren Ämtern. So landete Schnitzler 1947 in der sowjetischen Besatzungszone, die ab 1949 als Deutsche Demokratische Republik firmierte, und wurde zu jenem Sudel-Ede, wie ihn alle Welt kennt.
Eines der jüngsten Fotos im Buch zeigt Schnitzler, wie er 1988 aus den Händen des ZK-Sekretärs für Agitation und Propaganda, Joachim Hermann, den Karl-Marx-Orden empfängt. Da sieht man sie alle auf einem Fleck, die Bonbon-geschmückten Öffentlichkeitsarbeiter der Einheitspartei: Neben Hermann steht der ZK-Abteilungsleiter Geggel, der hinter vorgehaltener Hand auch "Geggels" genannt wurde, weil er wie ehedem Goebbels die parteiamtlichen Sprachregelungen an die Chefs der DDR-Medien ausgab. Am rechten Bildrand komplettiert die Szene Heinz Adameck als oberster Chef des DDR-Fernsehens.
Unter der Fuchtel dieser Herren, die sich nur noch in die eigene Tasche logen, herrschten in Presse, Funk und Fernsehen der DDR teilweise Verhältnisse, wie sie Aldous Huxley oder Franz Kafka nicht besser hätte erfinden können: Die Zeitungen verbreiteten sprachlich wie inhaltlich eine unsägliche Tristesse. Unvergessen bleibt jene Ausgabe des SED-Zentralorgans "Neues Deutschland", in der das Konterfei des großen Vorsitzenden Honecker schätzungsweise vierzigmal abgedruckt wurde. Funk und Fernsehen waren ein bißchen besser gemacht, hatten aber in der direkten Auseinandersetzung mit den westlichen Sendern keine Chance, höhere Einschaltquoten oder gar Glaubwürdigkeit zu erlangen. - Die SED wußte natürlich und ging sogar davon aus, daß die Bevölkerung sich in erster Linie aus westlichen Quellen informierte und den eigenen Medien gründlich mißtraute. Unter diesen Umständen oblag dem von Hermann und Geggel geleiteten Apparat im wesentlichen nur noch die Aufgabe, den Parteigenossen und Bürgern zu signalisieren, was offizieller Gesprächsstoff war und was gefälligst im Hinterkopf zu bleiben hatte. Eine Bewußtseinsspaltung, die zu Servilismus und Zynismus führen mußte.
Sogar Schnitzler scheint den Oberagitator Hermann für eine ziemliche Knalltüte gehalten zu haben, denn in der Bildzeile behauptet er, anläßlich der Dankesworte für den Orden auch "herbe Kritik" an der Informationspolitik geübt zu haben. In der Erstauflage des Buches hätte ein solcher Satz garantiert nicht gestanden.
Im Unterschied zu Hermann hält Schnitzler wenig davon, Dinge unter den Teppich kehren zu wollen, um die sowieso jeder weiß. Zum Beispiel seinen eigenen, schlechten Ruf. Da packt er den Stier doch lieber gleich bei den Hörnern: Den Witz vom "Herrn Schnitz" erwähnt er in seiner Autobiographie genauso wie den Spitznamen Sudel-Ede, den er freilich als "Ehrennamen" verstanden wissen möchte. Auch macht er aus der Vielzahl seiner Frauengeschichten, die ihm den Ruf eines Schürzenjägers eintrugen, kein Geheimnis. Er sei fürwahr "kein Kostverächter" gewesen, bekennt er. Nur: Ganz so schlimm, wie man es sich erzähle, habe er es doch nicht getrieben. Sonst hätte sicher die Partei interveniert. Rückblickend scheint der Klassenkämpfer Schnitzler aber doch ganz schön stolz darauf zu sein, neben dem Klassenfeind auch viele Frauen aufs Kreuz gelegt zu haben. Anscheinend kommt da die Blutsverwandtschaft mit Kronprinz Friedrich Wilhelm durch, der auch kein Kostverächter war ...
(PB 10/98/*leu)