PresseBLICK-Rezensionen Geschichte (Strom u. a.)



Kurt Jäger (Hg.)

Lexikon der Elektrotechniker

477 S., DM 84.-, 1996 VDE-Verlag


Die großen Namen der Elektrotechnik - Thomas Alva Edison, Werner von Siemens oder Oskar von Miller - findet man in jedem Konversationslexikon. Oft wird man jedoch im Stich gelassen, wenn es um nicht so bekannte Namen oder um Einzelheiten des Lebenswerks geht. Hier leistet dieses neue Lexikon aus dem VDE-Verlag gute Dienste.

Alle kennen die Yagi-Antenne, aber kaum jemand ihren Erfinder

Als Beispiel kann der Japaner Hidetsuga Yagi dienen, der die "Yagi-Antenne" erfunden hat - jenes Gebilde aus Metallstäben, das noch immer in Millionen Exemplaren auf Dächern und Balkonen als ganz normale "Fernsehantenne" zu sehen ist. Dennoch wird man seinen Namen im Großen Brockhaus vergebens suchen. Und auch Funktechniker wissen in der Regel nicht, woher die Yagi-Antenne ihren Namen hat.

Anders im vorliegenden Lexikon: Es widmet dem unbekannten Japaner verdientermaßen eine ganze Seite. Beispielsweise erfährt man, daß Yagi beim Funk-Experten Prof. Barkhausen in Dresden studiert hat (dem an anderer Stelle ebenfalls eine Seite gewidmet ist). Es wird auch kurz der Aufbau der Antenne beschrieben, mit der Yagi 1925 die Empfangsleistung von UKW-Dipolen entscheidend verbesserte: Vor dem Dipol, der genau einer halben Wellenlänge entspricht, befinden sich mehrere "Direktoren", die etwas kürzer als eine halbe Wellenlänge sind. Hinter dem Dipol wird zusätzlich ein "Reflektor" angebracht, der etwas länger als eine halbe Wellenlänge ist. Infolge dieser Kombination des Dipols mit etlichen Metallstäben als "parasitären Elementen" erzielt die Yagi-Antenne in dem jeweiligen Frequenzbereich, auf den sie abgestimmt ist, hohe Empfangsleistungen in Verbindung mit einer ausgeprägten Richtwirkung.

Der Mann, der den "Volksempfänger" konstruierte

Noch unbekannter als Yagi dürfte der Ingenieur Otto Griessing sein, der 1933 den "Volksempfänger" konstruiert hat. - Zu Recht, wird wohl mancher einwenden, der bei diesem Gerät weniger an einen Klassiker der Rundfunktechnik als an die berüchtigte "Goebbels-Schnauze" denkt. In der Tat hat Griessing das Gerät auf Geheiß des Reichspropagandaministers Goebbels entwickelt, der das neue Medium des Funks optimal für die Nazi-Propaganda einsetzen wollte. Ungeachtet dieser politischen Hypothek ist der Volksempfänger aber aus der Technikgeschichte so wenig wegzudenken wie der Volkswagen, den die Nazis genauso für demagogische und militärische Zwecke mißbraucht haben.

Alte Rundfunkbastler erinnern sich mit Wehmut der schlichten Technik des Volksempfängers: Sein Lautsprecher - ein hochohmiger "Freischwinger" - konnte zur Not sogar mit der Antennenspannung allein betrieben werden, wenn man anstelle des Radios ein Detektorgerät anschloß und sich mit leiser Musik zufrieden gab. In jeder Hinsicht "pfiffig" war die Audionschaltung mit Rückkopplung: Durch vorsichtiges Drehen eines Knopfes konnte man die Empfangsqualität erhöhen - sobald man aber zu weit drehte, verwandelte die Rückkopplung das Radio in einen kleinen Störsender, der mit Gejaule und Pfeifen der ganzen Nachbarschaft den Rundfunkempfang vergällte ...

Griessing hat es als Techniker jedenfalls verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden. Wie sich dem vorliegenden Lexikon entnehmen läßt, konsultierte er zunächst sämtliche Radiohersteller in Deutschland - damals waren es noch fast an die hundert - , weil das Gerät von der ganzen Branche gebaut werden sollte. Bereits nach wenigen Wochen hatte er die Grundkonzeption für einen Drei-Röhren-Empfänger aus standardisierten Bauteilen fertig, der sowohl mit Gleich- und Wechselstrom als auch mit Batterie betrieben werden konnte. Die gute Qualität seines Geräts wurde ihm von Prof. Leithäuser bestätigt (wenn der Leser unter diesem Namen nachschlägt, erfährt er, daß Leithäuser ein führender Funkexperte war, der die Audionschaltung mit kapazitiv regelbarer Rückkopplung entwickelt hat). Das fertige Gerät wurde noch im selben Jahr als "VE 301" auf der 10. Funkausstellung in Berlin vorgestellt: VE war die Abkürzung für Volksempfänger, während die Zahl 301 an den 30. Januar von Hitlers Machtergreifung erinnern sollte. Mit 76 Reichsmark war der Volksempfänger nur halb so teuer wie vergleichbare Radios. Er wurde in mehreren Varianten in millionenfacher Stückzahl hergestellt.

Beim Durchblättern fallen zwei weitere Pioniere der Funktechnik auf, die man heute kaum noch in einem anderen Nachschlagewerk finden würde: Der eine ist der Italiener Augusto Righi (1850 - 1920), der seinem Schüler Marconi - der natürlich in jedem Lexikon steht - die Grundlagen für das Gelingen der ersten drahtlosen Übertragung vermittelt hat. Der andere ist der Franzose Edouard Eugène Branly (1844 - 1940), dessen "Kohärer" in die ältere Steinzeit der Funktechnik gehört, aber bis zur Erfindung der Röhre die einzige Möglichkeit bot, um elektromagnetische Impulse zu verstärken.

Wissenswertes über Pioniere der Stromversorgung

Leser aus dem EVU-Bereich werden natürlich vor allem an solchen Namen interessiert sein, die mit Stromerzeugung und -versorgung zu tun haben. Auch sie finden hier viele Informationen, die allgemeine Nachschlagewerke nicht bieten können. Beispielsweise zu Georg Klingenberg (1870 - 1925), der einer der Pioniere des Kraftwerkbaues war. Klingenberg wird immerhin auch im Großen Brockhaus mit einigen Zeilen gewürdigt. Dagegen würde man dort vergebens die Namen von Arthur Koepchen (1878 - 1954) oder Karl Friedrich Marguerre (1878 - 1964) suchen, die ähnliche Pionierarbeit leisteten: Koepchen gilt als "Vater der Verbundwirtschaft". Er errichtete unter anderem am Hengstey-See das erste Pumpspeicherwerk, das deshalb seinen Namen trägt. Marguerres besonderes Verdienst war die Entwicklung der Hochdruckdampftechnik, mit der sich der Wirkungsgrad von Dampfkraftwerken wesentlich steigern ließ. Bekannt wurde er in Fachkreisen ferner durch die "Voith-Marguerre-Kupplung", mit der trotz unterschiedlicher Frequenzen die Kopplung von Netz- und Bahnstromerzeugung im selben Block ermöglicht wurde.

Der Erfinder des "Darrieus-Rotors" befaßte sich auch mit Problemen des Verbundnetzes

Ein anderer Elektrotechniker, der in normalen Lexika nicht vorkommt, ist der Franzose Georges Darrieus (1888 - 1979). Ähnlich wie beim Japaner Yagi ist sein Name nur in Verbindung mit einer Erfindung geläufig: dem "Darrieus-Rotor". Dabei handelt es sich um eine Windkraftanlage mit vertikaler Achse, deren zwiebelförmiger Rotor unabhängig von wechselnden Windrichtungen arbeitet und keiner Nachführung bedarf. Darrieus hat sie bereits 1929 entwickelt. So richtig bekannt wurde sie aber erst in unseren Tagen, in denen die Windkraft eine Renaissance erlebt. Darrieus befaßte sich aber keineswegs nur mit Windkraft. Er war ein hervorragender Wissenschaftler und universeller Ingenieur, der sich in Thermo- und Aerodynamik, Theoretischer Physik und Elektrotechnik gleichermaßen auskannte. Beispielsweise hat er 1937 im "Théorème de Darrieus" die Bedingungen formuliert, die eine optimale Übergabeleistungs-Frequenz-Regelung in Verbundnetzen gewährleisten.

Den Begriff "Elektrotechniker" bewußt weit gefaßt

Wer als Elektrotechniker den eigenen Namen in diesem Lexikon vermissen sollte, braucht sich deshalb nicht zu grämen: Grundsätzlich wurden nur Personen aufgenommen, die verstorben sind. Im übrigen wird der Begriff "Elektrotechniker" aber großzügig ausgelegt: Er umfaßt solche Personen, die im weitesten Sinne zur Entwicklung der Elektrotechnik, einschließlich der Nachrichtentechnik, beigetragen haben. Dazu gehören auch Physiker, Chemiker, Industrielle usw., wenn ein wesentlicher Teil ihres Wirkens der Elektrotechnik galt. Deshalb findet man in diesem Lexikon nicht nur elektrotechnische Unternehmer wie Wilhelm Lahmeyer (1859 - 1907) oder Hugo Stotz (1869 - 1935), die durch eigene Erfindungen die Branche vorangebracht haben, sondern auch einen Emil Rathenau (1838 - 1915), der einst zur Verwertung der Edison-Patente die AEG gründete, oder dessen Sohn Walther Rathenau (1867 - 1922), der vor allem als Organisator der Kriegswirtschaft, Politiker und Schriftsteller hervorgetreten ist.

Die 653 Kurzbiographien werden durch 185 Porträts ergänzt. Der Herausgeber Kurt Jäger konnte sich bei der Zusammenstellung des Lexikons auf die Mitarbeit von 64 weiteren Autoren aus dem In- und Ausland stützen. Die Kürzel der Autoren sind jeweils hinter den Biographien vermerkt. In seinem Vorwort verweist Jäger darauf, daß selbst ein solches Spezial-Lexikon nicht sämtliche Personen auflisten kann, die in irgendeiner Weise Anteil an der Entwicklung der Elektrotechnik hatten. Beispielsweise sei es unter den frühen Naturwissenschaftlern des 18. Jahrhunderts geradezu Mode gewesen, Untersuchungen zu Elektrizität oder Magnetismus anzustellen. - Unmöglich, jeden zu würdigen, der sich irgendwann einmal mit diesen faszinierenden Phänomenen auseinandergesetzt hat. Ebensowenig sei es möglich gewesen, sämtliche Inhaber von Lehrstühlen für Elektrotechnik an den Hochschulen zu berücksichtigen.

Eine derartige Vollständigkeit wäre wohl auch nicht sinnvoll. Schließlich bedeutet das bloße Innehaben eines Lehrstuhls noch nicht, daß der Inhaber auch Großes geleistet hat. Und bei den frühen Vertretern der Naturwissenschaft reicht es vollkommen aus, die wichtigsten jener Namen zu nennen, die sonstige Nachschlagewerke vermissen lassen. Dazu gehört etwa Martinus van Marum (1750 - 1837), der 1784 eine riesige Elektrisiermaschine baute, um den Geheimnissen der Elektrizität auf die Spur zu kommen. "Die hohen Spannungen verhinderten jedoch eher neue Erkenntnisse", bemerkt Herausgeber Kurt Jäger, der diese und viele andere der Kurzbiographien selbst eruiert hat.

Verbesserungen im Detail wären aber sicherlich noch möglich. So könnte man bei van Marum hinzufügen, daß seine riesige Elektrisiermaschine doch nicht ganz nutzlos war: Er bemerkte nämlich bei dieser Gelegenheit einen stechenden Geruch. Heute wissen wir, daß es sich um Ozon gehandelt hat, und daß van Marum damit die früheste Beobachtung des dreiatomigen Sauerstoffs geliefert hat.

Ergänzungsbedürftig sind in jedem Fall die Angaben zur französischen Gelehrten-Dynastie der Becquerels: Es wird nur Antoine César Becquerel (1788 - 1878) mit ein paar Zeilen gewürdigt, wobei der Sohn Alexandre Edmond Becquerel (1820 - 1878) und der Enkel Antoine Henri Becquerel (1852 - 1908) beiläufig erwähnt werden. Beim Enkel ist diese Beiläufigkeit trotz aller Berühmtheit gerechtfertigt, weil der Entdecker der Radioaktivität nicht als Elektrotechniker gelten kann. Dagegen hätte der Sohn Beachtung als Elektrochemiker und sogar ein eigenes Stichwort verdient: Immerhin erfand er bereits 1839 ein chemisches Element, das bei Einwirkung von Sonnenlicht Strom erzeugte. Auf derselben Grundlage konstruierte er ein "Aktinometer" zur Messung von Lichtstärken. Alexandre Edmond Becquerel kann insofern als Stammvater der Photovoltaik gelten.

Insgesamt aber wirkt die Auswahl der Namen und der biographischen Details sehr gelungen. - Sicher vor allem ein Verdienst des Herausgebers, der lange Zeit in leitender Stellung in der Elektroindustrie tätig war und sich seit 40 Jahren mit der Geschichte der Elektrotechnik befaßt. Auch dem VDE-Verlag ist zu danken, daß er mit diesem Lexikon ein Nachschlagewerk herausgebracht hat, das in seiner Art einzig und nicht zu ersetzen ist.

(PB 9/96/*leu)