PresseBLICK-Rezensionen Politik, Zeitgeschehen



Robert Kurz

Der Kollaps der Modernisierung

Leipzig 1994: Reclam Leipzig, 330 S., DM 24.-


Eigentlich ist Karl Marx für mausetot erklärt worden, aber in diesem Buch - und nicht nur in diesem - scheint er schon wieder ganz lebendig zu sein. Für Kenner seines Werkes nicht weiter verwunderlich: Es war für sie schon immer ein Trugschluß, die Philosophie von Marx mit der tumben Staatsreligion des untergegangenen östlichen Systems gleichzusetzen und deshalb für genauso obsolet wie den "Marxismus-Leninismus" zu halten.

Das gilt in besonderem Maße für ein Konstrukt, das Marx in seinen frühen Schriften - mit einem von Hegel entlehnten Begriff - als "Entfremdung" bezeichnet. In der Einleitung zu seinem Hauptwerk, dem "Kapital", wird daraus die Theorie des "Warenfetischismus". Danach nehmen in der kapitalistischen Gesellschaft alle materiellen und geistigen Werte unaufhaltsam Warencharakter an. Unverwechselbare Qualitäten werden zu austauschbaren Quantitäten und aus Persönlichkeiten werden "Charaktermasken". Das Bewußtsein des modernen Menschen unterliegt gewissermaßen - um einen zeitgemäßen Vergleich zu nehmen - einer schleichenden Digitalisierung. Im binären System des Warendenkens wird alles auf Mark und Pfennig reduziert. Am Ende steht jene subtile Form der Verblödung, die Horkheimer/Adorno in ihrer "Dialektik der Aufklärung" als "verdinglichtes Bewußtsein" bezeichnen und in eine neue Barbarei münden sehen.

Für den Partei-Marxismus völlig unverdaulich

Die parteioffiziellen Interpreten des "Marxismus", von Kautsky bis Lenin, konnten mit diesen kryptischen Überlegungen des ansonsten hochverehrten Meisters nie etwas anfangen. Sie paßten einfach nicht zu ihrem Credo, wonach der Sozialismus endgültig den Schlüssel zum Glück der Menschheit gefunden hatte. Die Entfremdung kann nämlich durch eine Verstaatlichung der Produktionsmittel nicht aufgehoben werden, da sie schlechthin eine Folge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist. Auch der "realexistierende Sozialismus" war, so gesehen, nur eine andere Version der entfremdeten Warengesellschaft, und eine ziemlich verkorkste hinzu. Die "Entfremdungsdebatte", die in den siebziger Jahren unter Intellektuellen der östlichen Länder einsetzte, wurde deshalb von den Hohenpriestern des "Marxismus-Leninismus" brutal abgewürgt. Wer sich mit diesem Aspekt der Marxschen Schriften befaßte, galt als ideologischer Diversant und Knecht des Imperialismus.

Der Zusammenbruch des östlichen Systems als Menetekel für den Westen

Der Nürnberger Philosoph und Wirtschaftshistoriker Robert Kurz nimmt die hier skizzierte Theorie des Warenfetischismus zum Ausgangspunkt seines Buches. Er sieht in ihr den psychologischen Mechanismus, der die moderne Gesellschaft mit derselben fatalen Gesetzmäßigkeit, mit der er ihren weltweiten Siegeszug bewirkte, nunmehr ihrem Untergang entgegentreiben läßt. Er entwirft ein apokalyptisches Szenario, in dem der Zusammenbruch des östlichen Systems nur das Vorspiel zum Zusammenbruch des westlichen Systems bildet. Er meint, daß das kapitalistische Wirtschaftssystem nunmehr endgültig an seine Grenzen stoße, weil die Logik des Geldes sich selbst zu untergraben beginne. Die "fürchterliche Banalität des Geldes und seiner tautologischen Selbstbewegung" sei kontraproduktiv geworden. Sie habe eine desintegrierende Wirkung auf die Gesellschaft. Selbst die OECD-Länder bekämen ihre wirtschaftlichen Probleme nicht mehr in den Griff, ganz zu schweigen vom allgemeinen Werteverfall, Kriminalität, Korruption und sonstigen Formen dessen, was Emile Durkheim im Begriff der "Anomie" zu fassen versucht hat.

Der "realexistierende Sozialismus" ist für Kurz nur ein mittlerweile abgestorbener Seitentrieb am lebendigen Baum des Kapitalismus. Er entpuppt sich für ihn als "vorbürgerliches, steckengebliebenes Übergangsregime zur Moderne, als ein saurierhaftes Fossil aus der heroischen Zeit des Kapitals". Das östliche System habe nie eine Alternative zum Kapitalismus geboten, sondern sei lediglich der Versuch einer "nachholenden Modernisierung" gewesen - ein Versuch, der mit barbarischen Methoden und massiven ideologischen Selbsttäuschungen einherging. Der Ost-West-Konflikt lasse sich, was die ideologische Seite betrifft, "als eine Art Mißverständnis lesen, als Auseinandersetzung zweier ungleichzeitiger historischer Stufen ein und desselben warenproduzierenden Systems". Entsprechend habe nicht der westliche Kapitalismus das östliche System besiegt, sondern die nachholende Modernisierung des sowjetischen Typs sei gescheitert.

Die naive Zuversicht, mit der nun Rußland und andere ehemals kommunistische Staaten ihr Heil in der freien Wirtschaft suchten, sei nur eine weitere gigantische Selbsttäuschung. In Wirklichkeit hätten sie keinerlei Chancen, den historischen Vorsprung des Westens jemals auszugleichen. Vielmehr drohe ihnen dasselbe Schicksal wie den Entwicklungsländern, deren Versuch einer nachholenden Modernisierung auf kapitalistischem Weg fast überall in eine hoffnungslose Misere geführt habe.

Etatismus gegen Monetarismus

Während die Verelendung bei den Zuspätgekommenen der Modernisierung unaufhaltsam zunehme, verschärften sich auch im Klub der hochindustrialisierten Länder die inneren Probleme: Davon zeuge etwa der Umstand, daß steigende Produktivität nicht mehr zusätzliche Beschäftigung, sondern steigende Massenarbeitslosigkeit bedeutet. Ein deutliches Krisenzeichen seien auch wirtschaftspolitische Roßkuren à la Reaganomics und Thatcherismus, die den Teufel mit dem Beelzebub austrieben. Im Bemühen, einen Ausweg aus der Dauerkrise zu finden, verhedderten sich die OECD-Staaten zunehmend zwischen monetaristischen und etatistischen Tendenzen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Mit Ausnahme der Bundesrepublik, Japans und der fernöstlichen "vier kleinen Tiger" zehrten schon jetzt alle nur noch von der in der Vergangenheit angehäuften Substanz. - Düster prophezeit Kurz: "Der globale Vernichtungs- und Verteilungskampf wird nirgendwo eine marktwirtschaftliche Insel der Seligen aussparen."

Auch die Linke wirft in diesem düsteren Szenario keinen Lichtschein mehr. Für die "Arbeiterbewegungs-Marxisten" hat Kurz nur Hohn und Spott übrig: Sie hätten das Wesen des kapitalistischen Systems nie begriffen und gingen noch immer mit den alten Klassenkampf-Schemata hausieren. So würden sie dem Kapitalismus noch immer seine "Ausbeutung" der Dritten Welt vorwerfen, während das eigentliche Problem der unterentwickelten Länder doch gerade darin bestehe, daß der Kapitalismus "ausbeutungsunfähig" geworden sei...

Hoffnung auf eine "dritte Kraft"

Das Buch erschien bereits 1991 in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen "Anderen Bibliothek". Die vorliegende Taschenbuch-Neuausgabe ist damit aber nicht identisch, sondern wurde um einen späteren Aufsatz des Autors erweitert, der zuerst in der ostdeutschen Ästhetik-Zeitschrift "Sinn und Form" erschien. Unter dem Titel "Die Dritte Kraft" läßt er am düsteren Horizont einen Silberstreif des Prinzips Hoffnung aufleuchten. Fast inbrünstig beschwört der Verfasser hier die Notwendigkeit eines dritten Weges jenseits des heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das sich sonst unweigerlich selber zerstören müsse, weil es nur der Logik des Profits und nicht den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen folge.

Dieses flammende Plädoyer für eine "dritte Kraft" weckt Erinnerungen und gemischte Gefühle: Zum Beispiel an Walter Rathenau, der in seinem 1916 erschienenen Buch "Von kommenden Dingen" eine Gemeinwirtschaft propagierte, die das private Erwerbsstreben dem Allgemeininteresse unterwirft, und der damit unter anderen den NSDAP-Mitbegründer Otto Strasser stark beeindruckt hat. Oder an Moeller van den Bruck, der seinerzeit ebenfalls die Überwindung des Koofmich-Geistes verkündete und ein neues Gemeinschaftsideal propagierte. Der Titel seines 1923 erschienenen Buches sollte ursprünglich "Die dritte Partei" lauten und wurde dann in "Das Dritte Reich" geändert. In dieser Form knüpfte der Titel an einen uralten Chiliasmus an, der in der christlichen Religion wurzelt, und lieferte das Schlagwort, mit dem der Hitler-Staat sich später selbst glorifizierte. Manche halten deshalb Moeller van den Bruck für den geistigen Vater des realexistierenden Dritten Reichs. So simpel liegen die Dinge sicher nicht. Aber ein gewisser Erklärungsbedarf besteht schon, wenn heute jemand wieder für eine "dritte Kraft" zur Überwindung der ausweglosen Verhältnisse plädiert. Der Verfasser hätte deshalb gut daran getan, sich mit den Vorläufern seiner Hoffnungen auf eine "dritte Kraft" auseinanderzusetzen und gegebenenfalls die Unterschiede deutlich zu machen.

Wer mit Marxschen Kategorien nicht vertraut ist, dürfte etwas Mühe haben, die theoretische Grundlage zu verstehen, von welcher der Verfasser ausgeht. Die Theorie des Warenfetischismus liefert ihm zwar den festen Punkt des Archimedes, von dem aus die ganze Welt aus den Angeln gehoben werden kann, wird aber selber nicht eingehender erklärt oder gar kritisch untersucht. Das ist durchaus legitim, weil es einerseits diesen festen Punkt des Archimedes nicht gibt und weil andererseits kein vernünftiger Gedanke zustande kommt, wenn man die eigenen Prämissen unendlich lange relativiert. Nur darf man das, was am Ende dabei entsteht, nicht für ein Evangelium halten. Diesem Irrtum könnte wohl mancher Leser erliegen, der die sehr apodiktisch vorgetragenen Gedanken des Verfassers als der Weisheit letzter Schluß mißversteht, statt sie als Anregung für eigenes Denken zu begreifen.

Unter diesem hermeneutischen Aspekt hat Kurz ein Buch geschrieben, das sowohl zum Nachdenken wie zum Widerspruch reizt und damit eine gelungene Provokation darstellt. Die elegische Melodie von der Dialektik der Aufklärung, die sich selbst verzehrt, wird hier ins Ökonomische gewendet und zum Schwanengesang auf die Marktwirtschaft, die sich selbst zerstört. Unter dem betont illusionslosen, analytischen Habitus des Autors glaubt man immer wieder den Moralisten und Idealisten zu erkennen, dessen Botschaft lautet: Eine Gesellschaft, die alle Werte in Mark und Pfennig auflöst, kann sich am Ende nur noch selber auflösen. So konsequent ist die Theorie des Warenfetischismus bisher noch nicht für eine Diagnose unserer Gesellschaft angewendet worden, die tatsächlich immer mehr der Anomie anheimzufallen scheint.

Kurz besticht durch eine klare, knappe Sprache, die den drögen Stil des akademischen Diskurses ebenso vermeidet wie feuilletonistische Schnörkeleien. Auch der beträchtliche Schuß Polemik stört nicht, sondern trägt wesentlich zur Faszination seines furiosen Essays bei. Er trifft einfach ins Schwarze, wenn er etwa die ehemalige DDR als "eine Mischung aus deutscher Post, permanentem Pfadfinderlager von der Wiege bis zur Bahre und militarisierter Kommandowirtschaft" bezeichnet - zumal er es eben nicht bei solchen griffigen Formulierungen beläßt, sondern akribisch aufzeigt, daß diese Art von "Sozialismus" im Grunde einen Rückfall in die merkantilistischen Ideen Fichtes vom "Vernunftstaat" und "geschloßnen Handelsstaat" darstellte.

Wie Friedrich Dieckmann in seinem einfühlsamen Vorwort bemerkt, ist das Buch zugleich eine Absage an das postmoderne Verbot, in großen Zusammenhängen zu denken. Freilich hat jedes generalisierende Denken auch seine Tücken. "Kurz liebt die große verbale Geste, die das Detail nicht selten zugunsten der Hauptlinie wegwischt", stellt Dieckmann fest. Man darf die so entstehenden Abstraktionen nicht verabsolutieren. Das hier entworfene Untergangs-Szenario ist wohl des Nachdenkens wert, aber keinesfalls von fataler Unausweichlichkeit.

(PB 9/94/*leu)