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Otto Wunderlich (Hg.)

Entfesselte Wissenschaft - Beiträge zur Wissenschaftsbetriebslehre

186 S., DM 29.80, Westdeutscher Verlag 1993


Die Wissenschaftsbetriebslehre (WBL) ist eine relativ junges Fach, das sich aber in stürmischer Entwicklung befindet und auf zahlreiche angrenzende Forschungsgebiete befruchtend wirkt. Sowohl Fachleute als auch interessierte Laien vermißten deshalb bisher schmerzlich ein Standardwerk, das wirklich alle Aspekte dieser überaus dynamischen Disziplin beleuchtet. Dem vorliegenden Buch aus einem renommierten Wissenschaftsverlag gebührt das Verdienst, diese Lücke endlich geschlossen zu haben.

Laut "lexikalischem Stichwort" auf Seite 179 kann die institutionelle Geburtsstunde der WBL auf den 1.4.1953 datiert werden, als das "Institut für Wissenschaftsbetriebslehre" (IfW) der Universität zu Köln gegründet wurde. Es folgte die Einrichtung von Lehrstühlen an der Ludwig-Maximilians-Universität, München (1957), der Georg-August-Universität, Göttingen (1959), der Philipps-Universität, Marburg (1961, der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität, Frankfurt und der Justus-Liebig-Universität, Gießen (1964), denen in rascher Folge zahlreiche weitere Universitäten folgten.

Am 1.4.1982 kam es zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Wissenschaftsbetriebslehre (DWG) mit Prof. M. Umtrieb als Vorsitzenden und Prof. J. Überall als dessen Stellvertreter. Weitere Mitglieder des Vorstands sind Prof. Dr. E. Zaster, Prof. Dr. B. Primus, Prof. Dr. H. Liebervater, Min.-Dir. a.D. A. von dem Kalck (Schatzmeister) und Prof. Dr. M. Wirrlein (Schriftführer).

Besonders einflußreich für die Entwicklung der WBL waren der Symbolische Aktivismus, wie er vor allem an den Großforschungseinrichtungen perfektioniert wurde, die Tautologie und die Epiphänomenologie. Die Ansätze der WBL wirkten ihrerseits befruchtend besonders auf die Zitatologie, Kongreßbetriebslehre, Folienkunde, Logorhoea, Phrasologie, Pleonastik, Kommitologie, Projektgewerbelehre, Epigonie wie auch allgemein auf den Wissenschaftsbetrieb an den Universitäten und anderen Stätten akademischer Forschung und Lehre.

Wie es sich für ein wissenschaftliches Standardwerk gehört, gibt Herausgeber Otto Wunderlich in einer kurzen Vorbemerkung zunächst eine Standortbestimmung seiner Disziplin im Gesamtgebäude der Wissenschaft und des menschlichen Geistes. Er schlägt dabei souverän den Bogen zu Nietzsches "Fröhlicher Wissenschaft". Freimütig räumt er ein, daß der Titel "Entfesselte Wissenschaft" nicht unbeabsichtigt an das Werk dieses Denkers anklinge: In beiden Fällen sei das Ziel ein "ent-fesselter, von Restriktionen befreiter Wissenschaftsbetrieb".

Im anschließenden Geleitwort würdigt Prof. Dr. Friedrich Merckwürden den russischen Fürsten Potemkin als wichtigen Wegbereiter dieser Entfesselung und Mitbegründer der Wissenschaftsbetriebslehre. "Konsequenter als andere Giganten des Geistes hat er Denken unmittelbar in Realität umgesetzt, hier letztlich nur Walt Disney vergleichbar", schreibt Prof. Merckwürden, der als Direktor der Potemkin-Akademie für Absurdologie (PAFA) und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Absurdologie (DGA) wie kein anderer berufen ist, diese Lücke der Wissenschaftsgeschichte zu schließen.

Aber dann geht es auch schon in medias res: So berichtet Siegfried Blauaug über ein Symposion, das prominente Vertreter sämtlicher Teilbereiche der Wissenschaftsbetriebslehre in Köln zusammenführte, darunter den Tübinger Deutologen Prof. Dr. Norbert Päpstlein, den Kölner Pseudologen Prof. Dr. Egon Unseglich und den Düsseldorfer Banalogen Prof. Dr. h.c. mult. Dr. rer.pol. Erich Zaster. Ähnlich hohes akademisches Niveau zeichnet die nachfolgenden Beiträge aus: Unter dem Titel "Das Rad neu erfinden" untersucht Salomé Halb-Unschuld die "wissenschaftsbetriebliche Funktion der nachvollziehenden Erfindung". Erwin Fadenschein beleuchtet die "gesellschaftliche Funktion des Prognosewesens". Phoebe Gschaftler berichtet über "neue Entwicklungen im Kongreßbetrieb". Und so weiter und so fort. Es fällt schwer, den einen oder anderen der Beiträge hervorzuheben. Sie sind einfach alle vortrefflich.

Zum rundum brillanten Gesamteindruck tragen die detaillierten Literaturverweise bei. So haben Max Umtrieb, Rüdiger Wieselhuber und Fritz Flinck für ihren gemeinsamen Aufsatz über "kompetitive Profilierung im Wissenschaftsbetrieb" auch weniger bekannte Werke herangezogen wie "H. Schwafel: Profil und Neurose - akademische Identität in der Krise, Heidelberg 1989". Sie haben natürlich auch die englischsprachige Literatur durchforstet, die heute auf so gut wie allen wissenschaftlichen Gebieten tonangebend ist, und stießen dabei zum Beispiel auf die Basisstudie "E.M. Porteous: Competitive Dissimulation in Organisations, Cambridge 1988."

Eine großartige Parodie auf Kauderwelsch und Dünnbrettbohrerei des Wissenschaftsbetriebs

Es ist im Rahmen einer solchen Besprechung leider nicht möglich, sämtliche Feinheiten der Wissenschaftsbetriebslehre, ihrer Fachsprache und Argumentationsweise zu vermitteln. Man muß deshalb dieses hervorragende Werk schon selber lesen - auf die Gefahr hin, daß man sich tot lacht, wie hier das Kauderwelsch und die Dünnbrettbohrerei von Teilen des Wissenschaftsbetriebs durch den Kakao gezogen werden. An erster Stelle werden damit natürlich die Geisteswissenschaftler auf die Schippe genommen. Aber auch unter Naturwissenschaftlern sind Effekthascherei und geräuschvoller Leerlauf nicht selten.

Dieses Buch ist eine großartige Parodie und ein grandioser Spaß. Seine Lektüre vermittelt in der Tat einen Hauch jener Saturnalien des Geistes, von denen in Nietzsches "Fröhlicher Wissenschaft" die Rede ist. Zugleich vermittelt sie mehr Einblicke in die Schmuddelecken des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebs als manche ernsthaft-kritische Abhandlung.

Leider erfährt man nicht die wirklichen Namen der Pfarrerstöchter, die hier ungeniert ausplaudern, wie Papa seinen Spagat zwischen salbungsvoller Predigt und profanem Alltag bewältigt. Das Buch ist aber offensichtlich von Insidern des Wissenschaftsbetriebs geschrieben worden. Gewisse Indizien lassen auf Soziologen schließen. - Ganz so schlimm kann es demnach mit der Verkalkung der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften nicht sein. Das vorliegende Buch ist der beste Beweis dafür, daß es durchaus noch helle Köpfe gibt.

(PB 4/96/*leu)