PresseBLICK-Rezensionen | Geschichte (Strom u. a.) |
Mecklenburg und Pommern gehörten früher zu jenem Teil des Kaiserreichs, den man als Ostelbien bezeichnete. Im Sprachgebrauch der Liberalen bedeutete "Ostelbien" soviel wie wirtschaftliche Rückständigkeit und junkerlich-reaktionäre Standespolitik. Tatsächlich dauerte hier die Leibeigenschaft der Bauern bis ins 19. Jahrhundert, und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschten hier die Junker nach Gutsherrenart über Gesinde, Landarbeiter und Kleinbauern. Es hieß deshalb, daß in Ostelbien alles Neue erst mit hundert Jahren Verzögerung eintreffe.
Aber auch um diesen Winkel Deutschlands machte die Elektrifizierung keinen Bogen. Wie das vorliegende Buch zeigt, verlief die Gründung von Stadtwerken und Überlandzentralen wie auch deren allmähliches Zusammenwachsen zur flächendeckenden Regionalversorgung zur selben Zeit und ganz ähnlich wie in anderen Teilen Deutschlands. Vor dem zweiten Weltkrieg bildete Mecklenburg mit Brandenburg, Pommern und der Grenzmark Posen-Westpreußen das größte geschlossene Versorgungsgebiet des Deutschen Reiches, und das hier tätige "Märkische Electricitätswerk" galt als Muster einer Großraumversorgung.
Die Grenzen des heutigen Bundeslands wurden nach 1945 von den sowjetischen Besatzern abgesteckt, die Mecklenburg mit dem westlich der Oder verbliebenen Rest Pommerns zum Land Mecklenburg-Vorpommern zusammenfaßten. Ab 1947 lautete die Landesbezeichnung nur noch Mecklenburg, weil die Erwähnung Pommerns aus politischen Gründen verpönt war. Auch in der 1949 gegründeten DDR gab es anfangs noch das Land Mecklenburg. Erst 1952 teilten die Machthaber die ganze DDR in 14 Bezirke plus Ostberlin auf. Dabei zergliederten sie das Land Mecklenburg in die Bezirke Neubrandenburg, Rostock und Schwerin. Erst nach dem Ende der DDR wurden die drei Bezirke 1990 wieder zum Land Mecklenburg-Vorpommern zusammengefügt.
Das vorliegende Buch beschreibt die Entwicklung der Energieversorgung im Rahmen des heutigen Mecklenburg-Vorpommern bis zum Jahr 1990. Die Darstellung endet also genau in dem Jahr, in dem die drei DDR-Bezirke aufgelöst wurden und das heutige Bundesland überhaupt erst entstand. Da die einzelnen Teile Mecklenburg-Vorpommerns früher politisch wie energiewirtschaftlich mit anderen Gebieten zusammenhingen, werden Gebiete mitbehandelt, die heute zu Polen gehören. Auch innerhalb Deutschlands überschreitet die Darstellung oft die Grenzen des heutigen Bundeslandes, weil sich nur so die Verflechtungen mit der Stromversorgung Brandenburgs oder den wechselnden Organisationsstrukturen der DDR-Energiewirtschaft aufzeigen lassen.
Die ersten fünfzig Seiten beleuchten die Entwicklung bis zum ersten Weltkrieg. Weitere 90 Seiten schildern die Zeit bis 1945. Die letzten hundert Seiten schließlich beschreiben die Stromversorgung bis zum Ende der DDR. Vor allem dieser Teil des Buches vermittelt neue Einblicke, da es erst seit 1990 möglich ist, die Geschichte der DDR-Energieversorgung einigermaßen gründlich und unbefangen zu studieren. Sehr interessant sind auch die Ausführungen zur Kernenergie in der ehemaligen DDR, die zwar mit der regionalen Stromversorgung nur indirekt zu tun hatte, aber mit dem Kernkraftwerk Lubmin bei Greifswald ihren Schwerpunkt in diesem Gebiet besaß und deshalb mitbehandelt wird.
Die Energieversorgung der Ostzone unterstand nach 1945 zunächst der sowjetischen Militäradministration. Ungeachtet der schweren Schäden, welche die Anlagen bereits durch den Krieg erlitten hatten, demontierten die Besatzer zahlreiche Kraftwerksblöcke, Transformatoren und Leitungen, um sie nach Rußland zu schaffen. Regelmäßige Flächenabschaltungen, Frequenzeinbrüche und Netzzusammenbrüche waren deshalb bis in die späten vierziger Jahre an der Tagesordnung.
Noch mehr krankte die Energieversorgung am System der Planwirtschaft, das die Sowjets schon Mitte 1948 einzuführen begannen, sowie an der Zerschlagung gewachsener Strukturen. Bis dahin waren Brandenburg und Mecklenburg durch die Märkische Elektricitätswerk AG (MEW) versorgt worden. Auf Anordnung der Sowjets wurde im April 1948 die Stromversorgung der Sowjetzone in fünf Energiebezirke aufgeteilt. Die Länder Mecklenburg und Brandenburg bildeten dabei den "Energiebezirk Nord", der fast die Hälfte des Besatzungsgebiets umfaßte. 1950 verfügte dann die DDR-Führung eine Verkleinerung: Fortan bildete nur noch Mecklenburg den Energiebezirk Nord, während Brandenburg zum ebenfalls neu strukturierten Energiebezirk Mitte kam.
Schon 1952 kam es zu einer weiteren Reorganisation, welche die bisherigen Direktionen der Energiebezirke, die jeweils für Kraftwerke, Verbundnetz und Stromverteilung zuständig waren, in Volkseigene Betriebe (VEB) umwandelte. Die Energiebezirke selber firmierten nun als Verwaltung Volkseigener Betriebe (VVB).
1958 wurde die Energieversorgung endgültig der administrativen Einteilung der DDR in 14 Bezirke plus Ost-Berlin angepaßt: Im Norden gab es nunmehr drei VEB Energieversorgungen mit Sitz in Neubrandenburg, Rostock und Schwerin. Sie hatten jeweils zwei Direktionsbereiche für Strom und Gas und waren für die gesamte Energieversorgung im Bezirk zuständig. In den größeren Städten siedelte man innerhalb des Direktionsbereichs Elektroenergie noch sogenannte Netzbetriebe an, die sozusagen die Aufgabe von Stadtwerken erfüllten.
Den VEB Energieversorgungen unterstanden das Netz bis zur 110 kV-Ebene und auch die kleineren Kraftwerke in ihrem Gebiet. Den Großteil des Stroms bezogen sie jedoch wie die westdeutschen Regionalversorger aus dem Verbundnetz, das von den großen Braunkohlekraftwerken im mitteldeutschen Revier gespeist wurde. Der Betrieb des Verbundnetzes oblag drei VEB Verbundnetz (Ost, Mitte und West), die 1958 zur Vereinigung Volkseigener Betriebe Verbundwirtschaft zusammengeschlossen wurden.
Ende der sechziger Jahre verfügte die DDR-Führung eine weitere Reorganisation, die praktisch zu einer Wiedergeburt der alten Energiebezirke führte: Als erstes wurden 1969 im Norden die drei VEB Energieversorgungen Neubrandenburg, Rostock und Schwerin zum VEB Energiekombinat Nord zusammengefaßt. Entsprechend wurden ein Jahr später die Energiekombinate Mitte (Potsdam), West (Halle), Ost (Dresden) und Süd (Erfurt) gebildet. Den Energiekombinaten oblag die Versorgung mit Elektrizität, Gas und Fernwärme. Gleichzeitig wurde der VEB Verbundnetz in zwei getrennte Unternehmen für Elektroenergie und Gas aufgeteilt.
Das letzte größere Revirement in der DDR-Energiewirtschaft fand 1979 statt: Es zerlegte die fünf überbezirklichen Energiekombinate in kleinere Energiekombinate, die jeweils nur noch für einen Bezirk zuständig waren. In Mecklenburg-Vorpommern entstanden so die Energiekombinate Neubrandenburg, Rostock und Schwerin.
Das Verschiebespiel mit VEB, VVB und Kombinaten unterschiedlicher Größe und Struktur war Ausdruck der enormen Schwierigkeiten, mit denen die Energiewirtschaft der DDR unablässig zu kämpfen hatte. Das Herumexperimentieren bezweckte unter anderem eine sogenannte wirtschaftliche Rechnungsführung, mit der das Rentabilitätsdenken eines normalen Unternehmens gewissermaßen simuliert werden sollte. Da aber an der zentralen Wirtschaftsplanung und
-lenkung festgehalten wurde, mußten alle Bemühungen um größere Effizienz auf die Quadratur des Kreises hinauslaufen oder konnten höchstens kurzfristig Erfolge zeitigen.
In krasser Überschätzung der eigenen Möglichkeiten proklamierte die DDR-Führung zunächst sogar das Ziel, die Bundesrepublik im Verbrauch der wichtigsten Güter bis 1961 zu überholen. Schon 1958 verkündete sie stolz, daß "die Deutsche Demokratische Republik ... im Pro-Kopf-Verbrauch an elektrischer Energie eine Reihe kapitalistischer Staaten, darunter auch Westdeutschland, bereits überflügelt" habe. - Der hohe Energieverbrauch kam aber nicht von einem höheren Lebensstandard der DDR-Bevölkerung, sondern wurde durch den Stromhunger der Industrie bestimmt, die mit der Energie alles andere als sparsam umging.
Wie es tatsächlich mit der DDR-Wirtschaft aussah, bezeugte die anhaltende Massenflucht in den Westen, die 1961 zur Errichtung der Mauer in Berlin und zur perfekten Abriegelung der Grenze nach Westdeutschland führte. Die unbeglichenen Strom- und Gasrechnungen der "Republikflüchtigen" waren seinerzeit ein wichtiger Punkt des Berichtswesens.
Kraftwerke und Netz befanden sich in desolatem Zustand. Kurz vor dem Mauerbau war die Versorgungslage im Norden derart angespannt, daß die zentrale Lastverteilung in Berlin sogar die technisch veralteten Spitzenkraftwerke in den Bezirken Brandenburg und Schwerin zur Grundlast-Deckung einsetzte. Die Überalterung der Mittel- und Niederspannungsnetze sowie anderer Anlagen nahm unaufhörlich zu. Bis 1966 gab es im Bezirk Schwerin sogar noch Freileitungen aus Eisendraht, die während des Krieges installiert worden waren, um Kupfer für die Rüstung zu gewinnen. In Rostock wurden erst Anfang der siebziger Jahre die letzten Abnehmer von Gleich- auf Wechselstrom umgestellt. Zwischendurch fror im Winter die Braunkohle ein, so daß die Kraftwerke nicht genügend Brennstoff hatten. Und auch im Sommer ließen Spannungs- und Frequenzhaltung im Netz sehr zu wünschen übrig. Mitunter sackte die Frequenz bis auf 49 Hertz ab.
Um die fast totale Abhängigkeit der Energiewirtschaft von der Braunkohle zu mildern, ließ die DDR-Führung in den sechziger Jahren überall nach Öl und Gas suchen. Allerdings vergeblich. Immerhin entdeckte man dabei in Mecklenburg heißes Wasser. Nach der Ölkrise besann man sich auf diese Entdeckung und gründete 1984 den VEB Geothermie Neubrandenburg, um Waren und andere Städte mit Heizwasser zu versorgen.
Um so größere Hoffnungen setzten die DDR-Oberen auf die Kernenergie. Man ging davon aus, daß sie um zwanzig Prozent billiger käme als der Strom aus Braunkohle, und daß sie sich auch zur Auskoppelung von Fernwärme und für reine Heizkraftwerke verwenden lassen würde. 1962 wurde mit dem Bau des Kernkraftwerks Rheinsberg begonnen, das 1966 in Betrieb ging. Mit seiner bescheidenen Leistung von 70 MW diente es bis 1990 vor allem als Pilotprojekt und Ausbildungsstätte. Als Zentrum der Kernenergie war Lubmin bei Greifswald ausersehen: Bis 1983 sollten hier acht Blöcke mit sowjetischen WWER-Reaktoren und einer Leistung von jeweils 440 MW entstehen. Die Gesamtleistung von Lubmin hätte damit die der größten westdeutschen Anlagen übertroffen.
Sieben Jahre nach Baubeginn wurde 1974 mit einem Staatsakt der erste Block in Lubmin in Betrieb genommen. Der weitere Ausbau ging bis 1979 zügig voran, kam dann aber wegen zahlreicher wirtschaftlicher und technischer Probleme ins Stocken, zumal dann auch noch 1986 die Katastrophe von Tschernobyl die grundsätzlichen Sicherheitsmängel der sowjetischen Reaktoren offenbarte. Erst 1989 konnte der fünfte Block probeweise in Betrieb genommen werden. Die Blöcke sechs bis acht wurden zwar in Angriff genommen, aber bis zum Ende der DDR nicht mehr fertiggestellt. Auch ein weiteres Kernkraftwerk bei Stendal, das schon Ende der achtziger Jahre fertig sein sollte, blieb unvollendet.
Die Kernenergie der DDR war seit 1979 im VE Kombinat Kernkraftwerke "Bruno Leuschner" organisiert, das direkt dem Ministerium für Kohle und Energie unterstand. Nach der Wende 1990 gingen daraus die Energie Werke Nord GmbH (EWN) hervor, deren einzige Aufgabe darin besteht, die abgeschalteten Blöcke zu sichern und für deren Beseitigung zu sorgen.
An die Stelle der früheren Energiekombinate Neubrandenburg, Rostock und Schwerin traten nach der Wende die Energieversorgung Müritz-Oderhaff AG (EMO), die Hanseatische Energieversorgung AG (HEVAG) und die Westmecklenburgische Energieversorgung AG (WEMAG). Die Versorgungsbereiche im heutigen Mecklenburg-Vorpommern decken sich also mit den Grenzen der ehemaligen DDR-Bezirke.
Die HEVAG, die den nördlichsten Teil Mecklenburg-Vorpommerns entlang der Ostsee-Küste bzw. den ehemaligen Bezirk Rostock versorgt, ist der Initiator und Herausgeber des vorliegenden Buches. Sie hat damit in vorbildlicher Weise die erste zusammenhängende Darstellung dieses Wirtschaftszweigs in Mecklenburg-Vorpommern ermöglicht. Zugleich handelt es sich um die erste Studie zur Geschichte der Regionalversorgung in den neuen Ländern, die nach 1990 erschienen ist.
Der Verfasser Ingo Sens ist Wissenschafts- und Technikhistoriker. Er hat an der Humboldt-Universität studiert und an der Universität Rostock promoviert. Neben Technikgeschichte gilt sein besonderes Interesse der Philosophiegeschichte. Seine faktenreiche Darstellung beschränkt sich nicht auf die Technikgeschichte im engeren Sinne, sondern behandelt sie im Kontext der dazugehörigen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Der Verlag bezeichnet das Buch zu Recht als "Fundgrube für technikgeschichtlich interessierte Leser". Besonders nützlich dürfte das Buch solchen Lesern sein, welche die Vorgeschichte der Energiewirtschaft in den neuen Bundesländern ab 1945 besser verstehen möchten.
(PB 7/97/*leu)