PresseBLICK-Rezensionen | Politik, Zeitgeschehen |
"Die Mauer ist weg, aber die Mauer in den Köpfen wächst", glaubte unlängst der "Spiegel" feststellen zu können. Unter den Ostdeutschen habe sich "eine depressive Stimmung verbreitet, wie sie Deutschlands Demoskopen noch nie und nirgends festgestellt haben".
Folgt man dem vorliegenden Buch, so war die Mauer in den Köpfen schon vorher da und die Grundstimmung in der ehemaligen DDR seit langem depressiv. Der Autor diagnostiziert bei den Ostdeutschen einen "Gefühlsstau". Die Ursache dafür sieht er in der unablässigen emotionalen Verkrüppelung, die das System seinen Untertanen zugemutet habe. Eigenschaften wie Spontanität, Offenheit, Ehrlichkeit, Eigenständigkeit, Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung und Mut zu eigenen Positionen hätten in der DDR als subversiv gegolten und seiem mit Nachdruck jedem ausgetrieben worden. "In diesem System konnte man nur mit einer charakterlichen Deformierung halbwegs überleben; gesundes Verhalten wäre unweigerlich bestraft worden."
Aus dem Munde eines Westdeutschen würden solche Urteile ebenso hart wie arrogant klingen. Maaz ist jedoch ehemaliger DDR-Bürger. Als Chefarzt der Psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle konnte er die Verhältnisse aus einer privilegierten Position beobachten. Wenn er über seine Landsleute urteilt, schließt er sich selbst keineswegs aus, sondern gibt zu bedenken, daß niemand sich den tristen, repressiven Verhältnissen gänzlich entziehen konnte.
Womit er sicher recht hat: Es gibt in keiner Gesellschaft perfekte Nischen, die "das richtige Leben im falschen" ermöglichen. Gesellschaftliche Verhältnisse sind immer total. In der ehemaligen DDR waren sie überdies totalitär. Die "Entfremdung", von der Maaz des öfteren spricht, war hier auf Schritt und Tritt zu spüren, als hätten Kafka und Orwell gemeinsam einen Roman geschrieben. Die Hohenpriester des "Marxismus-Leninismus" wußten wohl, weshalb sie alle Schriften von Marx, in denen der Begriff der Entfremdung auftaucht, als Apokryphen behandelten und aus der Parteiliturgie verbannten.
Die Entfremdung, wie Maaz sie versteht, orientiert sich freilich nicht an Marx, sondern an psychoanalytischen Vorstellungen. Maaz glaubt, daß es so etwas wie eine eigentliche Natur des Menschen gebe, die im "Unbewußten" verankert sei und erst durch die Zwänge der Gesellschaft deformiert werde. "Das Unbewußte bestimmt das Sein!" postuliert er in bewußter Umstülpung der philosophischen Maxime von Marx. Im Grunde läuft diese Sichtweise aber ebenso, wie in der Entfremdungstheorie von Marx, auf den alten Gegensatz zwischen menschlicher Natur und gesellschaftlichen Zwängen hinaus, den bereits Rousseau behauptet hat. Die Romantiker haben dann am einen Pol dieses Gegensatzes das "Unbewußte" entdeckt, das noch etwas später die Psychoanalytiker zum Grundstein einer vermeintlich wissenschaftlichen Seelentheorie erkoren. Die berechtigte Frage, ob die Psychoanalyse nicht eher der Ideologie als der Wissenschaft zugerechnet werden müsse, kann in diesem Fall dahingestellt bleiben. Entscheidend ist, daß ihr individualistisches Menschenbild mit dem Kollektivismus des SED-Staates unvereinbar war und daß sie dem Autor schon vor 1989 die notwendige kritische Distanz zum Autoritarismus des Systems ermöglichte.
Die Ereignisse des Jahres 1989, die schließlich das ganze System zusammenbrechen ließen, sieht der Autor als einen "Aufstand der Neurose": Zunächst mal seien die Herrschenden ihrem eigenen Minderwertigkeitsgefühl und Souveränitäts-Tick zum Opfer gefallen, indem sie darauf bestanden, die Züge mit den DDR-Flüchtlingen aus Ungarn, Polen und der CSSR unbedingt über die DDR in den Westen fahren zu lassen. Sie hätten so die lächerliche Fassade einer genehmigten Ausreise wahren wollen. Für die zurückbleibenden Untertanen habe es jedoch die Grenzen des Zumutbaren überschritten, daß man für dasselbe "Delikt" entweder erschossen oder mit freiem Geleit geehrt werden konnte. "Diese Kränkung der Etablierten und Angepaßten, der Oppositionellen und der Utopisten, die ja alle im Lande bleiben wollten und sowieso schon durch die Massenflucht beunruhigt waren, war nicht mehr zu überbieten", schreibt Maaz. Sie seien "im Zentrum der kollektiven Neurose getroffen und verletzt" und so zur Aufkündigung des Gehorsams gegenüber der SED-Obrigkeit getrieben worden.
In der Gewaltfreiheit, mit der das Ende der DDR vonstatten ging, kann Maaz nicht das Ergebnis einer gereiften politischen Haltung erkennen, "sondern vor allem den Ausdruck unserer neurotischen Gehemmtheit". - Einer Gehemmtheit, der zum Glück auch die Herrschenden unterlagen, möchte man hinzufügen. Denn zur blutigen Repression hätte deren Macht allemal noch gereicht.
"Ich liebe euch doch alle!" stammelte stattdessen der einst allmächtige Stasi-Chef Mielke. Maaz erklärt sich diesen grotesken Auftritt folgendermaßen: "Er hat diesen Satz in größer Bedrängnis und ganz offensichtlich nur infolge seiner inzwischen hirnorganisch bedingten emotional-verbalen Inkontinenz getan. So lallte aus ihm wohl seine tiefste Sehnsucht heraus, die er ein Leben lang in einem unmenschlichen System des verwalteten Mißtrauens kontrollieren mußte."
Für die relative Blüte des kulturellen Lebens in der ehemaligen DDR findet Maaz ebenfalls eine wenig schmeichelhafte Erklärung: Die unterdrückte Emotionalität habe dazu geführt, daß Bücher, Filme, Theaterstücke oder Lieder in der DDR eine "völlig überhöhte Bedeutung" genossen. Via Kulturkonsum habe die Bevölkerung eine "realitätsentfernte, sublimierte Emotionalität" ausleben können, die in der Realität unweigerlich mit den Zwängen des Systems kollidiert wäre.
Dabei habe der realexistierende Sozialismus an keiner Stelle glaubhafte und überzeugende Werte schaffen können, die über das profane Leistungs- und Wohlstandsdenken hinausreichten: "Der Fetischcharakter westlicher Waren war nicht mehr zu überbieten: Leere Bier- oder Coladosen wurden als Schmuckstücke auf die Schrankwand gestellt, Plastetüten mit Reklameaufschrift besaßen Handelswert, Westkleider machten Leute."
Wer die Verhältnisse in der ehemaligen DDR kennengelernt hat, wird solchen Passagen nur beipflichten können. Genau so war es: Die leeren West-Spirituosen auf dem Wohnzimmerschrank, der Rückzug auf die "Datsche" und in andere Refugien, die Schizophrenie zwischen Partei- und Privatsprache, das Spießig-Miefige in allen Bereichen, die allgegenwärtige Geducktheit und Gehemmtheit, die Angst vor jeglicher Spontanität, die unsägliche Tristesse des Alltags...
Aber es gab auch die andere DDR, die bei der bitter-selbstkritischen Bilanz, wie Maaz sie zieht, etwas zu kurz kommt: Die Jugendlichen etwa, für die ein Urlaub in Ungarn, der "fröhlichsten Baracke im sozialistischen Lager", das Allerhöchste war. Die Träumer, die sich 150 Jahre rückwärts in die Romantik stürzten, um dort wenigstens etwas von dem geistigen Freiraum zu finden, der ihnen in der Gegenwart verwehrt blieb. Die Intellektuellen mit und ohne Parteibuch, die hinter vorgehaltener Hand schon mal über die "Hauptverwaltung ewige Wahrheiten" lästerten. Oder das nach Hunderttausenden zählende Leserpublikum, das bei Christa Wolf das Sperrige, bei Brigitte Reimann die eigene Verzweiflung, bei Erwin Strittmatter das Oppositionelle oder bei Günter de Bruyn das Subversive herauszulesen vermochte - zwischen den Zeilen, versteht sich, denn die "völlig überhöhte Bedeutung", die Maaz an den kulturellen Produkten beobachtet, wäre für einen Westdeutschen gar nicht nachvollziehbar gewesen.
Die Mentalität der Deutschen in Ost und West divergierte besonders deutlich seit 1968: In der DDR hat es nie so etwas wie eine antiautoritäre Bewegung gegeben. Es konnte sie auch nicht geben, da das System selbst zaghafte Kritik unterdrückte (und so seine eigene Sklerose vorantrieb). Der realsozialistische Obrigkeitsstaat erzeugte Untertanen neuen Typs. Dabei konnte er nahtlos an alte autoritäre Strukturen anknüpfen. Es gab im Osten Deutschlands eine fast ungebrochene Kontinuität vom wilhelminischen Obrigkeitsstaat über Nazi-Diktatur und Ulbrichts Despotie bis zu Honeckers bürokratisch-verkalktem Spätstalinismus.
Schneller, als alle Welt erhofft oder auch befürchtet hat, ist Deutschland nun wieder vereinigt worden. Es dürfte aber noch einige Zeit vergehen, bis beide Teile auch innerlich zusammenwachsen. "Wessis" wie "Ossis" dämmert inzwischen, daß vier Jahrzehnte in unterschiedlichen Systemen nicht spurlos an der jeweiligen Mentalität vorbeigegangen sind. Das Buch von Maaz ist insofern ein Glücksfall, als hier jemand die Seelenlage der ehemaligen DDR aus intimer Kenntnis wie aus der nötigen Distanz zu beschreiben vermag.
(PB 3/93/*leu)