PresseBLICK-Rezensionen | Geschichte (Strom u. a.) |
Bis zur Liberalisierung konnte man die deutsche Stromwirtschaft sehr schön auf Karten darstellen: Die Versorgungsgebiete waren so klar abgesteckt wie die politischen Grenzen von Ländern, Kreisen und Gemeinden, mit denen sie in aller Regel übereinstimmten.
Die sich so ergebende Karte der Stromwirtschaft sah ein bißchen aus wie der Fleckenteppich des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation vor der Herrschaft Napoleons: Die Verbundunternehmen mit ihren großen Territorien gemahnten an Kurfürsten, denen es vorbehalten blieb, den Kaiser zu wählen. Die Gebiete der Regionalversorger erinnerten an Herzogtümer, die meistens einem der Kurfürsten lehenspflichtig waren. Und überall dazwischen gab es die geschützten Gebiete von Stadtwerken, die man mit freien Reichsstädten oder landesherrlich privilegierten Handelsplätzen vergleichen konnte.
Das Inkrafttreten des neuen Energiewirtschaftsgesetzes ließ diese altvertraute Karte der deutschen Stromversorgung zu Makulatur werden. Geschützte Versorgungsgebiete gibt es seitdem nicht mehr. Technisch bleiben die Verbraucher zwar weiterhin dem Netz des angestammten Versorgers verbunden, die Rechnung können sie sich aber vom jeweils günstigsten Anbieter ausstellen lassen. Über die alten, aufgehobenen Grenzen der Versorgungsgebiete hinweg vermischen sich die Kundenstämme. Konnten zunächst nur Sondervertragskunden die Möglichkeit des Lieferantenwechsels nutzen, so wenden sich inzwischen auch immer mehr Tarifkunden neuen Anbietern zu.
Zugleich verschwindet das EVU alten Typs, das Stromerzeugung, Netzbetrieb und Verkauf unter einem Dach vereinte. Das Gesetz schreibt zumindest getrennte Rechnungslegung für diese Bereiche vor. In der Praxis ziehen sich die alten EVU oft auf die Rolle einer Holding zurück und überlassen das operative Geschäft juristisch eigenständigen Gesellschaften für Erzeugung, Netz und Marketing. Es muß nun um jeden Kunden regelrecht geworben werden. Das gewichtigste Argument ist dabei der Preis. Dies bedeutet, daß bei annähernd gleichbleibendem Stromabsatz die Gewinnmargen schmelzen. Unter dem Druck des Wettbewerbs wird auf allen Ebenen reorganisiert, rationalisiert, kooperiert und fusioniert. Schon sind etliche traditionsreiche Namen verschwunden, die bis zu einem Jahrhundert lang ihren festen Platz auf der Karte der deutschen Stromversorgung hatten. Man denke nur an Badenwerk und EVS, die seit Juli dieses Jahres restlos in der Energie Baden-Württemberg aufgegangen sind. Für PreussenElektra und Bayernwerk zeichnet sich infolge der beabsichtigten Fusion von Veba und Viag ein ähnliches Schicksal ab. Und auch die VEW werden ihr 75jähriges Bestehen nur noch mit knapper Not feiern können, denn bis Mitte nächsten Jahres soll die Verschmelzung mit RWE vollzogen sein.
So wird vieles, was über Jahrzehnte unerschütterlich schien, plötzlich Geschichte. Natürlich hat die Geschichte der deutschen Stromwirtschaft nie stillgestanden. Sie war aber im wesentlichen die Geschichte wirtschaftlicher Konsolidierung und technischer Perfektionierung innerhalb jener Grenzen, die durch Demarkations- und Konzessionsverträge abgesteckt waren. Die Beseitigung dieser Grenzen schafft eine völlig neue Situation, die im Zeitraffer-Tempo alte Strukturen vergehen und neue entstehen läßt.
Die vorliegende Untersuchung verdeutlicht, wie es zu der rund siebzig Jahre dauernden Fixierung der Versorgungsgebiete gekommen ist und welchen Anteil daran der Staat - genauer gesagt: die oftmals divergierenden Interessen von Kommunen, Ländern und Reich - sowie privatwirtschaftliches Kalkül hatten. Sie entstand im Rahmen eines von 1993 bis 1995 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts über "Elektrizität und Energiepolitik in Deutschland seit 1890 zwischen ungeregeltem Wachstum und politischer Steuerung großtechnischer Systeme" und wurde 1997 von der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim als Habilitationsschrift angenommen. Als Herausgeber zeichnet das Mannheimer Landesmuseum für Technik und Arbeit, an dem der Verfasser Bernhard Stier mehrere Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Das Landesmuseum hat auch die Drucklegung finanziell unterstützt, gemeinsam mit PreussenElektra, EVS und dem Neckar-Elektrizitätsverband.
Die Untersuchung beginnt - hierin unverkennbar eine Habilitationsschrift - mit einem allgemeinen Aufriß des Themas und der Erörterung möglicher Herangehensweisen im Lichte bereits vorliegender Arbeiten. Stier grenzt sich dabei ab von der traditionellen Elektrizitätsgeschichtsschreibung, die gern den Eindruck erweckt habe, als ob die Entwicklung der deutschen Stromwirtschaft purer Rationalität bzw. technisch-wirtschaftlichen Sachzwängen entsprungen sei. Eine solche Überbetonung des technisch-wirtschaftlichen Moments sieht er etwa in der Arbeit über "Entstehung und Entwicklung des Verbundbetriebs" , die Georg Boll 1969 zum zwanzigjährigen Bestehen der DVG vorgelegt hat.
Noch weniger hält Stier von "ideologisch verblendeten" Darstellungen, die hinter der Geschichte der deutschen Stromwirtschaft vor allem eine ausgeklügelte Strategie von Stromversorgern und Elektroindustrie zur Erhöhung von Stromverbrauch und Profiten sehen wollen. Als Beispiel nennt er Wolfgang Zängls Polemik "Deutschlands Strom. Die Politik der Elektrifizierung von 1866 bis heute", die 1989 erschien und mit kapitalismuskritischer Attitüde der Stromwirtschaft am Zeug zu flicken versuchte.
Stier will es sich nicht so einfach machen, sondern die Elektrifizierung als "technisch-soziales Gesamtsystem" erfassen. Es geht ihm allerdings nicht um eine allgemeine Geschichte der deutschen Stromwirtschaft, sondern um die Untersuchung der wesentlichen Strukturen und der zugrundeliegenden Regulierungsprozesse. Den Hauptteil seiner Arbeit bildete deshalb eine detaillierte Darstellung der Elektrizitätspolitik in Baden (80 Seiten), in Württemberg (60 Seiten), in Preußen (42 Seiten) und unter dem Dach des Reiches (137 Seiten). Zeitlich erstrecken sich diese Untersuchungen von den Anfängen der Stromversorgung bis zum Ende des zweiten Weltkriegs. Im abschließenden dritten Teil seines Buches beleuchtet er außerdem "elektrizitätspolitische Tendenzen der Nachkriegszeit" und unternimmt den "Versuch einer systematisierenden Bilanz", die den Bogen schlägt zur Liberalisierung des Energiemarktes, die wenige Monate nach dem Abschluß des ursprünglichen Manuskripts in Kraft getreten war.
Erstes Fallbeispiel ist das frühere Land Baden. Stier zeigt auf, wie die großherzogliche Regierung in Karlsruhe die junge Elektrizitätswirtschaft zunächst kommunaler Initiative und privatwirtschaftlichen Interessen überließ, ehe sie die landesweit flächendeckende Stromversorgung als politische Aufgabe begriff. 1890 gab es im Großherzogtum 155 Elektrizitätswerke in 61 Gemeinden, wovon allein 34 auf das Industriezentrum Mannheim entfielen. Es handelte sich um die damals üblichen Blockstationen, die einen Radius von ein paar hundert Metern mit Gleichstrom versorgten. Nur zwei Anlagen leisteten mehr als 500 kW. Größere Dimensionen erreichte die Elektrifizierung erst mit dem Wasserkraftwerk Rheinfelden, das 1898 am Hochrhein in Betrieb ging. Mit einer Leistung von über 10 000 kW war Rheinfelden damals das größte Wasserkraftwerk Europas. Die Finanzierung besorgten Großbanken aus dem Umfeld der AEG. Hauptkunden der heute noch so firmierenden Kraftübertragungswerke Rheinfelden (KWR) waren die AEG-Tochter Elektrochemische Werke Bitterfeld GmbH und die schweizerische Aluminium-Industrie AG, die in der Nähe des Wasserkraftwerks große Betriebe errichteten. Neben Aluminium kam aus Rheinfelden unter anderem auch das Bleichmittel Natriumperborat, das ab 1907 unter dem Markennamen "Persil" seinen Siegeszug durch deutsche Waschküchen antrat.
Die Konzession für Rheinfelden war den privaten Betreibern vom badischen Staat unbefristet und ohne Gegenleistung gewährt worden. Gegen den nun folgenden Bau weiterer großer Wasserkraftwerke am Hochrhein regte sich aber zunehmend Widerstand. Zum einen richtete er sich gegen die Überlassung der "wertvollen vaterländischen Wasserkräfte" an private Investoren. Zum anderen empörte sich die neuentstandene Bewegung des "Heimatschutzes" gegen die Verbauung der schönsten Stellen des Hochrheins. Besonders hoch schlugen die Wellen 1904 um die Errichtung des Kraftwerks Laufenburg, dem die dortigen Stromschnellen zum Opfer fielen.
So vollzog sich, wie Stier feststellt, in den Jahren 1906 bis 1908 "auf allen Ebenen ein deutlicher Wandel, und die Regierung entwickelte sich, zunächst unter dem Druck von Öffentlichkeit und Volksvertretung, zunehmend aber auch aus eigener Einsicht, vom willfährig-ahnungslosen Gehilfen der Großindustrie zum vorbildlichen Hüter des Gemeinwohls". Erster Schritt zum Aufbau einer flächendeckenden "Landeselektrizitätsversorgung" war die Errichtung des Murgwerks im Schwarzwald, das 1919 vollendet wurde. Im Juli 1921 beschloß der Landtag die Gründung der "Badischen Landeselektrizitätsversorgung AG", die durch den Zusatz "Badenwerk" ihren gemeinnützigen Auftrag unterstrich. Durch systematischen Ausbau des Netzes und der Kraftwerkskapazitäten erreichte der staatliche Stromversorger bis 1937 die Elektrifizierung aller Landesteile. 1926 wurde der Bau einer Sammelschiene abgeschlossen, welche die Wasserkraftwerke am Hochrhein und im Schwarzwald mit den Kohlekraftwerken im Norden des Landes verband. Zugleich erfolgte bei Mannheim der Anschluß an die "Verbundleitung", die das RWE von den rheinischen Braunkohlekraftwerken zu den Wasserkräften der Alpen vorantrieb.
Das Badenwerk dominierte nicht nur von Anfang an auf der Verbundebene, sondern entwickelte sich zum beherrschenden Unternehmen der Regional- und Kommunalversorgung: Als Baden nach dem zweiten Weltkrieg im neugegründeten Südweststaat aufging, versorgte das Staatsunternehmen 65 Prozent der Fläche des ehemaligen Landes mit 744 Gemeinden, die in der großen Mehrzahl B-Verträge hatten, also direkt vom Badenwerk beliefert wurden.
Die Entwicklung in Baden, wie Stier sie auf 80 Seiten detailliert untersucht, ist seiner Meinung nach auch typisch für andere Territorien mit früh und kräftig entwickelter staatlicher Elektrizitätspolitik, vor allem für Bayern (einschließlich der damals zu Bayern gehörenden Rheinpfalz) und für Sachsen, die er in seiner Arbeit nicht behandelt. Sie gilt aber keineswegs für das angrenzende Württemberg, das einen vollkommen anderen und in Deutschland einzigartigen Sonderweg der Elektrizitätspolitik ging. In Württemberg gab es bis in die dreißiger Jahre kein dem Badenwerk vergleichbares Verbundunternehmen. Zwar entstand auch hier in den zwanziger Jahren ein Hochspannungsnetz, das die Netze der regionalen Versorger verknüpfte sowie die Verbindungen zur RWE-Verbundleitung oder zum Netz des benachbarten Badenwerks herstellte. Seine Eigner waren jedoch verschiedenen Unternehmen, die den Kommunen, dem Reich, dem RWE, dem Land oder anderen Besitzern gehörten. Im Gegensatz zu Baden betrieb der württembergische Staat zu keinem Zeitpunkt eine nennenswerte eigene Elektrizitätswirtschaft. Und seine Elektrizitätspolitik zielte in erster Linie auf die Sicherung des Rahmens für eine dezentral organisierte, mehrheitlich kommunal verfaßte Stromwirtschaft. Dieser Sonderweg der württembergischen Elektrifizierung spiegelte sich auch in der Gesellschafter-Struktur der "Energie-Versorgung Schwaben" (EVS) wider, die schließlich 1938 auf Betreiben der nationalsozialistischen Machthaber doch noch zustande kam und deren Gesellschafterkreis hauptsächlich aus kommunalen Körperschaften bestand. Noch heute ist der Zweckverband Oberschwäbische Elektrizitätswerke mit 34,5 Prozent größter Anteilseigner der Energie Baden-Württemberg, während der 25-prozentige Landesanteil an der EnBW hauptsächlich ein Erbe des Badenwerks ist.
Die Gründung der EVS wurde von den Beteiligten damals als notwendige "Flurbereinigung" zur Überwindung der "zersplitterten" württembergischen Stromversorgung gesehen. Manche bezeichneten Württemberg sogar als den "Elektrizitäts-Balkan" Deutschlands. Stier zufolge verdient diese Sichtweise insoweit eine Korrektur, als die württembergische Stromversorgung durchaus ein erfolgreiches Modell "dezentraler und abnehmerorientierter, preisgünstiger und demokratisch kontrollierter Stromversorgung" gewesen sei. So habe Württemberg etliche Jahre früher als Baden die Elektrifizierung aller Landesteile erreicht. Daß die gelegentlich erörterten Pläne für ein "Schwabenwerk" bis in die dreißiger Jahre nie über zaghafte Ansätze hinausgekommen seien, habe nicht an der angeblichen Kirchturmperspektive der kommunalen Zweckverbände gelegen. Im Gegenteil: Die Gründe dafür seien das gute und problemlose Funktionieren dieser Zweckverbände gewesen, die vergleichsweise niedrigen Strompreise sowie der Rückhalt, den das Prinzip kommunaler Selbstverantwortung bei der Zentralgewalt in Stuttgart fand.
Die dritte Fallstudie des vorliegenden Buches betrifft Preussen, das flächenmäßig größte und politisch dominierende Land im ehemaligen Deutschen Reich. Wie in Baden überließ es hier der Staat zunächst den Kommunen und privaten Unternehmen, Kraftwerke zu errichten und Netze zu betreiben. So konnte in der Rheinprovinz das RWE seine Bastionen ausbauen, während im Osten die AEG aktiv war. Als der Staat sich dann für den Einstieg in die Elektrizitätswirtschaft entschied, war der Aufbau eines landesweiten Verbundunternehmens nicht mehr möglich. Der Einstieg erfolgte deshalb nicht in den großen Wirtschaftszentren, in der Hauptstadt Berlin, an der Ruhr oder in Schlesien, sondern in der geographischen Mitte des Landes, in einem schmalen Streifen vom Main über die Weser bis zur Grenze mit Bremen. - Bis heute liegt hier der Arbeitsbereich der PreussenElektra AG, die 1927 gegründet wurde, um die diversen Elektrizitätsbeteiligungen des preußischen Staats zusammenzufassen.
Das spannendste Kapitel der preussischen Elektrizitätspolitik dürfte der "Elektrokrieg" mit dem RWE sein. Diese Fehde begann im Grunde schon 1920, als der RWE-Herrscher Hugo Stinnes die Mehrheit an einer Braunkohlengrube bei Helmstedt erwarb, die eigentlich Brennstoff für die preußische Stromversorgung liefern sollte. Ihren Höhepunkt erreichte sie fünf Jahre später, als Preussen mitten im RWE-Gebiet ein Braunkohlen-Unternehmen samt der dazugehörigen Verstromungs-Tochter kaufte. Auch sonst traten sich die Kontrahenten vors Schienbein, wo sie nur konnten. Beispielsweise sicherte sich der preussische Staat die Belieferung der Stadt Frankfurt mit Strom, indem er den Bau einer konkurrierenden RWE-Leitung durch Vorenthaltung der erforderlichen Genehmigungen verzögerte.
Im Frühsommer 1927 kam es indessen zu einer Einigung: Der preußische Fiskus und das RWE tauschten ihre Faustpfänder im jeweils anderen Gebiet aus und grenzten in einem auf fünfzig Jahre befristeten Demarkationsvertrag ihre bestehenden Versorgungs- und Interessengebiete ab. Die kurz darauf gegründete PreussenElektra sicherte im Januar 1928 auch ihre Ostgrenze durch Abschluß eines "Pool- und Demarkationsvertrags" mit dem Nachbarn "Elektrowerke AG". Hinzu kamen ähnliche Abkommen mit den VEW und den Landesversorgern Bayerns, Sachsens, Thüringens und Hamburgs. Im Archiv der PreussenElektra konnte Stier Einsicht nehmen in diese grundlegenden, damals hoch geheimen und bisher noch nie publizierten Demarkationsverträge der Jahre 1927/28, welche die letzten Claims im Wilden Westen der deutschen Stromversorgung absteckten und die Versorgungsgebiete im wesentlichen so festklopften, wie sie bis zur Liberalisierung Bestand hatten.
Die Einigung ermöglichte zugleich den Bau einer West-Ost-Hochspannungsleitung, um die Braunkohlekraftwerke des rheinischen Reviers mit denen in Mitteldeutschland zu verbinden. RWE und Elektrowerke hatten schon zuvor mit dem Bau jeweils eigener Hochspannungsleitungen in Richtung Alpen begonnen, um ihre Braunkohle-Kraftwerke mit der "weißen Kohle" der Wasserkraft zu verbinden. Aus diesen beiden Leitungen und der neuen West-Ost-Schiene entstand das Grundgerüst des heutigen deutschen Verbundnetzes.
Unter Anlehnung an einen damals von der Presse geprägten Begriff werden diese Abkommen auch als "Elektrofrieden" bezeichnet. Genauer gesagt als "erster Elektrofrieden", denn die Auseinandersetzung schwelte weiter: Im Mai 1928 gründeten PreussenElektra, Elektrowerke und Bayernwerk die Berliner "Aktiengesellschaft für deutsche Elektrizitätswirtschaft", die der technischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit unter den Beteiligten dienen sollte. Als Gegengründung entstand unter Führung des RWE im Februar 1929 die Frankfurter "Westdeutsche Elektrizitäts AG", in der sich die westdeutschen Versorger zwischen niederländischer und Schweizer Grenze zusammenschlossen. Damit bahnte sich eine neue Konfrontation an (die in mancher Hinsicht an aktuelle Konstellationen gemahnt). Zum Showdown kam es aber nicht, sondern schon im Mai traten RWE, VEW und Badenwerk der Berliner Gesellschaft bei, womit die Gegengründung hinfällig wurde. Die "Aktiengesellschaft für deutsche Elektrizitätswirtschaft" kann seitdem als Vorläuferin der heutigen Deutschen Verbundgesellschaft gelten. Zur Unterscheidung vom "ersten Elektrofrieden" der Jahre 1927/28 wird die 1929 erfolgte Einigung als zweiter oder "wirklicher deutscher Elektrofrieden" bezeichnet.
Zum Schluß untersucht Stier noch die Elektrizitätspolitik des Reichs. In Übereinstimmung mit anderen historischen Studien (vgl. PB 12/96) bescheinigt er ihr eine fiskalisch geprägte Ausrichtung. Während Preussen und andere Länder bei ihrer Elektrizitätspolitik tatsächlich übergeordnete Gesichtspunkte der Landesentwicklung und der Förderung des Allgemeinwohls verfolgten, sah die Reichsregierung in der jungen, zukunftsträchtigen Branche vor allem eine ergiebige Geldquelle. Die Federführung der Elektrizitätspolitik oblag deshalb zunächst auch dem Reichsschatzministerium. Schon 1908 versuchte dieses Ministerium, eine allgemeine Stromsteuer durchzusetzen, mußte sich aber mit einer vergleichsweise kümmerlichen "Leuchtmittelsteuer" auf Glühbirnen und Gas-Glühstrümpfe begnügen (diese Leuchtmittelsteuer erwies sich als äußerst zählebig und wurde erst vor ein paar Jahren abgeschafft, während die Stromsteuer-Pläne des kaiserlichen Schatzministeriums erst von der jetzigen Bundesregierung verwirklicht wurden). Rein fiskalischen Überlegungen entsprang auch der anschließende Vorstoß für ein "Starkstrom-Monopol", das die Stromwirtschaft der Regie des Reiches unterstellen sollte. Allerdings verbrämte die Reichsregierung ihr eigentliches Interesse an der Stromwirtschaft schon damals, indem sie in die Pläne für ein "Reichselektrizität-Monopol" auch großtechnisch und gemeinwirtschaftlich geprägte Visionen miteinfließen ließ, wie sie dem AEG-Präsidenten Walther Rathenau und dessen Ingenieur Georg Klingenberg vorschwebten. Erfolg hatte sie damit freilich nicht. Vor allem Preussen opponierte erfolgreich gegen die geplante Entmündigung von Ländern und Kommunen.
Der erste Weltkrieg veränderte dann, wie vieles andere, auch die Haltung gegenüber einer Einmischung des Reichs in die Elektrizitätswirtschaft. Walther Rathenau leitete nunmehr die allmächtige Kriegsrohstoff-Abteilung, deren Personalliste sich auch sonst wie ein Adreßbuch der AEG-Führungskräfte las. Der Schlüsselbegriff der "Gemeinwirtschaft", den Rathenau erstmals in einer 1913 verfaßten Denkschrift über das Reichs-Elektrizitätsmonopol verwendet hatte, wurde durch Not und Mangel der Kriegsjahre zur vertrauten Praxis. Die staatliche Lenkung der Wirtschaft war notwendig geworden, um den wirtschaftlich-militärischen Zusammenbruch zu verhindern und die nackte Existenz der Bevölkerung zu sichern. Nach dem Sturz der Monarchie war deshalb in allen Lagern die Ansicht verbreitet, daß es die Möglichkeit geben müsse, wichtige Wirtschaftszweige der Regie des Staates zu unterstellen. In diesem Sinne verabschiedete die Weimarer Nationalversammlung im März 1919 ein Rahmengesetz zur Sozialisierung der Wirtschaft. Ergänzend legten das Reichswirtschaftsministerium und das Reichsschatzministerium jeweils eigene Gesetzentwürfe zur Sozialisierung der Elektrizitätswirtschaft vor. Im Dezember 1919 billigte die Nationalversammlung den Entwurf des Reichsschatzministers Mayer (Zentrum), der die Besitzstände von Ländern und Kommunen respektierte und sich damit wesentlich diplomatischer verhielt als Reichswirtschaftsminister Wissell (SPD), der mit seinen gemeinwirtschaftlich geprägten Vorstellungen im Kabinett scheiterte und deshalb im Juli 1919 zurücktrat (wer will, kann auch darin Parallelen zu einem aktuellen Vorgang der Bundespolitik erblicken).
Im übrigen blieben aber beide Gesetze Papier. Dafür sorgte schon der politische Umschwung, der Mitte 1920 den wirtschaftsnahen Hans von Raumer (DVP) zum Chef des Schatzministerium machte. Soweit das Gesetz zur Sozialisierung der Elektrizitätswirtschaft tatsächlich Auswirkungen zeitigte, stärkte es vor allem die Position der Länder. Denn Baden, Bayern und Sachsen beeilten sich nun, durch die Gründung eigener Landesgesellschaften zur Stromversorgung vollendete Tatsachen zu schaffen, an denen eine wie immer geartete Reichsregierung nicht vorbei konnte.
Die Pläne für eine vom Reich dirigierte Stromwirtschaft scheiterten so schon Anfang der zwanziger Jahre. Andererseits war das Reich doch recht erfolgreich in der Großstromerzeugung tätig. Die Chance dafür eröffnete sich ihm am Ende des ersten Weltkriegs, als die AEG einen Käufer für ihre Elektrowerke AG (EWAG) suchte. Anlaß war die kriegsbedingte Verteuerung eines neuen Großkraftwerks bei Zschornewitz, die wegen der mit Großabnehmern fest vereinbarten Strombezugspreise zum finanziellen Desaster führen mußte. Die Rüstungsindustrie war aber dringend auf den mitteldeutschen Großstromerzeuger angewiesen. Deshalb übernahm das Reich im Sommer 1917 die EWAG für knapp fünfzig Millionen Mark von der AEG. In den folgenden Jahren entwickelten sich die reichseigenen Elektrowerke AG in Mitteldeutschland zu einem ähnlichen Schwerpunkt der Stromerzeugung wie das RWE im rheinischen Braunkohle-Revier. Im Frühjahr 1923 wurde die EWAG mit anderen Reichsbeteiligungen in die neu gegründete Vereinigte Industrie-Unternehmungen AG (Viag) eingebracht. Heute lebt ihr faktisches Erbe in der ostdeutschen Verbundgesellschaft Veag fort und bildet deren historischen Kern.
Der totalitäre Staat, der 1933 begann, stärkte die Stellung des Reichs gegenüber Ländern und Kommunen. Das nationalsozialistische Regime entwarf jedoch kein neues oder gar eigenständiges Modell der Elektrizitätspolitik. Anfängliche Vorbehalte der Machthaber gegenüber der aus der "Systemzeit" stammenden Struktur der Elektrizitätswirtschaft oder der vermeintlich höheren militärischen Verwundbarkeit des Verbundsystems gegenüber einer dezentralen Stromversorgung wichen bald der Einsicht, daß es allenfalls darum gehen konnte, die etablierten Strukturen noch effizienter zu gestalten. Diesem Ziel diente das 1935 erlassene Energiewirtschaftsgesetz. In seinen wesentlichen Teilen trug es die Handschrift des Reichswirtschaftsministers und Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht, der den Machthabern als Wirtschafts- und Finanzexperte diente, bevor er sich zum Gegner des Regimes wandelte und das Kriegsende im KZ erlebte. Das Energiewirtschaftsgesetz blieb bis 1998 in Kraft und war zuletzt heftig umstritten: Die einen verklärten es zum Garanten einer sicheren Stromversorgung, die anderen sahen darin ein Relikt nationalsozialistischen Ungeistes. Für Stier gehen beide Sichtweisen an den geschichtlichen Tatsachen vorbei: Das Energiewirtschaftsgesetz ist für ihn "keine revolutionäre Neuschöpfung des 'Dritten Reichs', sondern Ergebnis eines drei Jahrzehnte währenden Diskussionsprozesses und letztlich ein Beleg für die Kontinuität ordnungspolitischer Leitvorstellungen in der Elektrizitätsfrage, und zwar über alle System- und Epochengrenzen hinweg". Wesentlich wichtiger für die Weichenstellung in der deutschen Stromwirtschaft sei der schon erwähnte "Elektrofrieden" am Ende der zwanziger Jahre gewesen.
Soweit ein paar Streiflichter aus diesem bemerkenswerten Buch. Wegen seiner recht akademischen Anlage und Schreibweise wird man es kaum jemandem empfehlen können, der im Schnelldurchgang etwas über die Geschichte der deutschen Stromversorgung erfahren möchte. Wer mit den Grundzügen dieser Entwicklung bereits vertraut ist, wird hier aber viele Informationen finden, die manches in neuem Licht erscheinen lassen. Zum Beispiel wird er das Klischee von der "Zersplitterung" der württembergischen Stromlandschaft und einer deshalb notwendigen "Flurbereinigung" durch Gründung der EVS überprüfen und sich fragen, wieweit in diesen negativen Konnotationen nicht Sprachregelungen der NS-Ära nachwirken, die ein durchaus gut funktionierendes System in Mißkredit bringen sollten. Zugleich wird sich ihm allerdings auch die Frage aufdrängen, ob dieser schwäbische Strom-Föderalismus tatsächlich noch eine Zukunft hatte oder sogar ein Modell für heute bilden könnte, wie es bei Stier anklingt.
"Lassen sich aus der Geschichte Schlußfolgerungen für die heutige Elektrizitätspolitik ziehen?", fragt Stier zum Schluß seines Buches. - Einen möglichen Erkenntnisgewinn sieht er zumindest darin, daß die gegenwärtigen Strukturen nicht auf vermeintlichen Naturgesetzen oder unentrinnbaren technisch-ökonomischen Zwängen beruhen, sondern in konkreten Interessenkonflikten und Entscheidungsprozessen entstanden sind. Dies könne wiederum dazu beitragen, "die Gestaltbarkeit dieses Sektors auch in Zukunft einzufordern, Alternativen aufzuzeigen und neue Anforderungen an eine künftige Energiepolitik zu formulieren".
(PB 10/99/*leu)