PresseBLICK-Rezensionen PR, Werbung, Medien



Burkhard Müller-Ulrich

Medienmärchen - Gesinnungstäter im Journalismus

254 S., DM 36.80, Karl Blessing Verlag 1996


Einer weit verbreiteten Ansicht zufolge leben wir im Informationszeitalter. Daran stimmt immerhin soviel, daß man uns täglich mit einer Flut sogenannter Fakten überschüttet, die nicht nur völlig entbehrlich sind, sondern auch den Blick für Wesentliches verstellen. Die wuchernde Vielfalt der Presseerzeugnisse, Fernsehsender und Rundfunkveranstalter ist weithin eine Vielfalt des Blödsinns statt einer Vielfalt von Meinungen und Informationen. Und als ob es auf noch mehr Quantität anstelle von Qualität ankäme, surfen manche Zeitgenossen wie besessen durchs Internet - als ob sich aus dem Informationsmüll sämtlicher Erdteile auf wundersame Weise ein moderner Stein der Weisen herauskristallisieren würde.

Aber es wird ja niemand gezwungen, all den Quatsch im Fernsehen zu konsumieren, sich seine Meinung mit BILD zu bilden oder ein buntes Infotainment-Magazin für das Pflichtblatt der Info-Elite zu halten. Insofern könnte man sich beruhigt zurücklehnen und auf die Information durch seriöse Medien vertrauen, von denen es noch immer eine ganze Anzahl gibt. Vor allem das Niveau der Presse ist bei uns vergleichsweise hoch. Bei den Nachbarn stechen Blätter wie "Guardian", "Le Monde", "Repubblica" oder "New York Times" vor allem deshalb hervor, weil sie völlig untypisch sind. Die deutsche Presse verfügt dagegen gleich über mehrere solcher Flaggschiffe, denen ein ganzes Geschwader gediegener Regionalzeitungen folgt. Auch Lokalblätter sind bei uns in ihrer Berichterstattung weniger provinziell als in Frankreich oder den USA.

"Der Humbug braucht die Massenmedien wie der Vampir die Jungfrau"

Bei der Lektüre des vorliegenden Buches könnte einem freilich auch dieser Trost abhanden kommen. "Wir leben im Desinformationszeitalter", stellt der Verfasser gleich auf der ersten Seite fest. Das gelte nicht nur für das Fernsehen, das Enzensberger treffend als "Nullmedium" charakterisiert habe, sondern auch für den Journalismus im Radio und in der Presse, der noch mehr dem Logos verpflichtet sei. Der Humbug lauere überall, und gerade Journalisten gingen ihm auf den Leim. "Der Humbug möchte sich gedruckt, als Fernsehbild oder als Rundfunkreportage ausbreiten, er braucht die Massenmedien wie der Vampir die Jungfrau."

An dem Faktum, daß der Nachrichtenkreislauf nahezu schutzlos jeder Intoxikation preisgegeben sei, komme heute kein seriöser Journalist vorbei. Der Handlungsspielraum für seriösen Journalismus werde immer geringer. Der journalistische Nachwuchs lerne, daß es bei dem Metier in erster Linie darum gehe, einen Apparat nach Vorschrift zu bedienen: "Es geht um das routinemäßige Abfüllen von publizistischen Gefäßen wie Zeitungsspalten oder Sendeminuten."

Nachrichten als "Vehikel der Empörung"

Doch wäre es geheuchelt - so fährt er fort - , in den Journalisten nur die beklagenswerten Opfer einer Entwicklung zu sehen, die es ihnen immer schwerer macht, kompetent auf Nachrichten zu reagieren. Viele wollten gar nicht reagieren, sondern agitieren: Seitdem der Journalismus ein Tummelplatz für Friedensforscher, Menschenrechtler und Umweltschützer geworden sei, habe sich das Berufsbild drastisch verändert. Diese "Gesinnungsjournalisten" wüßten im voraus, was sie am Ende der Recherche schreiben oder sagen werden. Sie wollten vor allem Überzeugungsarbeit leisten, und die Nachrichten dienten ihnen hauptsächlich als "Vehikel der Empörung".

Die behauptete symbiotische Beziehung zwischen Humbug und Massenmedien verdeutlicht der Verfasser mit einer Reihe von Beispielen, die fast alle noch quicklebendig durch die Medien geistern. Den ersten Abschnitt seines Buches hat er doppelsinnig mit "Auf Klärung aus" überschrieben: Hier geht es um die phantasievolle Berichterstattung über das "Waldsterben", die aufgebauschten Schilderungen der Unglücksfolgen von Tschernobyl sowie um die Legende von den "Ersatzteilkindern", die angeblich in Ländern der dritten Welt frisch von der Straße weg gekidnapt werden, damit verbrecherische Ärzte ihnen für den internationalen Organhandel eine Niere oder die Hornhaut herausoperieren können.

Ein wahrer Kern sei bei solchen Meldungen sicher dabei: Unbestritten schadet Schwefeldioxid dem Wald, unbestritten hat sich in Tschernobyl eine Katastrophe ereignet, und unbestritten bedeutet in vielen Gegenden der Welt ein Menschenleben nicht viel. Aber die Wahrheit, so traurig und dramatisch sie an sich schon ist, genüge den Medien eben nicht. Den richtigen Nervenkitzel erzeugten erst Übertreibungen und pure Erfindungen.

Im Kapitel "Die Solidaritäter" nimmt der Verfasser den Gesinnungskitsch aufs Korn, wie er sich oft in Solidaritätsappellen, Lichterketten oder Mahnwachen manifestiert. Besonders graut ihm vor Schriftstellern, die hauptsächlich als Unterschrift-steller hervortreten. Generell will ihm nicht einleuchten, weshalb die Mitglieder der schreibenden Zunft besondere Privilegien gegenüber Bäckern und anderen Berufen beanspruchen wollen. Bissig durchleuchtet er ein famoses "Schriftstellerparlament", das sich pompös in der Europastadt Straßburg konstituierte, obwohl es von niemandem gewählt worden sei und ungefähr dieselbe demokratische Legitimation besitze wie die Volkskammer der ehemaligen DDR.

Solidaritäts- und Entrüstungskitsch am Beispiel von Taslima Nasrin und Abu-Jamal

Um zu zeigen, wie besinnungslos dieser Solidaritäts- und Entrüstungskitsch funktioniert, kratzt er am Glorienschein der Schriftstellerin Taslima Nasrin, die von den Medien zur geistigen Repräsentantin von Bangladesh stilisiert wurde, obwohl sie in ihrer Heimat anscheinend nur Schund verfaßt hat und auch nicht mehr Unterdrückung erdulden mußte als ganz gewöhnliche Landsleute. Im Falle des Hinrichtungskandidaten Abu-Jamal, für dessen Begnadigung sich 1995 neben anderen "Solidaritätern" auch der deutsche Bundespräsident einsetzte, habe es der Kulturbetrieb sogar fertiggebracht, einem erwiesenen Mörder zu huldigen und ihn als Opfer rassistischer Unterdrückung darzustellen.

Am Nimbus von Taslima Nasrin und Abu-Jamal hat der Verfasser bereits in der "Süddeutschen Zeitung" gekratzt, was ihm etliche böse Anfeindungen eintrug. Es geht ihm aber sichtlich nicht darum, die Verhältnisse in Bangladesh zu beschönigen oder für die Vollstreckung rechtskräftiger Todesurteile in den USA zu plädieren. Ihn stört vielmehr die Willkür, mit der die Medien irgendwelche Personen, die über das nötige Talent zur Selbstdarstellung verfügen, zur verfolgten Geistesgröße oder zum Opfer rassistischer Unterdrückung stilisieren, während gleichzeitig denjenigen, die es eher verdient hätten, keine Beachtung geschenkt wird.

Unter dem Titel "Shell brennt, Esso spart - Greenpeace macht Politik" schildert er nochmals die Farce um die geplante Versenkung einer Ölplattform, die im Frühsommer 1995 die Medien und die von ihnen hergestellte Öffentlichkeit aufwühlte. Sogar Greenpeace mußte inzwischen zugeben, die Gefahren einer Versenkung arg übertrieben zu haben. Weitere Beiträge im Abschnitt über die "Solidaritäter" befassen sich mit dem medialen Wohlwollen für militante Tierschützer, deren Tierliebe bis zum Terror gegen Menschen geht, sowie den voreiligen Schuldsprüchen nach dem Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in Lübeck, mit denen sich die Medien und sonstige Beteiligte ebenfalls arg blamiert haben.

Unkritische Verbreitung von Tatarenmeldungen

Im Abschnitt "Die Toten zählen" bringt er interessante Beispiele, wie die Medien anläßlich der Wirren auf dem Balkan oder des Golfkriegs völlig übertriebene Opfer-Zahlen kolportiert und kritiklos die Greuelgeschichten einzelner Kriegsparteien in Umlauf gebracht hätten. So scheinen die serbischen Konzentrationslager, in denen muslimische Frauen systematisch vergewaltigt wurden, nie existiert zu haben, sondern von der bosnischen Kriegspartei erfunden worden zu sein. Nicht selten seien Tatarenmeldungen sogar von PR-Profis ausgestreut worden, um Medien und Öffentlichkeit im gewünschten Sinne zu beeinflussen. So habe eine fünfzehnjährige Kuwaiterin vor dem Menschenrechtsausschuß des amerikanischen Senats berichtet, wie irakische Soldaten nach dem Einmarsch in Kuwait sogar die frühgeborenen Babies aus den Brutkästen herausgerissen und einem jämmerlichen Tode überantwortet hätten. Die Schreckensgeschichte paßte wie maßgeschneidert zum blutrünstigen Regime des irakischen Diktators Saddam. Wie sich später herausgestellt habe, sei sie aber erfunden gewesen. Den tränenreichen Auftritt der angeblichen Augenzeugin habe eine PR-Agentur inszeniert, die im Auftrag von Exil-Kuwaitern die USA zum Krieg gegen den Irak bewegen sollte.

"Bewußt-Schein" ist ein letzter Abschnitt des Buches betitelt. Hier geht es um professionelle Fälscher wie den Fernsehfilm-Produzenten Michael Born, die erkannt haben, daß im Medienbetrieb die Wahrheit eigentlich nur den Vorwand bildet für die Sensation und deshalb entbehrlich ist. Komödienreif ist auch der Beitrag "Dünne Luft am Gipfel": Er beschreibt die Nöte eines Journalisten, der von einer internationalen Konferenz berichten soll, sich dabei aber in den Zwängen des eigenen Mediums verheddert.

Begann die Verwüstung der Köpfe und Herzen schon mit der Erfindung des Kinos?

Mit dem Fernsehen, das den Humbug und solche Fälscher wie Michael Born anzuziehen scheint wie der Misthaufen die Fliegen, gibt sich der Verfasser erst gar nicht weiter ab. Er packt das Übel gleich an seiner historischen Wurzel, indem er das Kino aufs Korn nimmt und ihm vorwirft, "eher einem menschenfeindlichen Naturgesetz als unserem etwaigen Kunstanspruch zu gehorchen". Daß sämtliche Cinéasten hier aufschreien werden, weiß er natürlich. Es ist wohl auch überzogen, wie er die Verwüstung von Köpfen und Herzen nicht den Produzenten von Action- und Gruselfilmen, sondern quasi der Natur des Mediums zuschreibt. Aber es lohnt schon, mal darüber nachzudenken, was das bewegte Bild alles an Phantasie, Geist und Abstraktionsfähigkeit zu töten vermag oder gar nicht erst hochkommen läßt. Vielleicht sogar das Bild überhaupt: Begann nicht der Abschied vom Mittelalter einmal damit, daß der Protestantismus den bildhaften Prunk des katholischen Rituals verpönte und nur noch das abstrakte Wort der Heiligen Schrift gelten ließ?

Gewiß: Schon damals kam es zu Übertreibungen. Der Verfasser ist aber sicher kein tumber Bilderstürmer, sondern versteht sich als liberal denkender Mensch. Gerade deshalb stehen ihm die Mätzchen und Verstiegenheiten einer pseudo-liberalen "political correctness" bis zur Halskrause. Als Journalist kennt er zugleich die Zwänge und Zumutungen des Medienbetriebs. Er weiß deshalb um die Plattheit einer konservativen Medienkritik, die überall Manipulation und linke Seilschaften wittert. Die größere Gefahr sind ja ohnehin wohl die professionellen Zyniker, die routiniert und abgebrüht in sämtlichen Medien - ob Presse, Funk oder Fernsehen - jene Suppe anrühren, die hohe Auflagen, Einschaltquoten und fette Werbeeinnahmen garantiert. Aber auch die "Gesinnungstäter", wie er sie nennt, sind nicht von grundsätzlich anderer Natur: Auch sie können nur dort wirken, wo Gesinnungskitsch jeglicher Art zur Geschäftsgrundlage gehört.

Wie er im Nachwort schreibt, unternimmt er mit seinem Buch den Versuch, "aus dem Dampfkessel des öffentlichen Bewußtseins ein wenig Wahn entweichen zu lassen, denn wenn es dem Verfasser vor etwas noch mehr graut als vor dem linksökologischen, multikulturellen, politisch korrekten Meinungsterror von heute, dann ist es derjenige von morgen mit den umgekehrten Vorzeichen".

(PB 10/97/*leu)