PresseBLICK-Rezensionen Elektrotechnik



Ulrich Kirchner

Der Hochtemperaturreaktor: Konflikte, Interessen , Entscheidungen

Frankfurt/Main 1991: Campus-Verlag (Campus: Forschung; Bd. 667), 240 S., DM 48.-


Als der Thorium-Hochtemperaturreaktor THTR-300 bei Hamm im September 1988 nach knapp drei Jahren Stromerzeugung zur Revision abgeschaltet wurde, ahnte niemand, daß er nie wieder ans Netz gehen würde. Die Schäden im Heißgaskanal, die anschließend festgestellt wurden, wären dafür allein kein Grund gewesen. Hinzu kamen jedoch die Probleme bei der damaligenNukem. Daraus ergab sich wiederum die Aussicht auf einen längeren Betriebsstillstand, den die Hochtemperatur-Kernkraftwerk GmbH (HKG) als Betreiberin nicht aus eigenen Mitteln finanzieren zu können glaubte. Da auch der Staat nicht noch ein weiteres Mal einspringen wollte, wurde 1989 die endgültige Stillegung des THTR-300 beschlossen. Zuletzt machte er vergangenes Jahr nochmals von sich reden, als es darum ging, ob die originelle Netzkonstruktion des Kühlturms abgerissen oder unter Denkmalschutz gestellt werden sollte.

Seitdem gibt es weder in Deutschland noch in anderen Ländern einen Hochtemperaturreaktor, der sich am Netz befindet. Nachdem auch die Schnelle-Brüter-Technologie nicht so reüssierte wie ursprünglich erwartet wurde, erfolgt die Stromerzeugung aus Kernenergie fast ausschließlich mit Leichtwasserreaktoren.

Höhere Temperaturen und "inhärente Sicherheit"

Dabei hat der Hochtemperaturreaktor (HTR) - wie sich Kirchners Studie entnehmen läßt - eine ganze Reihe von Vorteilen, die ihm den Vorsprung vor den Leichtwasserreaktoren hätten sichern können. Immerhin vermag er Wärme bis zu 1000°C erzeugen, während Siede- und Druckwasserreaktoren es nur bis auf 300°C bringen. Der so erzeugte Dampf kann nicht nur zur Stromerzeugung, sondern auch als "Prozeßwärme" für Kohlevergasung, andere chemische Prozesse oder Fernwärmeversorgung eingesetzt werden. Nicht zuletzt schreibt man dem Hochtemperaturreaktor eine besondere inhärente Sicherheit zu, die zwar auch nicht unumstritten ist, aber doch höher zu liegen scheint als bei den Leichtwasserreaktoren.

Erst vor einigen Monaten brach der ostdeutsche Wissenschaftler Manfred von Ardenne in einem Interview der "atomwirtschaft" erneut eine Lanze für den Hochtemperaturreaktor. Er bedauerte, daß die ehemalige DDR nicht über diese Technologie verfügt habe, sondern auf die sowjetischen Leichtwasserreaktoren zurückgreifen mußte. - Warum also, so fragt man sich, hat sich der Hochtemperaturreaktor nicht durchsetzen können?

Der Autor des vorliegenden Buches geht an diese Frage nicht als Physiker oder Energiewirtschaftler, sondern als Historiker heran. Und vermutlich ist dies auch die angemessene Sichtweise. Denn die Annahme, daß energiepolitische Weichenstellungen nur nach sachlich-technischen Gesichtspunkten erfolgen, wäre wohl etwas blauäugig.

Die Errichtung des AVR bei Jülich

Nach Kirchners Darstellung beginnt die Geschichte des Hochtemperaturreaktors in den fünfziger Jahren, als die Firma BBC den Physiker Rudolf Schulten zum Chef ihrer Reaktorentwicklungsabteilung machte und fortan das Hochtemperatur-Konzept verfolgte, während die Konkurrenten AEG und Siemens zu Lizenzpartnern amerikanischer Firmen wurden. Aus der Arbeitsgemeinschaft von BBC mit Krupp ging 1961 die Reaktorbaufirma BBK hervor. Auf der Seite der Stromversorger schlossen sich schon 1956 neun kommunale und regionale Unternehmen zur Errichtung eines Leistungsversuchsreaktors (AVR) zusammen und erteilten BBC/Krupp einen Konstruktionsauftrag. Aus heutiger Sicht wirkt es erstaunlich, wie damals die kleinen Stromversorger glaubten, mit Hilfe der Kernenergie eine Konkurrenz zu den Verbundunternehmen aufbauen zu können. 1961 begann dann der Bau des Leistungsversuchsreaktors AVR neben der Kernforschungsanlage Jülich, der für eine elektrische Leistung von 15 MW ausgelegt war, Mitte 1966 kritisch wurde und bis 1988 Strom erzeugte.

Vier Milliarden Mark für den THTR-300

Mitte der sechziger Jahre setzten sich dann aber die Leichtwasserreaktoren durch, was dem nunmehr geplanten THTR-300 bei Hamm-Uentrop und der ganzen HTR-Technologie zum Verhängnis werden sollte. Nach Kirchners Darstellung verloren sogar die VEW als die anfänglich treibende Kraft bald ihr Interesse am THTR-300, während sich die RWE von vornherein auf den Leichtwasserreaktor und den Schnellen Brüter festgelegt hatten. Die HTR-Befürworter hätten daraufhin nach Marktnischen und taktischen Argumenten gesucht, um sich dem politischen Klima anzupassen und weitere Subventionen zu erhalten. So seien zahlreiche Konstruktionsmöglichkeiten wie Brüter, Einkreisanlage, Prozeßwärmekraftwerk und Kleinkraftwerk immer wieder ins Spiel gebracht worden, ohne daß es eine in sich geschlossenen Argumentation für den HTR gegeben hätte. Der THTR-300 sei so zum "Musterbeispiel einer chaotischen, durch strukturelle Divergenzen determinierten, aber nicht effektiv gesteuerten und intentional bestimmten Entwicklung" geworden. Die Baukosten, die ursprünglich auf 690 Millionen Mark veranschlagt waren, stiegen schließlich auf über vier Milliarden Mark. Baubeginn und Bauausführung verzögerten sich immer weiter. Die Hauptverantwortung dafür trug, nach Kirchners Ansicht, der Staat, der keine nennenswerte Eigenbeteiligung der Industrie durchgesetzt und damit zum verantwortungslosen Umgang mit den Milliarden an Subventionen verführt habe.

Als Beispiel, wie eine zügige, mit Blick auf die praktische Anwendung betriebene Entwicklung des HTR von wechselnden Koalitionen mit manchmal verdecktem Visier verhindert worden sei, führt Kirchner das zeitweilig verfolgte Projekt einer einkreisigen Anlage mit Heliumturbine an: Diese Entwicklung, die zur Zweikreisanlage konkurrierte, sei von den HTR-Gegnern in Energiewirtschaft und Nuklearindustrie durchgedrückt worden, die sich bereits auf den Leichtwasserreaktor und den Schnellen Brüter festgelegt gehabt hätten. Dahinter habe die obstruktive Absicht gestanden, die schnelle Realisierung einer weiteren Reaktorlinie zu verhindern. Möglicherweise habe auch die Befürchtung eine Rolle gespielt, es könnten an die Altanlagen schärfere Maßstäbe gelegt werden, falls sich der HTR tatsächlich als Reaktortyp mit höherem Sicherheitsstandard erweisen sollte.

Wie dem auch sei: Für Insider der Nuklearindustrie und der Energiewirtschaft dürfte diese Magister-Arbeit, die mit Unterstützung des Forschungszentrums Jülich gedruckt wurde, eine interessante Lektüre abgeben. Auch nach dem vorläufigen Aus für den HTR bleibt es des Nachdenkens wert, weshalb eine Technologie, der ursprünglich die größten Chancen eingeräumt wurden, in der wirtschaftlich-politischen Praxis zum Flop geriet. Sowohl für den HTR wie für den Schnellen Brüter sind schließlich Milliarden Mark an Subventionen verausgabt worden. Kulturkritiker mögen hier eine Bestätigung ihres Verdachts wittern, daß technische Großprojekte einer irrationalen Eigengesetzlichkeit unterliegen. Der Steuerzahler fragt in jedem Falle zu Recht, was wohl schief gelaufen sei.

(PB 2/92/*leu)