PresseBLICK-Rezensionen | Elektrotechnik |
Bei Elektrofahrzeugen denkt man zunächst an das Elektroauto, das wegen der bekannten Batterie-Probleme bisher nicht über Nischen-Anwendungen hinauskommt. Es gibt aber noch ein anderes Gefährt, das kurzfristig bessere Chancen haben könnte, zum vertrauten Anblick im Straßenverkehr und zum Dauer-Kunden an der Steckdose zu werden: Das Fahrrad mit Elektromotor.
Das vorliegende Buch vermittelt allen, die sich eingehender mit Elektrorädern befassen wollen, einen guten Überblick über die wichtigsten Modelle und Konstruktionstypen. Außerdem beleuchtet es die geschichtliche Entwicklung des Elektrorads, stellt noch unverwirklichte Projekte vor und wirft auch einen Blick auf verwandte Gefährte wie Liegeräder oder Solarmobile. Nicht zuletzt vermittelt es etwas von der Faszination, die von den "Powerbikes" ausgehen kann. Der Reiz liegt dabei gerade in den Beschränkungen, welche der begrenzte Energievorrat von Batterien auferlegt bzw. in der Herausforderung, aus einem Fingerhut an elektrischer Energie ein Optimum an Fortbewegung herauszuholen.
Bis in die achtziger Jahre beschränkten sich die Hersteller von Elektrofahrrädern auf Prototypen und Kleinserien, denen man meistens ansah, daß sie irgendwie zusammengebastelt worden waren. Einen ersten Vorstoß zur besseren Vermarktung dieses Fahrradtyps unternahm Anfang der neunziger Jahre die Firma Sachs, als sie mit der "Hercules-Electra" ein reinrassiges Elektrofahrrad herausbrachte. Sachs setzte sogar eine Änderung der Leichtmofaverordnung durch, die ein Benutzen solcher Fahrzeuge ohne Helm erlaubte. Allerdings blieben Versicherungskennzeichen und Mofaprüfbescheinigung Pflicht. Die Höchstgeschwindigkeit mit elektrischem Antrieb muß konstruktiv auf 20 km/h beschränkt sein.
Die "Electra" verkaufte sich zunächst ganz gut. Sie sprach aber letztlich doch nur ein begrenztes Publikum an, so daß die Verkaufszahlen wieder zurückgingen. Hinzu kam, daß respektable Konkurrenten wie das antriebsstarke "Estelle" der Firma Heinzmann am Markt erschienen und sich ihren Teil vom Kuchen abschnitten.
Insgesamt war dem Elektrofahrrad bisher kein großer Erfolg beschieden. Zum Teil mag dies an der Versicherungspflicht und den sonstigen Auflagen der Leichtmofaverordnung liegen. Zum Teil handelt es sich aber sicher auch um ein Image-Problem: Dem elektrifizierten Drahtesel fehlte bisher einfach der sportliche Touch, der den muskelbetriebenen Artgenossen zu immer neuen Verkaufsrekorden verhalf.
Zum Beispiel schmücken inzwischen fast alle großen Autohersteller, von Fiat bis Porsche, ihr Sortiment mit muskelbetriebenen Fahrrädern der gehobenen Preisklasse. - Nicht etwa, weil sie ein Zubrot nötig hätten, sondern weil ihre vierrädrigen Produkte vom sportlichen Image der Zweiräder profitieren sollen. Aber nur der Fahrrad-Katalog von Mercedes enthält neben fünf "City Bikes" und "Mountain Bikes" auch ein Elektrofahrrad.
Indessen scheint sich das zu ändern. Wer das vorliegende Buch zur Hand nimmt, ist erstaunt über die Fülle von Modellen und Konstruktionstypen, die es bei Elektrorädern - neudeutsch "Powerbikes" genannt - inzwischen gibt. Vor allem lenkt das Buch die Aufmerksamkeit auf das "Power assist bike" als neue Entwicklung, die das Elektrofahrrad vom negativen Image einer Fortbewegungshilfe für Lendenlahme zu befreien verspricht. Auch das erwähnte Elektrofahrrad von Mercedes (das in Wirklichkeit ein Sachs-Produkt mit japanischem Sanyo-Motor ist) gehört in diese Kategorie.
Ein "Power assist bike" ist ein Elektrofahrrad, bei dem der Motor die Muskelkraft nicht ersetzt, sondern ergänzt und mit verstärkter Antriebsleistung honoriert. Dadurch verlieren Steigungen ihren Schrecken. Der Fahrer hat sozusagen immer Rückenwind!
Diese Räder können zwar auch ohne Motorunterstützung gefahren werden, aber nicht allein mit elektrischem Antrieb. Die Zuschaltung der elektrischen Unterstützung besorgt ein Sensor, der entweder auf die Bewegung des Kettenrads oder auf den Druck am Pedal reagiert. Im ersten Fall beginnt und endet die Unterstützung mit einer gewissen Verzögerung. Bei der anderen Lösung mit Drehmoment-Messung hat der Fahrer vom Fleck weg Rückenwind und bekommt stets annähernd soviel Motorkraft wie er selber an Beinkraft aufbringt.
Da auch bei eingeschaltetem Motor immer zum Teil mit Muskelkraft gefahren wird, reicht die in der Batterie gespeicherte Energie für Strecken von 20 bis 40 Kilometer - je nachdem, wie schwer das Rad ist, welche Reibungsverluste auftreten und mit welcher Kraft der Motor den Pedaltreter unterstützt. Die Reichweiten der elektrisch unterstützten Räder beginnen also ungefähr dort, wo die von reinen Elektro-Rädern enden.
Ein weiterer großer Vorteil dieser Elektro-Räder ist, daß sie wie ein normales Fahrrad ohne Versicherungsschutz, Helm und Fahrerlaubnis benutzt werden können. Allerdings darf der Motor höchstens bis zu einer Geschwindigkeit von 25 km/h mithelfen. So verlangen es nun mal die in Deutschland geltenden Bestimmungen. - Es sei denn, man würde das Rad als Mofa oder Moped zulassen, was aber mit der Benutzung eines schweren, schweißtreibenden Integralhelms verbunden wäre - für Radfahrer eine unzumutbare Auflage, die der Freude am Fahren ebenso zuwiderliefe wie der erwünschten größeren Geschwindigkeit.
Dieses behördliche Tempolimit ist sicher nicht der Weisheit letzter Schluß: Es legt den elektrisch unterstützten Rädern Fesseln an, die eine sportliche Fahrweise und damit auch den Erfolg am Markt behindern. Denn alle Elektro-Räder sind bauartbedingt keine Leichtgewichte. Aufgrund von Batterie, Motor und insgesamt stabilerer Ausführung bringen sie durchschnittlich etwa zehn Kilo mehr auf die Waage als ein normales Fahrrad. Ferner sind sie, je nach Konstruktion des Antriebs, mitunter etwas schwergängiger. Deshalb lohnt es kaum die Mühe, sie per Muskelkraft über die Grenze der Motorunterstützung hinaus beschleunigen zu wollen. Gleiches gilt für die Fortbewegung ohne Zusatzantrieb, die natürlich auch möglich ist. Um so wichtiger ist es, daß dem elektrischen Rückenwind keine unnötigen Beschränkungen auferlegt werden.
In der Schweiz, wo ohnehin jedes Fahrrad ein Versicherungsschild braucht, dürfen elektrisch unterstützte Räder als Mofa beliebig schnell gefahren werden. Neuerdings ist nicht mal mehr ein Fahrradhelm vorgeschrieben. Dort ist deshalb die "Schnelle Schweizer Klasse" zuhause, die den Fahrer bis 40 km/h unterstützt: Das "Velocity" oder der "Flyer" ermöglichen Fahrgeschwindigkeiten um 35 km/h und Spitzengeschwindigkeiten bis zu 50 km/h. - Ein Fahrvergnügen, von dem die Elektroradler hierzulande nur träumen können (sofern sie nicht doch heimlich einen solchen Flitzer im Stall haben und damit etwas außerhalb der Legalität durch die Landschaft düsen).
Die Elektromotoren treiben entweder das Hinterrad oder das Kettenrad. Bei vielen Ausführungen sind sie als Nabenmotor ins Hinterrad integriert. Sie erbringen Leistungen zwischen 100 und 400 Watt. Zum Vergleich: 100 Watt sind ausreichend, um ein Rad in der Ebene fortzubewegen. Ein sportlich geübter Fahrer kann etwa eine Stunde lang mit der doppelten Leistung in die Pedale treten. Der Strom kommt meistens aus Nickel-Cadmium-Zellen, seltener aus einer Blei-Gel-Batterie. Bei einigen Modellen lassen sich die Batterien abnehmen und separat aufladen, so daß die Steckdose sich nicht unbedingt am Abstellplatz befinden muß.
In Japan erzielt die Fahrradindustrie schon ein Fünftel ihres Umsatzes mit "power assist bikes". Sie werden besonders von Angestellten geschätzt, die trotz strenger Kleiderordnung (Krawatte!) unverschwitzt im Büro ankommen möchten.
Auch bei uns sind Elektro-Räder mit kombiniertem Muskel- und Motorantrieb auf dem Vormarsch, wie jüngst die Internationale Fahrrad- und Motorrad-Ausstellung (IFMA) in Köln zeigte. Insgesamt wurden dort gut zwei Dutzend Elektro-Räder vorgestellt. Die meisten waren elektrisch unterstützte Fahrräder.
Die Preise für ein komplettes Rad liegen zwischen 2300 DM und über 6000 DM. Das Gefährt von Mercedes kostet beispielsweise 3250 Mark - einen Tausender mehr als das billigste konventionelle Fahrrad für 2150 Mark aus demselben Mercedes-Katalog, aber noch immer viel weniger als ein ebenfalls muskelbetriebenes "Mountain Bike Full Suspension Exklusive" für knapp 5000 Mark.
Die finanzielle Hürde ist somit bei Elektrorädern eine ganze Größenordnung niedriger als bei der Anschaffung eines Elektroautos. Für Neugierige, Freaks und Trendsetter ist diese Anschaffung eher eine Frage der inviduellen Budget-Einteilung ("man gönnt sich ja sonst nichts") als der grundsätzlichen Erschwinglichkeit. Die Kosten-Nutzen-Rechnung muß nicht unbedingt aufgehen; per Saldo zählt der Spaß. Von daher dürfte das Elektrorad als Alltags-oder Fun-Vehikel größere Chancen haben, als dies momentan beim Elektroauto der Fall ist.
Der Herausgeber des Buches, Hannes Neupert, gilt als der wohl beste Kenner des Elektrofahrräder-Angebots. Er ist Mitbegründer und Vorsitzender des Vereins "extra energy", der sich eine "ökologisch und sozial sinnvolle Weiterentwicklung menschlicher Transportmittel" zum Ziel gesetzt hat. Neupert und seine Mitautoren haben damit einen deutlich andersgearteten Ansatz als den bloßen Wunsch, von A nach B zu kommen, der das herkömmliche Fahrrad mit Hilfsmotor hervorbrachte und zum Vehikel von Leuten abstempelte, die trotz lahmer Lenden und schlapper Brieftasche irgendwie vorankommen wollen.
Die Fahrradhersteller wissen die Bemühungen des Vereins "extra energy" inzwischen zu schätzen. So stellen sie ihm kostenlos ihre Elektroräder zur Verfügung, um sie nach einheitlichen Kriterien zu testen und eine bessere Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Oder sie unterstützen die Auftritte des Vereins bei Messen wie jüngst auf der "Intercycle" in Köln, wo die Besucher alle Arten von Elektrorädern ausprobieren konnten. In dem Buch mitverwertet wurden erste Erfahrungen aus dem jüngsten Test, den "extra energy" mit insgesamt etwa fünfzig Rädern durchführte und vor kurzem abschloß. Die wichtigsten Ergebnisse, die bei Drucklegung des Buches noch nicht vorlagen, sind nachzulesen in der Zeitschrift "aktiv Radfahren" (4/98), im ADFC-Magazin Radwelt (5/98) und im Elektrofahrzeuge-Magazin "Mobil E" (2/98).
(PB 11/98/*leu)