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Das Grundgesetz garantiert die Freiheit von Forschung und Lehre. Es will so verhindern, daß der Staat oder eine andere Autorität sich anmaßt, über Art und Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse zu bestimmen. In der Vergangenheit gab es immer wieder solche Versuche. Am bekanntesten wurde der Fall des Galileo Galilei, den die Inquisition unter Androhung der Folter nötigte, die Sonne wieder um die Erde kreisen zu lassen. Fanatische Anhänger des Nationalsozialismus erfanden einst eine "Deutsche Physik", um sie der "jüdischen" Relativitätstheorie Einsteins gegenüberzustellen. Im sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus ließ Stalin die Kybernetik als "bürgerliche Afterwissenschaft" verdammen und die dubiose Vererbungslehre des Biologen Lyssenko für sakrosankt erklären. Seine Nachfolger beschränkten sich auf die Gängelung der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Aber auch von Naturwissenschaftlern wurde zum Beispiel in der ehemaligen DDR erwartet, daß sie, bevor sie einigermaßen ohne ideologischen Ballast zur Sache kommen durften, erst einmal den üblichen Kotau vor einem Zitat des Genossen Honecker oder den lichtvollen Beschlüssen des soundsovielten SED-Parteitages vollführten.
Aber eigentlich ist das alles Schnee von gestern. Es sieht nicht so aus, als ob autoritäre Bevormundung heute noch die Hauptgefahr für die Freiheit von Forschung und Lehre darstellen würde. Die Kerker der Inquisition und die Geßlerhüte einer weltlichen Staatsreligion braucht kein Wissenschaftler mehr zu fürchten, wenn er nicht gerade in einem Land lebt, das von islamischen Fundamentalisten regiert wird. In den hochentwickelten Ländern sind es eher die goldenen Ketten der finanziellen Abhängigkeit und des Karriere-Ehrgeizes, die heute Forschung und Lehre zum Verhängnis werden. Die Abhängigkeit von staatlichen und privaten Finanzquellen ist in vielen Bereichen so drückend, daß nicht der Wissenschaftler, sondern seine Geldgeber über die Zielrichtung der Forschung und die Form der Veröffentlichung entscheiden. Auch bei Wissenschaftlern bestimmt den beruflichen Erfolg oft weniger das fachliche Können als das persönliche Talent zur Selbstdarstellung. Der kategorische Imperativ des Wissenschaftsbetriebs lautet "publish or perish!" - eine akademisch verfeinerte Variante des "wirb oder stirb!", das den Produzenten von Zahnpasta oder Automobilen seit jeher im Nacken sitzt.
Unter solchen Umständen gedeiht ein Typ des Wissenschaftlers, der sich auf PR-Arbeit und das Anbohren von Geldquellen mindestens ebenso versteht wie auf sein eigentliches Fachgebiet. Zum Beispiel wird oft Forschungsbedarf vorgetäuscht, obwohl es in erster Linie um die Beschäftigung oder Ausweitung von vorhandenen Kapazitäten geht. Viele Fachaufsätze werden eigentlich nur geschrieben und veröffentlicht, um die Publikationsliste des Autors zu verlängern. Besonders in den "weichen" Fächern der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften dient akademisches Gehabe vielfach nur zur Bemäntelung von Redundanz, Ineffizienz und Banalität eines "selbstreferentiell" gewordenen Wissenschaftsbetriebs.
Aber auch in den Naturwissenschaften ist nicht alles Gold, was glänzt. Wie das vorliegende Buch zeigt, hat schon mancher Forscher fünfe gerade sein lassen, wenn Empirie und Theorie nicht in dem erhofften Maße zueinander finden konnten. Er griff dann eben zum Bleistift und korrigierte seine experimentellen Daten so lange, bis sie die wünschenswerte Exaktheit vorspiegelten. Mitunter waren angebliche Entdeckungen schon von Anfang an als Schwindel und Betrug angelegt.
Kleinere Mogeleien findet man sogar bei Stammvätern der heutigen Naturwissenschaften: Ptolemäus schrieb astronomische Daten, die er angeblich selbst ermittelt hatte, in Wirklichkeit von Hipparchos ab. Newton schob es einfach auf Luftdichte und -feuchtigkeit, daß die von ihm errechneten Werte für die Schallgeschwindigkeit nicht mit den tatsächlich ermittelten Werten übereinstimmten. Auch Galilei hat bei der Formulierung physikalischer Gesetze keineswegs immer so fest auf dem Boden exakter Nachweise gestanden, wie er vorgab.
Das Fallgesetz, zum Beispiel, will Galilei aufgrund von akribisch durchgeführten Experimenten gefunden haben. Der Legende zufolge stieg er dazu auf den schiefen Turm von Pisa, von dem er gleichzeitig unterschiedliche Gewichte herabfallen ließ, die alle zur selben Zeit den Boden erreicht hätten. Angeblich soll er sogar den Luftwiderstand berücksichtigt und dadurch ausgeschaltet haben, daß er gleichgroße Kugeln aus Metall und Holz verwendete. Aber auch dann hätten beide Kugeln nicht exakt zur selben Zeit den Boden erreichen können, weil sich die schwere Masse und die träge Masse nur im Vakuum derart kompensieren, daß sämtliche Körper unabhängig von ihrer Schwere und Gestalt dieselbe Fallbeschleunigung erreichen. Im lufterfüllten Raum aber müssen sogar gleichgeformte Körper je nach Schwere mit unterschiedlicher Geschwindigkeit fallen. - Galilei konnte also das Fallgesetz gar nicht exakt nachweisen. Außer etlichen technischen Hilfsmitteln fehlte ihm das theoretische Verständnis für die Äquivalenz von schwerer und träger Masse. Er hat sich statt dessen auf seine Intuition verlassen und so - trotz lückenhafter experimenteller Grundlage - tatsächlich ein richtiges Gesetz entdeckt.
Aber es wäre wohl naiv, sich den Gang der wissenschaftlichen Erkenntnis so vorzustellen, wie das hinterher in den Lehrbüchern steht. So exakt geht es in keinem menschlichen Kopf zu. Zur Zeit Newtons und Galileis bedeutete es bereits eine Revolution, das aristotelische Weltbild auf den Prüfstand des Experiments zu stellen. Insofern wirkt es ein bißchen kleinlich, wenn ihnen nachträglich vorgehalten wird, daß sie die Exaktheit ihrer Untersuchungen geschönt hätten.
Gravierender war da schon die Schummelei, die sich Ernst Haeckel leistete, als er Abbildungen von Embryos in verschiedenen Entwicklungsstadien kräftig retuschierte, damit sie das von ihm postulierte "biogenetische Grundgesetz" möglichst eindrucksvoll illustrieren konnten. Den Hintergrund bildete dabei die weltanschaulich gefärbte Auseinandersetzung um die Verwandtschaft zwischen Affe und Mensch, die Ende des 19. Jahrhunderts zwischen Haeckels "Monistenbund" und dem jesuitisch inspirierten "Keplerbund" tobte. Die Jesuiten freuten sich mächtig, als sie den Volksaufklärer Haeckel bei dieser Mogelei ertappen konnten.
Aber irgendwie wirkt das alles noch honorig gegenüber richtigen Fälschungen wie dem "Menschen von Piltdown". Der so benannte Schädel wurde 1912 in einer englischen Kiesgrube entdeckt. Damit schien man endlich das "missing link" in der Ahnenreihe vom Affen zum Menschen gefunden zu haben. Der Entdecker wurde geadelt. Daß es sich um eine Fälschung handelte, wurde erst vierzig Jahre später festgestellt. Vielleicht begann das ganze als Scherz, bei dem die Mitwisser kalte Füße bekamen, weil er sich unerwartet zu einer wissenschaftlichen Sensation auswuchs. Als einer der möglichen Eingeweihten gilt der katholische Theologe Teilhard de Chardin.
Ein Fälscher war wohl auch der Physiker Robert Millikan, der 1921 den Nobelpreis für die Bestimmung der elektrischen Ladung der Elektronen erhielt: Bei der nachträglichen Durchsicht der Laborprotokolle stellte sich heraus, daß er unter insgesamt 140 Versuchsreihen nur die Daten von 28 veröffentlicht hat, die dem gesuchten Wert am nächsten kamen.
Überhaupt die Nobelpreise: Wie fragwürdig es bei deren Verleihung manchmal zugeht, zeigt die Entdeckung des Antibiotikums Streptomycin. Eigentlich gelang sie einem Studenten namens Alfred Schatz. Den Bericht über seine Entdeckung durfte Schatz noch gemeinsam mit seinem Chef, dem Mikrobiologen Waksman, veröffentlichten. Den Nobelpreis erhielt 1952 Waksman allein.
Mit welch harten Bandagen heute unter Wissenschaftlern um Ruhm und Geld gefochten wird, schilderte freimütig der Biologe James Watson, nachdem er 1962 den Nobelpreis für die Entdeckung der DNA-Struktur erhalten hatte. Er schreckte nicht einmal davor zurück, seine attraktive Schwester als Lockvogel einzusetzen, um Zugang zu den Forschungsergebnissen eines Konkurrenten zu erhalten. Der Verfasser des vorliegenden Buches sieht in Watson den typischen Vertreter einer "neuen Generation von gefühllosen, zynischen, amoralischen jungen Wissenschaftlern, in deren Wirkungskreis offenkundig die Rücksichtslosigkeit und die technische Raffinesse der Geschäfts- und Industriewelt Einzug gehalten hat".
Hier mündet das Buch in eine Kritik am System der "Big Science", der mit Milliarden finanzierten Großforschung unserer Tage, wie sie zunächst in den USA entstanden ist. Für den Verfasser ist dieses amerikanische System - ungeachtet seiner zeitweiligen Erfolge - letzten Endes darauf angelegt, Kreativität zu bestrafen oder jedenfalls zu behindern. Es sichere einem mittelmäßigen Typ des Wissenschaftlers die Vorherrschaft, während schöpferische und hochintelligente Menschen von der Forschung ausgeschlossen würden. An die Stelle der alten Wissenschaftsethik, die dem Ideal der zweckfreien Erkenntnis verpflichtet war, sei die Devise "publish or perish" getreten. Und entsprechend schwänden auch immer mehr die Hemmungen, sich im Forschungskampf unlauterer Mittel zu bedienen, vom rüden Gebrauch der Ellbogen gegenüber Kollegen bis hin zur dreisten Fälschung von Forschungsergebnissen.
Sogar die Schwindeleien seien früher von anderer Qualität gewesen. Wenn Newton, Galilei oder Haeckel den widerspenstigen Fakten ein bißchen auf die Sprünge halfen, habe dies im Dienste einer Idee gestanden, die letztlich doch am Streben nach Erkenntnis ausgerichtet war. Bei den heutigen Tricksereien und Fälschungen spielten dagegen Ideen keine Rolle mehr. Es gehe den Beteiligten nur noch um lukrative Posten oder die Finanzierung ihres nächsten Forschungsprojekts.
Bei dieser düsteren Bilanz kann man nur hoffen, daß sich wenigstens Federico Di Trocchio bei seiner Schilderung des Verfalls der wissenschaftlichen Sitten in allen Details an die Wahrheit gehalten hat. Sein Name klingt an "trucco" an, was auf italienisch soviel wie Schwindel bedeutet. Der Klappentext versichert jedoch glaubhaft, daß Di Trocchio real existiert und Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität von Lecce sowie Chefredakteur der Enciclopedia Italiana ist.
(PB 4/96/*leu)